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Schulbücher – Opfer der Coronakrise?
Die Verlage für klassische Lehr- und Lernmittel bekommen staatliche Konkurrenz. Die Pandemie hat zwei große Online-Plattformen geboren, bei denen sich Lehrer digitale Lernmaterialien herunterladen können.
Vor ein paar Wochen roch es noch mal so richtig nach Ledereinband, langen Reihen schwarz-roter Buchrücken und gepflegter Conversation. Nordrhein-Westfalen kaufte den Brockhaus für seine Schulen. Na gut, nicht die 24-bändige Enzyklopädie, die ist schon seit 2014 Geschichte. Nein, das Land legte 2,6 Millionen Euro für den Nachfolger „Brockhaus Online“ hin, ein digitales Lernangebot, heute in schwedischer Hand. Der Kauf dieser drei Jahre gültigen Brockhaus-Lizenz löste Wehmut aus – und Kopfschütteln. Zu Recht fragten viele, warum ein Bundesland Millionen für Brockhaus bezahlt, wo doch deutsche Schüler und Lehrer seit Kurzem digitale Arbeitsblätter, Erklärvideos, Quiz und vielerlei andere Lernmaterialien bei zwei offiziellen Online-Plattformen herunterladen können – kostenlos.
Doppel-Moppel und Konkurrenz
Während das Coronavirus im März 2020 Schulen schloss, eröffnete die Bundesregierung eilig „WirLernenOnline“, eine Plattform, auf der es vor allem „Open Educational Resources“ gibt. Das sind – so die Idee – lizenzfreie Lernmaterialien, die Lehrer für Lehrer herstellen. Ein halbes Jahr später wurde auch die Kultusministerkonferenz tätig und schaltete die Plattform „Mundo“ frei. Der Name ist Programm, Mundo oder zu Deutsch „die Welt“ soll die digitale Kleinstaaterei in Deutschlands Bildung beenden. Im Idealfall kann eine Lehrerin aus Düsseldorf dann zu mundo.schule surfen, von dort ins bayerische Lernportal „Mebis“ wechseln, die Links zu Lernvideos des bekannten Mathematiklehrers Sebastian Schmidt kopieren oder auch in der Brandenburger „Schulcloud“ nach Lehrmaterialien stöbern. Seit April soll Mundo nach und nach alle deutschen Bildungsserver unter einem virtuellen Dach vereinen. Bezahlt werden die beiden neuen Lern-Plattformen von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek – obwohl Mundo und WirLernenOnline exakt dasselbe sein wollen, nämlich zentrale Anlaufstellen für digitale Bildungsmedien, die für Transparenz sorgen. Leider sind beide Plattformen aber noch genauso unübersichtlich wie unbekannt.
Während allenthalben noch über DigitalPakt, Homeschooling und Videokonferenzen gestritten wird, bricht eine neue Welt des Lernens an. Ob sie schön wird, muss sich erst zeigen. Vorbei jedenfalls scheint die Zeit des guten alten Schulbuchs. Die Lesefibel, der Kleine Stowasser oder der Diercke-Weltatlas waren Synonyme von Schule. Einer alten Schule, bei der ein Kanon an Wissen topdown in die Schüler getrichtert wurde. Neue Schule soll ganz anders aussehen, mit Wissensproduktion bottom-up. Da werden Schüler mit Tablets bewaffnet in ein Museum ausschwärmen, um Fotos zu machen, Besucher zu interviewen, Texte zu entwerfen, um dann mit einem „Book Creator“ ein digitales Schulbuch zu bauen. Ein Schulbuch, das allerdings bei jedem Schüler der Klasse anders aussehen kann. Denn ein digitales Buch erlaubt, was Gutenbergs gebundenes Druckwerk nicht überlebt, geschweige denn gekonnt hätte: dass man Seiten tauscht, mittendrin ein Video abspielt und mal eben der Omi im Schwarzwald ein Exemplar mailt. Das geht heute schon. Apps zur digitalen Buchmacherei gibt es Dutzende. Sie erinnern allerdings noch sehr an altes Lernen und die Zeit, als das Schulbuch das gebundene Derivat des Lehrplans war. Als Lernort der Zukunft gilt der sogenannte Makerspace. Das kann ein Atelier voller 3-D-Drucker, Roboter und VR-Brillen sein. Oder ein Video- und Tonstudio mit Greenscreen, wo Schüler Filme schneiden und Probleme lösen. Wenn es gut läuft, wie an der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe geschehen, fordern die Schüler dann noch die Einrichtung eines „Reading-Space“, einer Bibliothek. Aber eher als kontemplativen Ort denn als Lernraum alter Schule.
Einstweilen leben wir in einer Zwischenwelt, die sichtbar werden wird, wenn die Schüler nach Corona in ihre hoffentlich deutlich digitaleren Schulen zurückkehren. Diese Welt ist geprägt von einem Übergang, den Schulbuchverleger David Klett im Interview auf Seite 58 beschreibt. „Ich sehe diese Form von Verdrängung nicht“, verneint er den Tod des Schulbuchs. „Um das Schulbuch herum entsteht wahnsinnig viel aktuelles Material – von den Verlagen selbst, aber auch von anderen Anbietern.“ Dr. David Klett ist Urenkel des legendären Schulbuchverlegers Ernst Klett (1863–1947). Tatsächlich ist neben dem Schulbuch ein ganzes Ökosystem neuer Bildungsmedien gewachsen, eher gewuchert. Das Schulbuch ist – noch – das Leitmedium, weil es den Lehrplan abbildet. David Klett, heute im Vorstand des Ernst Klett Verlags, nennt es „den roten Faden der kurstragenden Lehrwerke“.
