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Lernen 4.0 – die neue Freiheit für Schüler

Das Internet macht das Lehren und das Lernen einfacher denn je. In Sekundenschnelle errechnen Computer für jeden Einzelnen, wie er am ehesten sein Ziel erreichen kann. Der Beginn einer Bildungsrevolution

Julia Behrens03.05.2016

Die Steve-Jobs-School in Amsterdam ist keine normale Schule. Wer das Gebäude betritt, merkt schnell, dass hier die üblichen Regeln, die für Schulen gelten, keine Anwendung finden. Bunt ist es, hell und freundlich. Und sehr ruhig auf den Fluren. Und das, obwohl die Schule bewusst keine festen Stundenpläne hat, und die Tische in den Klassenzimmern nicht in Reih und Glied stehen.

Stattdessen findet man bunte Sitzsäcke, Sofas, viele Bilder, ein paar Tische und Bänke und sogar einen Kühlschrank im Klassenzimmer. Die gute alte Kreidetafel gibt es auch und direkt daneben ein großes, interaktives Whiteboard. Die Kinder laufen in Socken herum, viele von ihnen mit einem Tablet in der Hand. Statt eines festen Stundenplans, der für alle gilt, gibt es individuelle Pläne für jeden Schüler und jede Schülerin.

Die Ferienzeiten legt jeder für sich selbst fest. Unterricht in der Gruppe wechselt sich mit Phasen des Selbstlernens ab. Alle sechs Wochen wird der Lernstoff für jedes Kind neu festgelegt. Keine Lust auf Mathe, dafür aber auf Englisch? Kein Problem, dann wird eben sechs Wochen lang intensiv Englisch gelernt – und danach Mathe.

Was auf den ersten Blick großes Erstaunen auslöst, wenn nicht sogar Zweifel, ob das funktionieren kann, klappt ganz hervorragend: eine Schule, in der Schüler sich weitestgehend selbst organisieren. In der Lehrer, Eltern und Kinder gemeinsam den Lernstoff organisieren und damit viel zufriedener und letztlich erfolgreicher sind, als das in der traditionellen Schule so oft der Fall ist.

Ein Konzept wie das der Steve-Jobs-School ruht auf zwei Säulen: dem radikalen Hinterfragen von Konventionen und dem intelligenten Einsatz digitaler Mittel für das Lernen. Jedes Kind hat ein eigenes Tablet, auf dem es nicht nur täglich seinen eigenen Stundenplan zusammenstellt, sondern mit dem es auch Hausaufgaben erledigen, recherchieren, Vokabeln lernen oder Lernspiele machen kann. Und auch Freizeiten und Ferien lassen sich mit dem Tablet mühelos eintragen und absprechen.

 ZU JEDER FRAGE VIDEOS

Das Tablet ist Dreh- und Angelpunkt für die Organisation der Schulinfrastruktur und vielseitig im Unterricht einsetzbar. Erdkunde mit Hilfe des Tablets? Kein Problem. Ein Flugzeug am Himmel wird auf einmal zum Lernanlass, weil sich mit dem Gerät im Internet herausfinden lässt, woher es kommt und wohin es fliegt.

YouTube ist wohl zu einer der größten „Lernplattformen“ weltweit geworden. Probleme im Haushalt, handwerkliche Fragen, komplexe gesellschaftliche Herausforderungen kompakt dargestellt – die Webseite bietet zu fast jeder nur erdenklichen Frage gleich mehrere Videos: lernen wann und wo ich will. Und so oft ich will, denn das Video kann ich jederzeit anhalten und von vorne starten. Im analogen Unterricht ist das nicht möglich.

Für viele Schüler in Deutschland, die nicht so schnell mitkommen, wäre das ein Traum. Meist muss aber noch die analoge Nachhilfe herhalten. Auch da kann die Digitalisierung unterstützen. Eines der bislang wenigen deutschen Erfolgsbeispiele setzt genau hier an: das Berliner Start-up Sofatutor produziert kurze, prägnante Online-Lernvideos zu Schulinhalten. Gegen geringe Gebühr bekommt jeder, der möchte, so Zugang zu einer digitalen Bibliothek, die nach didaktischen Standards aufgebaut ist.

Das amerikanische Pendant Khan Academy geht noch einen Schritt weiter. Algorithmen, die den Lernvideos hinterlegt sind, merken, welche Aufgaben einem leicht fallen und welche nicht, und macht dementsprechend Vorschläge für den weiteren Lernweg. Das erhöht merklich den Lernerfolg.

