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Wie smarte Selbstoptimierungsprogramme unseren Alltag begleiten und dabei zunehmend unsere Wahrnehmung und unser Handeln beeinflussen

Die schleichende Digitali­sierung des Ich

Der Drang zur stetigen Verbesserung des Menschen ist Jahrtausende alt. Die Digitalisierung unseres Alltags und die Ergebnisse der medizinischen Forschung – insbesondere auf dem Gebiet der Neurowissenschaften – haben die Möglichkeiten und Potentiale dafür dramatisch erweitert. Der folgende Beitrag dieses Titelthemas beschreibt die Chancen und Risiken einer Entwicklung, die das Mensch-Sein für immer verändern kann.

David Gelernter01.09.2015

Die Beziehung zwischen Software und humaner „Selbstoptimierung“ – also dem Bestreben, das bestmögliche Leben unter optimaler Ausnutzung aller persönlichen Talente  zu leben – ist ein interessantes und wichtiges Phänomen. Selbstverständlich galt schon immer der ewige Grundsatz (und wird auch immer gelten), dass der Mensch sich nicht in erster Linie um Maschinen oder Geld oder Status oder Macht bekümmert, sondern um andere Menschen. Um den Ehepartner, um Kinder, Freunde, die Menschheit allgemein— Tratsch wird nie alt. Nur ein anderes menschliches Wesen oder der direkte Ausdruck menschlicher Persönlichkeit in Kunst, Literatur, Theater, Philosophie oder Theologie kann im Zentrum unseres Lebens stehen. Alles andere sind lediglich interessante Details. Computer können helfen und schaden – aber sie haben uns nichts zu sagen. Sie werden immer eine Nebensache sein, nie die Hauptattraktion. Sie werden immer die zweite Rolle spielen.

Die wichtigste Software ist diejenige, die Verbindungen zwischen Menschen herstellt – nicht die Rechenprogramme oder Problemlösungsanwendungen. Unsere Forschungsgruppe in Yale entwickelte in den 90er Jahren eine Software namens „lifestreams“: Jeder in unserer Testgruppe konnte ein Dokument am Ende eines Streams einstellen, das somit immer in Realzeit verfügbar war. Der Datenstrom war für eine Gruppenkommunikation bestimmt, aber man konnte ihn für private ebenso wie für öffentliche Dokumente benutzen. Das war ebenso nützlich wie kraftvoll. Doch erst als eine junge Frau, die sich gerade verlobt hatte, ein Foto ihres Verlobungsrings einstellte, damit alle ihn bewundern konnten – übrigens das erste solche Ereignis in einem sozialen Netzwerk – wurde uns die wirkliche Bedeutung des Systems bewusst. Wir hatten es benutzt, um über Gruppensitzungen, neue Software und ernste Geschäftssachen  zu „zwitschern“ (wobei unser System tatsächlich wie Twitter funktionierte, nur effektiver und nicht so kompliziert). Doch erst als es für die erste ganz allgemeine menschliche Kommunikation eingesetzt wurde, für Tratsch und Alltägliches, wurde uns die Bedeutung bewusst.

Verlust wichtiger Kulturtechniken

In den USA behindert Software bereits das wichtigste Lernerlebnis für Kinder überhaupt – das Lesen. Und das betrifft sowohl das Selbstlesen als auch das Vorlesen. Wir benutzen unseren Geist, um zu denken und zu fühlen. Unsere Gedanken kommunizieren wir durch Sprache. Wir setzen Mimik, Gestik, Stimme ein, um Gefühle zu übermitteln (nun, manchmal beschreiben wir unsere Gefühle auch in Sprache, aber wir lernen mehr über Mimik und Körpersprache als durch Sprachübermittlung). Kommunikation via Computer, ob mit oder ohne Video, schränkt unsere Kapazität, Gefühle des Gegenübers zu lesen, drastisch ein. Kinder müssen aber miteinander im Gegenüber kommunizieren, von Angesicht zu Angesicht, sonst lernen sie nicht wirkliches Menschsein. Natürlich hindern sie Computer nicht per se daran. Doch haben das mobile Telefonieren, Textnachrichten und soziale Netze bereits einen solchen Stellenwert in der alltäglichen Kommunikation erlangt, dass sie das Kommunikationsverhalten unter Kindern beeinflussen. Es fragt sich also, ob wir das Experiment zu Ende führen wollen – wollen wir herausfinden, ob die nächste Generation unfähig zu einem vollen, normalen und  emotional reichen Leben ist? Oder sollten wir das hässliche Experiment jetzt beenden, bevor es zu spät ist – und unseren Kindern die Handys und Smartphones wegnehmen? Computer sollten zumindest mit einem Warnschild versehen werden: „Dieses Gerät kann bei Ihrem Kind emotionale Schäden hervorrufen und das Heranwachsen zu einem reifen Erwachsenen verhindern.“

Eine optimistischere Sicht der „self optimization“ ist die Perspektive, dass in naher Zukunft sogenannte Apps zumeist simultan und nicht mehr konsekutiv ablaufen werden— sie werden miteinander auf der Basis einer einheitlichen Standardtechnik kommunizieren. Wir werden in der Zukunft eine große Anzahl von „Watcher-Apps“ haben, also Überwachungsprogramme, die gleichzeitig ablaufen und nach einer Bedingung oder einem Ereignis Ihres Interesses suchen. Oder für Sie interessante Aktivitäten verfolgen. Oder Sie im richtigen Moment an etwas erinnern, das Sie sonst vielleicht vergessen hätten.

