Titelthema
Bleiben wir zuversichtlich!
Wir sollten weder einer gehaltlosen Technikkritik noch einer Technikgläubigkeit verfallen, sondern uns informieren und abwägen.
4. Tag:
Da befahl Gott: „Am Himmel sollen Lichter entstehen, die den Tag und die Nacht voneinander trennen und nach denen man die Jahreszeiten und auch die Tage und Jahre bestimmen kann! Sie sollen die Erde erhellen.“
Die Welt ist derzeit heftig geschüttelt durch Krisen, aber nicht nur das: Sie befindet sich durch neue Technologien in einem rasanten Wandel, durch den sich die gemeinsam geteilte Lebenswelt rasant verändert. Jürgen Habermas spricht inzwischen von einem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit, den er seit einigen Jahren durch die neuen sozialen Medien heraufziehen sieht. Und er warnt: Die liberalen Demokratien sind davon abhängig, sich immer wieder neu von innen heraus zu stabilisieren, was ihren Bewohnern eine politische Gestaltungswilligkeit und Kompromissfähigkeit abverlangt.
In früheren Zeiten durfte man davon ausgehen, dass die Kirchen von Krisenerfahrungen profitieren konnten. „Not lehrt Beten“ ist eines der aufschlussreichsten Sprichwörter. Sollten das Gegenwartsbewusstsein krisengeschüttelt sein und Zukunftsängste herrschen, so führt dies ganz gewiss nicht zu einem Erstarken der verfassten Kirchen. Dies hängt auch damit zusammen, dass inzwischen alle Kirchen nach den Studien zur sexualisierten Gewalt an Minderjährigen massiv an moralischer Glaubwürdigkeit verloren haben. Andere Skandale ließen sich addieren. Ihr gravierenderes Problem besteht darin, dass sie immense Schwierigkeiten haben, von Gott zu reden in einer Welt, die in den Eigenlogiken ihrer Teilsysteme ohne Gott funktioniert. Am eindrücklichsten lässt sich dies in der Medizin studieren. Niemand verlangt von der operierenden Ärztin, dass diese eine intensive Frömmigkeit lebt. Wer sich ihr anvertraut, erwartet Professionalität.
Des Menschen Freiheitsdrang
Derzeit wird der technologische Fortschritt angesichts der Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit oftmals kritisch gesehen. Dass der Mensch dabei ist, diese zu zerstören, kann ja auch nicht bestritten werden. Ich erinnere nur an die Klimakrise und die Zerstörung der Artenvielfalt. Nur ist auch etwas anderes zu bedenken: Die Natur meint es nicht gut mit dem Menschen. Die biologische Evolution geht genauso rücksichtslos mit der Spezies Mensch um wie mit allen anderen Organismen. Ohnehin ist sie desinteressiert. Sie vollzieht sich. Erst als der Mensch sich aufmachte, das biologische Elend nicht mehr als Strafe für den Fall Adams zu interpretieren und selbstbewusst die Natur zu erforschen, einen beherrschenden Umgang mit ihr zu entwickeln, wurde das Leben leichter. Der Mensch wurde immer mehr Schöpfer seiner eigenen Lebensbedingungen. Und er konnte dies, weil er der Verlässlichkeit Gottes nicht mehr vertraute. Jedenfalls nicht in dem, was das konkrete Leben vom Menschen selbst zu gestalten abverlangt. Theologisch wird dies nun, nachdem der Mensch über Jahrhunderte darauf fixiert wurde, dass sein Elend daher rühre, selbst zu erkennen und so die Rolle Gottes übernehmen zu wollen, gewürdigt. Dass die Würde des Menschen darin besteht, sein Leben frei entwerfen zu dürfen, setzt sich nun durch. Und dazu gehört auch, Technik zu entwickeln. Dies hatte zur Voraussetzung, dass die theoretische Neugierde aus dem theologischen Bann befreit werden musste, selbst Gott spielen zu wollen. Dies geschah angesichts der Deutungshoheit der Kirche im späten Mittelalter schleichend. Aber dauerhaft lässt sich das Freiheitsbewusstsein des Menschen nicht unterdrücken.
