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Wir und die anderen?

Titelthema - Wir und die anderen?
Legba: Als „Hüter der Wegkreuzung“ vermitteln Legba-Figuren zwischen Menschen und Geistern. Diese Figur steht vor einem Haus in Benin zum Schutz der Bewohner © Louise Batalla Duran/Alamy Stock Photo

Unsere koloniale Vergangenheit ist wieder präsent. Beim Entwickeln eines neuen Verständnisses von Welt kommt Ethnologen eine bedeutende Rolle zu.

Birgit Meyer01.09.2021

Seit den 70er Jahren haben Ethnologen sich verstärkt kritisch mit der Geschichte ihrer Disziplin auseinandergesetzt und die Implikationen des Kolonialismus, in dessen Zusammenhang ethnologische Forschung sich konstituierte, kritisch aufgearbeitet. Sie haben die Repräsentation anderer Kulturen und den ethnologischen Blick problematisiert. Die Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie zentrale theoretische Konzepte eine zeitliche und räumliche Distanz zwischen „uns“ und „den anderen“ konstruieren und damit die Gleichzeitigkeit, ohne die Feldforschung gar nicht möglich wäre, negieren, führte zu einer postkolonialen Kritik der Produktion ethnologischen Wissens. Genau dieser kritische Umgang mit den Grundvoraussetzungen der Wissensproduktion, die oft unbemerkt und unhinterfragt in ethnologische Texte über „andere“ einfließen, hat mich von Anfang an interessiert. Ich studierte Mitte der 80er Jahre Sozial- und Kulturanthropologie in Amsterdam, wo dieser Ansatz unter anderem durch Johannes Fabian entwickelt wurde. Ich hatte mich damals bewusst gegen ein Studium der Ethnologie in Deutschland entschieden, da mir das Fach noch recht altmodisch erschien. Die niederländische Gesellschaft war schon zu dieser Zeit deutlich vielfältiger, und die dort gelehrte Sozial- und Kulturanthropologie war aufgrund der viel kürzer zurückliegenden kolonialen Vergangenheit bereits stärker an globalen gesellschaftlichen Vernetzungen und postkolonialen Fragen interessiert. Zudem gehörte dort auch Europa in den Bereich der ethnologischen Forschung und wurde nicht der Volkskunde zugeordnet. Aus diesem Grunde lag es wohl mehr als in Deutschland auf der Hand, ethnologische Forschung als Untersuchung der Konstitution und Aushandlung von Unterschieden in komplexen sozial-kulturellen Gefügen zu definieren. Es ist meines Erachtens eine zentrale Aufgabe der Ethnologie, diese Dynamik zu erforschen und kritisch zu analysieren. Und da gibt es viel zu tun!


Werfen Sie einen Blick auf die Sammlungen des Humboldt-Forums: HIER.


Mein Leitkonzept ist der Begriff der Vernetzung, der den Blick lenkt auf die daraus entstandenen und entstehenden Beziehungen, wie sie in Kontexten von Macht und Ungleichheit Gestalt annehmen. Zum einen ist es wichtig, heutige europäische Gesellschaften nicht mehr auf Basis naturalisierter, nationaler Narrative zu analysieren, sondern die Ein- und Ausgrenzungsdynamiken dieser Narrative in Bezug auf diejenigen, die als nicht „einheimisch“ gesehen werden, zu problematisieren. Heutige europäische Metropolen sind die neuen „frontier zones“ (David Chidester), in denen Unterschiede festgeschrieben und verhandelt werden. Diese neuen „frontier zones“ erinnern mit großem Nachdruck an die kolonialen Projekte europäischer Staaten, die bis heute deutlich nachklingen, auch wenn viele sich dieser Vergangenheit lieber nicht stellen und sich der damit einhergehenden Verantwortung entziehen. Hier kommt gerade den Ethnologen, die sich in den Regionen, aus denen Migranten und Geflüchtete kommen, gut auskennen und die sich seit Jahren mit der Entschlüsselung historischer, transregionaler Beziehungen zwischen diesen Regionen und Europa beschäftigt haben, eine wichtige Rolle zu. Meines Erachtens können sie im Dialog mit anderen Disziplinen genau die nötige Expertise einbringen, die ein tieferes Verständnis von pluralistischen Gesellschaften unter hierarchischen Machtverhältnissen erfordert. In diesem Sinne kann die Ethnologie dazu beitragen, die Welt aus einer relationalen Perspektive neu zu denken.

