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Von Schuld und Tätern

Titelthema - Von Schuld und Tätern
Idia, Nigeria, Königreich Benin (16. Jahrhundert) Diese Ikone der afrikanischen Kunst wurde vom König von Benin zu zeremoniellen Anlässen getragen. Die aus Elfenbein, Eisen und Kupfer gefertigte Maske zeigt Idia, die Iyoba (Königinmutter) © Public Domain

Ethnologische Museen geraten unter Druck, doch die Kolonialgeschichte ist komplexer als das Täter-Opfer-Narrativ.

Brigitta Hauser-Schäublin01.09.2021

Der Tenor der lautstark geführten öffentlichen Diskussion über ethnologische Sammlungen legt den Schluss nahe, dass es sich bei diesen insgesamt um "koloniale Raubkunst" handelt. In dieser Logik bedeutet dies: Raubkunst muss zurückgegeben werden. Der moralische Unterton und die Vehemenz, mit der diese Diskussionen – erschreckenderweise sind es vor allem Monologe – geführt werden, scheint es zu verbieten, die Objektgeschichte und die Erwerbsumstände von Artefakten und Sammlungen differenziert zu erforschen, ohne Schuld als Prämisse zu setzen und ein Schema von kolonialen Tätern und ohnmächtigen Opfern anzuwenden. Stattdessen steht die Suche nach weißer Gewalt und Brutalität und deren Nachweis – angeblich verkörpert in Objekten und Sammlungen ethnologischer Museen – im Vordergrund. Das Ergebnis dieser zielgerichteten, populistisch-aktivistischen Suche ist, wie nicht anders zu erwarten, erschlagend – und eine breite, auch mediale Öffentlichkeit applaudiert. Differenzierte Provenienzforschung sieht anders aus, auch wenn manche ethnologischen Museen, bereits eingeschüchtert von den Anschuldigungen der Rückgabe-Aktivisten, deren Täter- und Opfer-Perspektive für ihre Forschungen übernommen haben.


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Blutrünstige Rituale

Vor allem eine Sammlung – die sogenannten Benin-Bronzen – hat in den vergangenen Monaten die Gemüter erhitzt. Im dominanten Restitutionsdiskurs gelten sie als Musterbeispiel für Raubkunst. Mit den Benin-Bronzen, welche die Briten 1897 nach einem Vergeltungsschlag gegen das damalige Königreich Benin (im heutigen Nigeria) beschlagnahmt hatten, hat sich inzwischen auch die Kulturstaatsministerin Monika Grütters befasst und inzwischen ein Machtwort gesprochen: So sollen "substantielle Rückgaben" zur "Verständigung und zur Versöhnung mit den Nachkommen der Menschen beitragen, die in der Zeit des Kolonialismus ihrer kulturellen Schätze beraubt wurden". In dieser Formulierung drückt sich der dominante Aktivistendiskurs aus, dem sie offensichtlich gefolgt ist. Dieser klammert alles aus, was das Täter-Opfer-Schema infrage stellen könnte. Bei den Benin-Bronzen handelt es sich keineswegs um "kulturelle Schätze" eines Volkes – höchstens wenn man mit "Schätzen" den monetären Wert meint, den diese Bronzen inzwischen auf dem Kunstmarkt erzielen –, sondern um religiös legitimierte Insignien der Macht der Könige des ehemaligen, auf aggressive Eroberung und Expansion hin orientierten Kriegerstaates: Gedenkköpfe von konkreten Vorfahren, Reliefplatten mit heroisch-gewaltvollen Szenen sowie Trophäenköpfe besiegter Rivalen, für deren originalgetreue Wiedergabe die königlichen Bronzegießer gelegentlich der abgeschlagene Kopf eines getöteten Widersachers als Vorlage gebracht wurde. Massaker, so halten selbst nigerianische Historiker fest, waren an der Tagesordnung. Nicht weniger blutrünstig waren die Rituale, in deren Zentrum die Bronze-Gedenkköpfe standen: Ihnen beziehungsweise den in ihnen verkörperten vergöttlichten Vorfahren wurden nicht nur Tiere geopfert, sondern auch Menschen. Die Tötung von Menschen war ein Privileg des Königs. Die Opfer – Menschen aus dem eigenen Volk, Rivalen oder versklavte Kriegsgefangene – wurden meistens geköpft, das Blut in einer Schüssel aufgefangen und dieses über die königlichen Ahnenaltäre gesprenkelt. Von Blutrausch, in den die Teilnehmenden solch menschenverachtender Rituale fielen, sprach selbst ein lokaler Zeitzeuge. So weit zu den "kulturellen Schätzen", die "den Menschen" angeblich geraubt und nun "zurückgegeben" werden sollen.

