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Unterschied zwischen KI und Geist

Was ist Geist?

Ist es wirklich nur noch eine Frage der Zeit, bis Computer dem menschlichen Geist überlegen sind?

David Gelernter01.08.2016

Viele Philosophen, Psychologen und Hirnforscher stimmen zu, dass eine einfache Analogie uns den Geist einfacher verstehen lässt: „Der Geist steht in einer Beziehung zum Gehirn, wie die Software zum Computer.” Diese Analogie ist jedoch völlig falsch. Sie erinnert uns an die enorme, oft unerkannte Macht digitaler Computer, unser Denken zu beeinflussen. Software spezifiziert eine Methode für die Durchführung von Berechnungen — der Geist ist jedoch nicht nur in der Lage, etwas zu tun, sondern auch zu sein. Wenn Sie Ihre Arbeit unterbrechen, aus dem Fenster blicken und einige Minuten die Aussicht genießen, tut Ihr Geist momentan nichts. Er ist jedoch nicht leer oder untätig. Er befindet sich in einem besonderen Zustand des Fühlens oder Seins – dem Zustand, Schönheit zu genießen. Solche Zustände sind Computern völlig fremd.

Es gibt viele weitere einfache, fundamentale Unterschiede zwischen dem Geist und Software. Software lässt sich von einem Computer auf einen anderen übertragen; ein Geist kann nur in genau einem Gehirn funktionieren. Software ist die präzise Spezifikation von Algorithmen; der Geist lässt sich nicht spezifizieren oder beschreiben. Ein Computer kann viele unterschiedliche Anwendungen ausführen und mehrere Anwendungen gleichzeitig laufen lassen. Ein Gehirn ist nur mit einem Geist verbunden. Ein Computer, auf dem eine Software läuft, ist ein Es, ein Mensch mit einem Geist ist Jemand. Es gibt viele weitere tiefgreifende Unterschiede. Die Ähnlichkeiten sind relativ trivial. Und doch hat diese Analogie das Feld seit Beginn der Digitalcomputer und der künstlichen Intelligenz beherrscht.

Mehr als Software fürs Gehirn
Was ist der Geist, wenn er nicht „die Software des Gehirns” ist? Er ist eine Maschine des Handelns und Seins oder auch eine des Denkens und Fühlens – und als solches einzigartig. Wir kennen nichts anderes im Universum, abgesehen vom Geist von Tieren, das ihm ähnelt. (Natürlich könnten wir andere Lebewesen im Universum finden. Aber es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass diese über einen Geist verfügen oder etwas, das dem Geist ähnelt.) Handeln und Sein – oder Denken und Fühlen – sind nicht nur zwei Funktionen des Geists, sie sind die beiden, die den Geist definieren; und sie sind in beträchtlicher Weise voneinander unabhängig. Natürlich ist auch unsere Erinnerung Teil des Geistes – ein entscheidender, jedoch untergeordneter Teil.

Eine Maschine, die zum „Sein” in diesem Sinne fähig ist, muss über ein Bewusstsein verfügen. Jedes Objekt ist, jedoch nur eine kleine Minderheit von Lebewesen weiß, was sie ist. „Fühlen” ist die Fähigkeit, seinen eigenen Zustand zu erleben, was – wiederum – ein Bewusstsein impliziert. Ein „Geist”, der nicht zu einem Bewusstsein fähig ist, ist kein Geist. Hier gibt es viel zu erörtern; aber lassen Sie uns im Thema voranschreiten.

Denken und Fühlen
Die den Geist definierenden „Achsen” lassen sich als Nachdenken und Gefühl beschreiben. Nachdenken ist immer „absichtlich” (diese Idee wurde von Brentano erdacht) – mit anderen Worten, bezieht sich ein Gedanke immer auf etwas, beschäftigt sich mit etwas. Zu denken impliziert, dass man über etwas nachdenkt. Ein Gefühl kann entweder ein Sinneseindruck oder eine Emotion sein – das Gefühl von Regentropfen in Ihrem Nacken (Sinneseindruck), das Gefühl der Freude über den Regen (Emotion).