Die Digitalisierung versöhnt dabei zwei scheinbar unvereinbare Aspekte: individuell zugeschnittenes Lernmaterial und gleichzeitig die massenhafte, raum- und zeitunabhängige Verfügbarkeit des Materials. Damit hat eines der fundamentalen Prinzipien rund um das Lernen ausgedient: für alle dieselbe Übung zur selben Zeit am selben Ort.

Längst gibt es Lernspiele, die sich ad hoc an die Bedürfnisse der Nutzer anpassen, den Schwierigkeitsgrad langsam erhöhen, direktes Feedback geben und so sehr viel Motivation erzeugen können. Oft ist auch die Interaktion mit anderen Spielern möglich. Solche Spielprinzipien lassen sich auch auf Lernsituationen übertragen und können da – richtig angewendet – auch trockenen Lernstoff gut vermitteln und Menschen ansprechen, deren Lernerfahrungen im traditionellen System vorrangig frustrierend und demotivierend waren.

Das Rad muss eben nicht immer wieder neu erfunden werden. Und auch nicht gedruckt. Hier wird es richtig spannend: So wie die industrielle Revolution die Gesellschaft grundlegend verändert hat, so verändert auch die digitale Revolution alle Lebensbereiche. Wenn bisher benachteiligte Menschen Zugang zu guter und bezahlbarer Bildung haben, dann könnte Humboldts großes Ziel, „passende Bildung für alle“, globale Wirklichkeit werden. Und zu einer durchlässigeren und somit gerechteren Gesellschaft führen.

Natürlich gibt es auch Schattenseiten: Viele der digitalen Lernangebote basieren auf Big Data, also der Auswertung großer Datenmengen. Das Prinzip ist dasselbe, das angewendet wird, wenn online personalisierte Werbung erscheint. Gerade beim Lernen ist das nicht unproblematisch. Denkbar wäre ein Missbrauch persönlicher Daten, oder dass Schulempfehlungen künftig von Algorithmen berechnet werden. Da bestünde die Gefahr, dass Menschen abgestempelt werden. Das darf nicht passieren. Insofern: ein kritischer Blick auf digitales Lernen ist verständlich und berechtigt. Klar ist aber auch: Die Digitalisierung ist keine Modeerscheinung, sie wird nicht mehr verschwinden. Es geht also weit weniger um ein Ob als um ein Wie: Was brauchen wir, um einen sicheren Umgang mit Daten zu gewährleisten? Welche Ansätze wollen wir wie nutzen? Was bedeutet das für den Unterricht, die Rolle des Lehrers und des Lernenden?

REIBUNG PROGRAMMIERT

Digitales Lernen ist weit mehr als eine neue Methode, die man neben anderen im Unterricht einsetzt. Dahinter steht ein Traum: Passendes Lernen für jeden zu ermöglichen, egal in welcher Situation und mit welcher Ausgangslage. Das erfordert ein Umdenken und Hinterfragen der eingefahrenen Rollen, in denen Lehrende vor allem Wissensvermittler sind und Schüler oft noch in erster Linie passive Rezipienten.

In einer digitalen Welt wird der Lehrende zum Lernbegleiter und -berater, der so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich unterstützt, als Gesprächspartner zur Verfügung steht, Lernmethoden vermittelt und zum Lernen anleitet und motiviert. Der Lernende wird verantwortlich für seinen eigenen Lernprozess, kann ihn bewusst steuern und organisieren. Lernen wird dadurch sicher auch für viele interessanter, die sich im klassischen Unterricht fremdbestimmt fühlen.

Das gilt nicht nur für Lernende. Auch Lehrende bekommen so den Freiraum, sich mit ihren Schülern befassen zu können, weil sie sich bei der Aufbereitung von Inhalten auf digitale Unterstützung verlassen können.

Dass das alles nicht reibungslos laufen kann, ist klar. Zu groß sind die Umwälzungen. Das Potenzial des digitalen Lernens können wir nur ausschöpfen, wenn wir unser Verständnis von Lernen und Lehren hinterfragen und auch liebgewonnene Muster verabschieden, wo sie hinderlich geworden sind.

Dabei geht es nicht darum, jetzt alles zu digitalisieren. Den Lehrer zu ersetzen ist nicht zielführend, und Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Es kommt drauf an, sie in den Dienst einer besseren Pädagogik zu stellen.


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Julia Behrens
Dr. Julia Behrens ist Projektmanagerin bei der Bertelsmann Stiftung. Die Pädagogin befasst sich mit den Themen lebenslanges Lernen, Digitalisierung sowie gesellschaftliche Teilhabe und verantwortet den Monitor Digitale Bildung. Das Projekt geht der Frage nach, wie und wo digitales Lernen für unterschiedliche Gruppen sinnvoll eingesetzt werden kann. www.bertelsmann-stiftung.de