Eine Plünderung war es nicht

Die Unterwerfung Benins durch die Briten 1897 bildete den letzten Schritt der Kolonisierung des Gebietes, das heute einen von 36 Bundesstaaten Nigerias, dem Nachfolgerstaat der britischen Kolonie, bildet. Der Kontakt Europas mit dem Königreich Benin – vor allem als Drehscheibe des Sklavenhandels, den Benin mit Kriegsgefangenen versorgte – reicht jedoch bis ins 15. Jahrhundert zurück. Handel stand für beide Seiten im Vordergrund, jedoch gab es auch portugiesische Söldner, die im Kriegsdienst Benins standen. Das britische Verbot des Sklavenhandels (1807) setzte der bis dahin florierenden Ökonomie Benins stark zu. Der König versuchte deshalb ein Handelsmonopol zu errichten. Die Briten verlangten jedoch freien Handel. Mit einer vorerst diplomatischen Mission wollten die Briten den König zum Einlenken bewegen. Die unbewaffnete Delegation geriet – nicht zuletzt aufgrund von Gerüchten und Intrigen zwischen lokalen Gruppen – in einen Hinterhalt von Benin-Häuptlingen. Acht Europäer und eine große Anzahl einheimischer Träger wurden niedergemetzelt und verstümmelt: 80 abgeschlagene Köpfe und 130 Gefangene (von denen ein Großteil als königliche Menschenopfer endete) wurden in die Königsstadt verbracht. Daraufhin setzten die Briten kurzfristig eine militärische Strafaktion an, welche die Königsstadt Benin einnahm, das Königsgehöft zerstörte und die mit Hunderten von Leichen und Leichenteilen übersäten, von einem unerträglichen Verwesungsgestank durchtränkten kultischen Räumlichkeiten niederbrannte. Die ganze Stadt brannte erst ab, nachdem ein einheimischer Soldat Feuer gelegt hatte.


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In der postkolonial-konformen Version, übernommen auch von manchen Museen, wird diese militärische Vergeltungsaktion als "sogenannte Strafexpedition" bezeichnet, so als sei diese Bezeichnung falsch.

Aus diesem Kontext stammen die Benin-Bronzen, die damals konfisziert wurden und schließlich vom Kunstmarkt als künstlerische Meisterwerke – und dadurch vom Ballast ihrer Vergangenheit befreit – gehandelt wurden. Eine Plünderung war es nicht. Geplündert haben nach der Absetzung des Königs marodierende Häuptlinge und ehemalige Untergebene des Königs; sie raubten ihm selbst seinen königlichen Schmuck.

Diese erschreckenden Seiten der "kulturellen Schätze" verschweigt auch der politische Diskurs. Dadurch billigt und fördert Deutschland politisch die Umschreibung und Schönfärberei der Geschichte Benins. Was für eine andere Sprachwahl und eine andere politische Sichtweise kommt hier im Umgang mit Geschichte zur Anwendung, wenn man diese etwa mit dem seines Besitzes beraubten (enteigneten) Fürstenhaus Hohenzollern und seinen bis jetzt immer im Sand verlaufenen Rückgabeforderungen im eigenen Land vergleicht!

Die Konsequenzen der politischen Übernahme populistisch-postkolonialer Geschichtsschreibung und -verschweigung sind absehbar.