Denken ist rein intellektuell; Gefühl ist immer auf dem Körper basierend. Auch ein völlig abstraktes Gefühl – eine schöne Aussicht verleiht Ihnen ein Glücksgefühl – hat körperliche Auswirkungen, bzw. ähnelt körperlichen Sinneseindrücken. Das Gefühl der von einem schönen Anblick erzeugten Freude ist in anerkannter Weise ähnlich dem Gefühl der Freude, wenn Sie beispielsweise bei Durst etwas trinken. Denken ist immer vorsätzlich, Fühlen jedoch nie. Gefühle können keinen Bezug herstellen oder etwas darstellen. Sie können natürlich Ursachen haben, aber sie drücken nichts aus.

Somit sind Gedanken (rein intellektuell und immer vorsätzlich) und Gefühle (ultimativ körperlich und nie vorsätzlich) in gewissem Sinne voneinander unabhängig. Und wir können das gesamte Universum der mentalen Zustände abbilden, indem wir uns ein Denken-Fühlen-Koordinatensystem vorstellen – bzw. ein Spektrum, das von reinem Nachdenken über bis hin zu reinem Fühlen reicht. Im oberen Bereich dieses Spektrums wird die Aufmerksamkeit exklusiv dem Denken gewidmet. Während wir uns im Spektrum weiter nach unten bewegen, wird ein schrittweise zunehmender Teil der Aufmerksamkeit dem Gefühl und ein abnehmender Teil dem Denken gewidmet. Bei Erreichen des unteren Endes befinden wir uns in einem Zustand, der nur aus dem Fühlen besteht – reines Gefühl. Reines Gefühl erzeugt für das Bewusstsein jedoch Probleme. Direkt unterhalb vom reinen Gefühl ist der Zustand der Bewusstlosigkeit angesiedelt.

Phasen des Geistes
Zustände wie z.B. Glauben oder Wünschen, die Denken und Gefühl beinhalten, entsprechen verschiedenen mittleren Punkten im Spektrum. Natürlich lässt sich ein mentaler Zustand kaum durch 10 Prozent Denken, 90 Prozent Gefühl beschreiben; es gibt viele Arten des Denkens und Fühlens. Das Spektrum gibt uns jedoch einen vorläufigen Weg, den Geist zu verstehen. Es bietet jedoch noch mehr: Das Spektrum steht, grob gesagt, in einer Wechselbeziehung zur Dynamik des Geistes – den vorhersagbaren Änderungen am mentalen Zustand im Laufe eines Tages.

Wir nähern uns der Welt bei Tagesbeginn—wenn wir energiegeladen und hellwach sind—anders als wir dies in der Mitte des Nachmittags tun, wenn wir (gewöhnlich) viele Stunden gearbeitet haben. Am frühen Morgen neigt unsere Fähigkeit, sich auf ein Thema zu konzentrieren, einer Ablenkung zu widerstehen und logisch und sorgfältig zu denken, dazu größer zu sein als in der Mitte des Nachmittags. In der Mitte des Nachmittags neigt unser Geist eher dazu, seine Gedanken wandern zu lassen.

Später dann, könnten wir uns in Tagträumen versunken finden – über längere Zeiträume abgelenkt, während derer unsere Aufmerksamkeit auf Ideen und Erinnerungen konzentriert ist. Im weiteren Fortschreiten des Tages beginnen wir schläfrig zu werden, und unsere mentalen Aktivitäten ändern sich erneut: Während wir uns dem Schlafen nähern, sind wir zunehmend weniger in der Lage, unsere Gedanken zu kontrollieren; Erinnerungen erfordern mehr Aufmerksamkeit und werden lebendiger. Während des Schlafens selber sind unsere Gedanken und Erinnerungen lebendig, sie sind halluzinatorisch, während unser Bewusstsein der Außenwelt verschwindet. Und in bestimmten Zeiträumen während des Schlafens sind wir traumlos und unbewusst.

Bei der Beschreibung dieser vertrauten Änderungen unseres mentalen Zustands habe ich gleichermaßen die Veränderungen beschrieben, die bei der Abwärtsbewegung innerhalb des Spektrums auftreten. Das Spektrum ist in sich eine Beschreibung der mentalen Dynamiken. Das Denken ist dominant im oberen Bereich des Spektrums. Denken erfordert Energie und Disziplin. Starke Gefühle finden andererseits immer unsere Aufmerksamkeit (wir spüren sie auf). Natürlich sind wir dann, während unsere mentale Energie und Disziplin abnimmt, weniger in der Lage, uns faszinierende Gefühle zurückzuhalten. Gefühle werden dementsprechend zunehmend in unserem Geist bedeutend, während der Tag voranschreitet und wir uns im Spektrum nach unten bewegen.