60-Sekunden-Nachhilfe auf TikTok
Freilich weiß jede Mutter und jeder Vater, wo Schüler ihren roten Faden zwei Tage vor einer Klausur suchen: auf YouTube in einem der Abertausenden, ach, Millionen Lehr- und Erklärvideos. Diese Videos gibt es inzwischen auch qualitätsgesichert. Zum Beispiel bei „Sofatutor“, der größten didaktischen Sammlung von Lernfilmen. 11.000 durchgestylte Streifen hat Gründer Stephan Bayer im seinen Berlin-Friedrichshainer Hollywood-Studios des Lehrfilms produziert. Dort arbeiten 160 Leute im 5. Stock eines Nebengebäudes im Hinterhof der Grünberger Straße. Bayers eiserne Prinzipien für Lehrfilme: nicht länger als acht Minuten, sehr gut erklärt und, am wichtigsten, keinen Fußbreit vom Lehrplan entfernt.
Andere Schüler suchen lieber bei „Simpleclub“, den Ex-YouTubern Nico Schork und Alexander Giesecke, deren Videos jünger und freakiger daherkommen. Oder bei Daniel Jung, dem Mathe-Tuber der ersten Stunde, der über eine halbe Million Follower hat und inzwischen Lernvideos auf der momentanen Lieblings-App der Jugend postet, auf TikTok. 60 Sekunden dauert dort ein Gig. Das ist nicht mehr vergleichbar mit der Mutter aller Lehrfilme, „Pauk mit: Latein“, wo Rolf Illig in den 1970ern trocken erklärte, dass Lernen Mühe mache und Konzentration verlange. Die ARD hat Illigs Paukvideos in der Pandemie ernsthaft wieder in die Mediathek gestellt. Aber Schüler kommen nicht mehr zum Wissen, das Wissen muss dorthin gehen, wo die Teens sind: in die sozialen Medien. Dabei verändert sich das Wissen. The medium is the message.
Längst ist nicht mehr allein das Video der neue Star beim Lernen. Wissen und Kompetenzen werden heute auf den verschiedensten medialen Kanälen bereitgestellt. Beim Matheportal „Bettermarks“ als Aufgabenpool. Bei der Arbeitsblatt-Vorlage „Tutory“ als Blaupause für selbst gemachte digitale Dateien. Bei Max Maendlers „Lehrermarktplatz“ als eine Sammlung von 130.000 Unterrichtsskizzen, Arbeitsblättern, interaktiven PDFs, PowerPoints und so fort. Bei „GoStudent“ von Felix Ohswald als Videokonferenz mit KI-begleiteten Nachhilfelehrern. Wie selbstbewusst die neuen Inhalteanbieter sind, sieht man an Ohswald. Der Österreicher hat der deutschen Bundesregierung gerade angeboten, die coronabedingten Lernlücken von Schülern mit fünf Millionen Stunden zum Selbstkostenpreis auf GoStudent zu schließen. So ist die Lage: Ein 26-Jähriger adressiert nationale Nachhilfeprogramme an die französische und die deutsche Regierung – weil die zwar das Geld haben, es aber nicht organisiert bekommen.
Lehrer Lämpel als Multimillionär
Vielleicht ist Max Maendlers Start-up das beste Beispiel, wie attraktiv neue Bildungsmedien sein können. Bei Lehrermarktplatz laden sich Lehrer Monat für Monat eine Million Medien herunter. Aber sie laden dort eben auch hoch, um 10.000 wächst die Sammlung jeden Monat. „Wir beobachten, dass immer mehr Lehrerinnen und Lehrer Unterrichtsmaterial auf unserer Plattform mit anderen teilen“, berichtet Maendler. Und obwohl jedes einzelne Medium nur im Cent- bis Eurobereich kostet, lohnt sich das. Für die Lehrer, deren Bestseller sechsstellige Beträge über Lehrermarktplatz einbringen. Und für das Start-up selbst. 2021 erwartet Maendler einen Umsatz in zweistelliger Millionenhöhe, 50 Leute arbeiten inzwischen bei ihm. Schulbücher, sagt Maendler, seien eine aussterbende Spezies. „Bücher sträuben sich geradezu gegen individuelle Lerngeschwindigkeiten. Schulbücher sind ein Relikt aus einem früheren Jahrhundert.“
So reden sie auch bei den „OER-Freaks“, in der Community der Open Educational Resources. Seit Anfang der 2010er Jahre hat die Bundesregierung viele Millionen Euro in die Szene und in diese Idee gepumpt: remix and share. Es gibt viele, die bei OER-Camps und auf Twitter darüber reden, Lernmaterialien neu zu mischen und zu teilen. Nur beim Hochladen hapert es – jedenfalls beim Staat. Wer das zum Beispiel beim Landesbildungsserver Baden-Württemberg tun will, wird zunächst ermahnt, dass es „bildungsplan- bzw. lehrplankonforme Lern- und Unterrichtsideen bzw. -module“ sein müssen. Man wird gebeten, eine Mail zu schreiben. Auch eine Faxnummer ziert die Seite. Telefonisch ist dort niemand erreichbar.
Es ist dieselbe Melodie, die bei den DigitalPakten seit Corona gespielt wird: Der Bund stellt Milliarden fürs Digitale bereit, insgesamt 6,5 Milliarden Euro. Aber die Länder sind gar nicht in der Lage, das viele Geld abzurufen. Deswegen gibt es so viele Bildungsunternehmer. Und deswegen überlebt das Schulbuch bestimmt noch ein bisschen.
Christian Füller ist Journalist für Bildung und EdTech, die neue digitale Lernwelt von Schulclouds, Makerspaces sowie hybridem Unterricht in Videkonferenzen und Schule.