Ein Zerrbild kolonialer Geschichte

In diesen Zusammenhang gehört auch Götz Alys Buch Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten. Ihm geht es nicht um die differenzierte Annäherung an die Erwerbsumstände dieses eindrücklichen Ausleger- und Segelbootes von der Insel Luf (Provinz Manus, Papua-Neuguinea; damals Teil der Kolonie Deutsch-Neuguinea) im Jahre 1903. Das fast 16 Meter lange Hochseeboot befindet sich seither in Berlin und ist heute im Humboldt-Forum ausgestellt. Aly hat es sich zur Aufgabe gemacht, gezielt nach kolonialer Schuld und (ausschließlich) deutschen Tätern zu suchen. Um dieses Ziel zu erreichen, legt er eine aus verschiedensten Regionen der deutschen Südseekolonien (in Melanesien, Polynesien und Mikronesien) zusammengestückelte Geschichte deutscher Gräueltaten vor. Vor dem Hintergrund dieses Zerrbildes kolonialer Geschichte behauptet er, dass dieses Boot "geraubt" beziehungsweise der von den Deutschen dezimierten Bevölkerung "entrissen" worden sei. Zwar fand tatsächlich eine vernichtende militärische Strafaktion gegen Luf statt, aber diese geschah 20 Jahre vor dem Erwerb des Bootes. Mit seinem Vorgehen verfolgt Aly auch die Absicht, ein einmaliges Exponat des Humboldt-Forums so zu skandalisieren, dass ein öffentlicher Druck zur "Rückgabe" entsteht. Auch Aly klammert aus, was nicht hineinpasst, eine Tatsache, die der wohl beste Kenner der deutschen Kolonialgeschichte in dieser Region, Jakob Anderhandt, bereits kritisiert hatte. Aly reduziert Äußerungen von damaligen deutschen Händlern und Wissenschaftlern auf einzelne Sätze, welche diese als gewaltverherrlichende und niederträchtige Akteure – "Räuber", "Betrüger", "Raubmörder", "Hehler" – erscheinen lassen. Äußerungen, die das Gegenteil belegen oder die verwendeten Zitate relativieren könnten, verschweigt er.

Was Museen leisten wollen und sollen

Einmal mehr – ähnlich wie bei den Benin-Bronzen – werden lokale Bevölkerungsgruppen als wehrlose Opfer und in Eintracht miteinander lebende Menschen geschildert, die weder Macht und Herrschaftsansprüche besaßen und diese mit Gewalt durchzusetzen versuchten, noch Raubzüge, Gemetzel und Versklavungen kannten. Verschweigen und Schönfärberei sind wesentliche diskursive Mittel, um das Täter-Opfer-Schema aufrechtzuerhalten. Sie erleichtern und vereinfachen Diskussionen. Ein Verzicht auf das Täter-Opfer-Schema würde komplexe Verhältnisse der Verflechtungen und Interaktionen zwischen kolonialen und verschiedenen lokalen Akteuren sichtbar machen und Ambivalenzen zutage fördern. Das ist offensichtlich auch politisch nicht erwünscht.

Als Folge all dieser einseitigen Betrachtungen geraten ethnologische Museen immer mehr in den Verdacht, Hamsterstätten kolonialer Ausbeutung zu sein. Niemand stellt vergleichbare Fragen und Forderungen etwa an Handschriftensammlungen in Bibliotheken oder an Museen, die Kirchenkunst beinhalten. Der eigentliche Wert ethnologischer Museen, nämlich Archive einmaliger kultureller materieller Zeugnisse zu sein – ein Großteil davon hergestellt vor oder in der Frühphase der hegemonialen Ausbreitung Europas und ihrer Rückwirkung auch auf lokale kulturell-künstlerische Ausdrucksformen –, scheint an Bedeutung zu verlieren. Dabei liegt gerade in ihren Sammlungen die Chance, das, was der Ethnologe James Clifford vor bald 25 Jahren als "Kontaktzone" bezeichnet hat, zu verwirklichen, nämlich durch ihre Objekte und Sammlungen Begegnungsstätten und Orte vielfältiger Beziehungen zwischen Menschen und Gruppen in Europa und Ländern des Südens, auch über Raum und Zeit hinweg, zu ermöglichen.


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Brigitta Hauser-Schäublin

Brigitta Hauser-Schäublin ist emeritierte Professorin für Ethnologie der Universität Göttingen. Sie publiziert regelmäßig in verschiedenen Printmedien, etwa in der Neuen Zürcher Zeitung.