Heiliger Abfall der Christianisierung

Zum anderen ist der Begriff Vernetzung auch in Bezug auf heutige Diskussionen über die ethnologischen Museen von großer Wichtigkeit. Wie ist umzugehen mit all den Sammlungen, die aus kolonialen Kontexten in europäische ethnologische und andere Museen gelangten? Im Rahmen der Einrichtung des Humboldt-Forums werden große, hochnötige Debatten zu Fragen von Provenienz und Restitution geführt, über die verschiedene wissenschaftliche und gesellschaftlich-politische Positionen in Bezug auf die heutige vernetzte und postkoloniale Welt formuliert werden. Mir ist es wichtig, diese Debatten auf einer materiellen Grundlage anzugehen und die Sammlungen selbst in enger Zusammenarbeit mit Kuratoren und Nachfahren der ursprünglichen Eigentümer und Benutzer als Ausgangspunkt zu nehmen. Nach meinem Eindruck ist die Beziehung zwischen Sozial- und Kulturanthropologie und den ethnologischen Museen in den Niederlanden stärker entwickelt, als es in Deutschland der Fall ist; seit Anfang meines Studiums habe ich regelmäßig an Ausstellungen und Veranstaltungen mitgewirkt. So bin ich auch an einem neuen Forschungsprojekt mit dem Titel „Pressing Matter“ beteiligt, das vom Direktor des „Nationalen Museums für Weltkulturen“ Wayne Modest geleitet wird, die Provenienz verschiedener kolonialer Sammlungen untersucht und in Zusammenarbeit mit den Nachfahren der früheren Besitzer über eine mögliche Zukunft dieser Objekte nachdenkt. In diesem Rahmen konzentrieren mein Kollege Peter Pels und ich uns auf missionarische Sammlungen, deren Objekte im Zuge der Bekehrung einheimischer Christen gesammelt wurden und als sogenannte Götzenbilder eine Art heiligen Abfall der Christianisierung formten.

Was missionarische Sammlungen verraten

Dieses Projekt knüpft eng an meine langjährige historisch-ethnografische Forschung zu den Aktivitäten der Norddeutschen Mission unter den Ewe im heutigen Süden Togos und Ghana an, in der es mir darum ging, herauszufinden, wie die Bekehrung zum Christentum im kolonialen Kontext vonstatten ging und sich gegen den Strich lesen lässt. Deutlich wurde, dass Bekehrung zum Christentum vor allem eine Bekehrung zur Modernität implizierte und man damit einen Einstieg in immer weiter gefasste globale Zusammenhänge zu erwerben versuchte. In diesem Rahmen verpflichteten die Missionare der Norddeutschen Mission die bekehrten Ewe, sich von ihrer bisherigen Religion loszusagen. Zum Zeichen der Bekehrung mussten alle Objekte, die mit der als „heidnisch“ disqualifizierten Religion zusammenhingen, abgegeben und verbrannt werden. Die Missionare zerstörten aber nicht alle Objekte, sondern legten Sammlungen von bestimmten Dingen – unter anderem Legba-Figuren (sogenannte Fetische) und Dzokawo („Zauberstränge“) – an, die an das Städtische Museum Bremen (heute Übersee-Museum) geschickt wurden und dort bis heute im Depot liegen. Selbstverständlich erfordert die Erforschung dieser Sammlung ein multiregionales Team, an dem auch Wissenschaftler aus Ghana beteiligt sind. Ich sehe diese Dinge als Knotenpunkte, über die wir die kolonialen Zusammenhänge, die sie von dort nach hier brachten, erschließen können und die uns das Zusammenwirken von Missionsgesellschaften, bekehrten Ewe, Kolonialverwaltungen, Ethnologen, Kolonialvereinen und einer kolonialbegeisterten Öffentlichkeit deutlich machen.

Debatten, die den Blick weiten

Zudem stellt sich die Frage, was diese Dinge für ihre ursprünglichen Besitzer bedeutet haben. Sie formen den Eingang in eine Welt, die durch Missionierung angegriffen und weitgehend zerstört wurde und die sie paradoxerweise in sich bergen. Dabei ist es die Frage, inwieweit der Ding-Begriff überhaupt zutreffend ist, da die Legba-Figuren und Dzokawo ja ursprünglich große spirituelle Kräfte enthielten und freisetzen konnten und damit von ihren ursprünglichen Nutzern als lebendig gesehen wurden. Heutige ghanaische Christen lehnen diese Dinge übrigens ab, da sie diese als Ausdruck dämonischer Kräfte sehen. Das verleiht dieser Art missionarischer Sammlungen eine gewisse Eckigkeit, die die Debatten zu Provenienz, Raubkunst und Rückgabe erweitert und verkompliziert.

Die koloniale Vergangenheit ist präsenter, als man lange wahrhaben wollte, und unser gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Umgang damit erfordert ein systematisches Durcharbeiten. Dies geschieht in den heutigen Debatten zum Humboldt-Forum und zur Zukunft der ethnologischen Museen, wobei es um nicht weniger als das Entwickeln eines neuen Verständnisses von Welt geht, das enge nationale Erzählungen in ihre Schranken weist. Die Ethnologie kann zur Entwicklung dieses Verständnisses, auch aufgrund der kritischen Auseinandersetzung mit ihren kolonialen Wurzeln und ihrer stark auf Objekte und Praktiken orientierten Forschung, einen wesentlichen, differenzierten Beitrag leisten.


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