Träumen erfolgt, wenn wir uns in der Nähe des unteren Endes des Spektrums befinden. „Jeder Traum zeichnet sich durch visuelle Wahrnehmungen und starke Emotionen aus”, schreibt der Neurophysiologe J. Allan Hobson. Andererseits sind Träume mit einem unvorsichtigen, widersprüchlichen oder unlogischen Denken verbunden. Das Gefühl, nicht das Denken, dominiert das Träumen.

Ignoranz durch Lehre und Forschung
Es scheint, als würden wir üblicherweise im Laufe eines Tages hin und her pendeln—unsere Spektrumsebenen verlaufen in Abwärtsrichtung bis zur Mitte des Nachmittags, steigen wieder bis zum frühen Abend an und bewegen sich dann wieder geradewegs in den unteren Bereich bis zum Schlaf. Natürlich besitzt jeder sein eigenes Muster und seine eigene Version des Spektrums. In jedem Fall: Die Tatsache, dass Lehre und Forschung bei der Erforschung des Geistes dazu neigen, die mentalen Dynamiken nahezu vollständig zu ignorieren – obwohl die sich verändernden Zustände des Geistes für jedes Kind offensichtlich sind – ist einer der eigenartigsten Umstände in der modernen Wissenschaft und im modernen Denken.

Der Zustand reinen Gefühls am unteren Ende des Spektrums ist einzigartig und besonders. Wir erleben diesen Zustand manchmal kurz an einem normalen Tag, wenn ein erschütterndes, erschreckendes oder unerwartetes Ereignis eine plötzliche Welle von Emotionen verursacht – woraufhin die Emotionen temporär den Geist unter vollständigem Ausschluss des Denkens dominieren. Während dieser kurzen Episoden sind wir, tatsächlich, nur teilweise bewusst—da wir uns später nicht an sie erinnern können. So hört man, nachdem eine Person einen schockierenden Moment, ein plötzliches Trauma erlebt hat, oft den Satz: „Ich kann mich nicht erinnern, was passiert ist.” Die Erinnerung ist jedoch ein Archiv bewusster Zustände; wenn ein Ereignis in diesem Archiv fehlt, fühlen wir uns, als wenn es sich nie ereignet hätte. Daher ist dies ein Zustand nur teilweisen oder abnormen Bewusstseins.

Sobald wir diesen Zustand reinen Gefühls erreicht haben, können wir einfach in die vollständige Bewusstlosigkeit gleiten. Denken Sie an Susannas vorgetäuschte Ohnmacht in „Figaros Hochzeit“. Sie tut dies, da eine reale Ohnmacht zu dem Zeitpunkt nicht überraschend gewesen wäre. Üblicherweise schlafen wir, während wir uns an das untere Ende des Spektrums in die Unbewusstheit bewegen. Der Philosoph und Psychologe Franz Brentano, der sich in seinen Arbeiten u.a. mit der Intentionalität – also der Fähigkeit eines Menschen, sich auf etwas zu beziehen – befasst hat, hätte seine Arbeit durch die Feststellung der Verbindung zwischen Absichtlichkeit und Bewusstsein erweitern können. Absichtlichkeit, eine Bezogenheit auf etwas, verbindet den Geist mit der Außenwelt an sich. Das äußerste Ende des Spektrums, das reine Gefühl, ist ein Zustand, dem es vollständig an Absichtlichkeit fehlt. Der nächste Schritt ist, unvermeidlich, die Bewusstlosigkeit.


Weitere Beispiele
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David Gelernter
Prof. Dr. David Gelernter ist Professor für Informatik an der Yale University und Publizist. Er schreibt u.a. für die Washington Post, die Los Angeles Times und die FAZ. Zuletzt erschien "Gezeiten des Geistes, Die Vermessung unseres Bewusstseins" (Ullstein 2016). www.yale.edu