Der zweifelhafte Zauber der Apps

Wenn Sie Ihre Finanzen überwachen wollen, wird das bequem eine Watcher-App übernehmen, die konstant Ihr Bankkonto überwacht, während eine andere Ihre Kreditkarten oder andere Ausgaben kontrolliert und Ihnen ständig Rückmeldung gibt, z.B.: Geben Sie mehr als gewöhnlich für Ihr Auto aus? Oder für Ihre Freundin? Könnten Sie eine Ihrer Karten gegen eine andere mit günstigeren Bedingungen austauschen?.  Wenn Sie sich einen neuen Job wünschen, kann eine Watcher-App für Sie aktuelle Jobangebote durchgehen. Oder Sie können eine andere App damit beauftragen, gezielt nach einem bestimmten Job zu suchen.

Die meiste Zeit werden diese Programme absolut nichts tun. Sie laufen im Hintergrund mit und warten darauf, dass etwas geschieht, für das sie programmiert sind. Doch wenn eine Ihrer Apps Ihnen nach drei Jahren Schweigen ein interessantes Angebot meldet, hat sie ihren Zweck erfüllt. Computer sind billig, und wir stehen daher nicht vor der Herausforderung, sie zu vorsichtig einzusetzen, sondern sie kreativ zu verschwenden. Wenn Sie Interesse an Büchern über die Tokioter Börse haben, oder Lesekrimis, die in Venedig spielen, oder Essays von Autoren wie Amis, Coetzee de Erpenbeck, wenn Sie nach französischen Komödien suchen, die in Ihrer Nähe gezeigt werden, all diese Suchen können Sie einer Watcher-App übertragen, die Ihnen genau das Gewünschte heraussucht.

Und wenn Sie nur eine Erinnerung brauchen, kann auch das leicht bewerkstelligt werden. „Erinnere mich eine Woche vorher an den Geburtstag meiner Frau.“ Ganz einfach. Oder Sie können komplexere Aufträge erteilen: „Sag mir, wann nach der aktuellen Wetterlage der beste Zeitpunkt zum Blumenpflanzen ist.“ Oder: „Erinnere mich, Philip von der Arbeit aus anzurufen, aber nur, wenn ich nicht zu beschäftigt bin.“ Eine App kann dabei nur extrapolieren, wann sie beschäftigt sind, aber in den meisten Fällen wird sie richtig liegen. Sie kann registrieren, wann Sie einen Computer benutzen und für welche Zwecke. Sie kann registrieren, wie Ihr täglicher Terminplan aussieht und wann Sie Treffen oder Verabredungen haben. Durch die Kontrolle Ihres Computers, Ihres Telefons und Ihres Terminkalenders kann die App ablesen, wann Sie zur Arbeit gehen, wann Sie nach Hause kommen – und wann Sie Philip anrufen sollten.

Eine andere Aufgabe könnte diese sein: Ich muss diese E-Mail vor Ende der Woche beantwortet haben. Die App entscheidet, wann ein günstiger Zeitpunkt ist, Sie daran zu erinnern. Zu Beginn erfolgen die Erinnerungen noch sporadisch. Doch im Laufe der Woche werden sie fordernder. Und schließlich werden sie zur Warnung. „Du hast nur noch einen Tag Zeit für Deine Antwort!” Und um die Sache einfach zu machen, zeigt die App den Absender und dessen E-Mail-Adresse an. Bei einem Telefonanruf fragt sie: „Soll ich die Nummer jetzt wählen?“

Wann wird all dies zur Alltagsrealität? Wann immer wir dies wünschen. Es ist keine neue Technologie dafür notwendig. All diese Systeme könnten heute erstellt werden. Watcher-Apps können auf Einzelcomputern ebenso wie auf Servern ablaufen. Eine App, die alle Ihre Computer beobachtet und Entscheidungen trifft, wird Ihre Watcher-Apps beaufsichtigen. Natürlich gibt es solch eine Anwendung noch nicht, eine mit dem Auftrag „Beobachte alle meine Computer“ – aber warum nicht? Weil Software-Hersteller bisher zu faul oder fantasielos waren, um sie zu konzipieren. Dabei könnte es so einfach sein. Um eine Watcher-App zu erstellen, könnten Sie einfach ein Formular auf Ihrem Computer ausfüllen. Die Software kodiert nach diesen Angaben eine Anwendung und stellt sie Ihnen dann vor. Wenn Sie diese genehmigen, nimmt sie den Betrieb auf und läuft, bis Sie den Befehl dazu erteilen, damit aufzuhören – wahrscheinlich nie.

Nun die Frage: Bedroht all dies unsere Privatsphäre? Ja natürlich! Aber das ist eine andere Frage. Denn: Wenn Computer-Benutzer sich endlich entschließen, den Schutz der Privatsphäre und den Datenschutz ernst zu nehmen, dann wird es auch private, sichere Computer geben. Doch von allen Benutzergruppen sind es die jungen Menschen, die sich am wenigsten um Datensicherheit bekümmern. Und das ist vielleicht eine Konsequenz aus ihrem Verhalten, mit Computern anstatt im direkten persönlichen Kontakt zu verkehren.

David Gelernter
Prof. Dr. David Gelernter ist Professor für Informatik an der Yale University und Publizist. Er schreibt u.a. für die Washington Post, die Los Angeles Times und die FAZ. Zuletzt erschien "Gezeiten des Geistes, Die Vermessung unseres Bewusstseins" (Ullstein 2016). www.yale.edu