Kaum noch zu steuern
Die neueste Technologie, die unaufhaltsam dabei ist, die Welt zu erobern, ist die künstliche Intelligenz. Sie ist angstbesetzt, nur muss man nüchtern sagen, dass diese algorithmengeleitete und durch Datenfütterung basierte Technik bereits seit geraumer Zeit mit der Mensch genannten Lebensform eine immer intensivere Synthese eingeht. Neu ist das Eigenleben, das diese Technik zu entwickeln scheint. Ob sie dies tut, ob sie überhaupt aus sich selbst heraus lernfähig wird und damit das annimmt, was wir bisher nur menschlichen Subjekten unterstellen, nämlich selbstbestimmt und vernunftgeleitet und also kreativ zu werden und dabei sich selbst verantwortlich zu sein, kann ich nicht beurteilen. Ich habe erhebliche Zweifel. Nur könnte es sein, dass eine KI-gesteuerte Technik den Menschen insofern zu überrollen beginnt, als sich die Komplexität der technischen Systeme immer mehr steigert und diese damit jedenfalls von Einzelnen kaum noch zu steuern sind. Zudem beginnt nicht nur die kulturell eingeübte Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu verschwinden. Sondern es dürfte in der Zukunft sehr schwierig werden, angesichts von KI-gesteuerter Texterstellung noch um den Ursprung der Quelle wissen zu können. Dies ist deshalb bedenklich, weil nichtfiktive Texte das soziale Zusammenleben bis heute entscheidend regulieren. Dies sind Texte mit einer rechtlichen Relevanz, über lange Zeit waren dies als heilig gekennzeichnete Texte, die von normativer Bedeutung waren.
Keine einfachen Lösungen
Nur wo bleibt Gott angesichts der rasanten Veränderung der Wirklichkeit, in der wir leben und die alle in ihren Sog zieht? War früher Gott der, dem Allwissenheit unterstellt wurde und der das All mit seiner Macht durchherrschte, so sind es heute immense Datenmengen, die die Erde umströmen und das Leben regulieren. Selbst die, die traditionelle religiöse Praktiken pflegen, haben selbstverständlich ein Smartphone dabei und bewegen sich in den sozialen Medien. Während den traditionellen Kirchen die Menschen scharenweise davonlaufen, organisieren sich die Neoreligiösen über diese Medien und versammeln sich auf den religiösen Massenevents. Was seltsam ungleichzeitig wirkt, lässt sich erklären: Gerade weil die modernen Lebenswelten undurchsichtig sind, bietet der Religionsmarkt einfache Antworten an. Gott zieht sich hier in das Innere des Menschen zurück, ist einfach immer nur lieb. Es wird Komplexitätsreduktion angeboten als Gegenmittel zur Komplexitätssteigerung in den Gesellschaften. Nur will man das?
Nüchtern betrachtet hat sich Gott (wenn er überhaupt existiert) immer sehr abstinent verhalten, wenn Menschen sich an ihn wandten. Insofern unterscheidet sich unsere Gegenwart in nichts von vergangenen Zeiten. Das ist in der KI-Ära nicht anders als in jener Zeit, als man nur einfachste Werkzeuge besaß und der ungnädigen Macht der Biologie schutzlos ausgeliefert war. Der Theologe sieht sich zu dieser nüchternen Aussage genötigt. Und er beichtet gerne, dass er sich jedes Mal wieder freut, wenn die Nachrichten mit einem „Bleiben Sie zuversichtlich“ enden. Wissen tut er nichts. Aber er kann eine Hoffnung auf den artikulieren, der das Ganze nicht im Schlund des Nichts versinken lässt. Bis dahin gilt es, weder einer gehaltlosen Technikkritik noch einer Technikgläubigkeit zu verfallen. Das Problem ist, dass es eine informierte und zur Abwägung bereite Öffentlichkeit braucht, um mit Technik die Gesellschaft so zu gestalten, dass die Prozesse nicht unkontrolliert ablaufen. Und dies in einer global gewordenen Welt. Aber bleiben wir zuversichtlich.
Buchtipp
Magnus Striet
Alte Formeln – lebendiger Glaube
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