Königsberg
Governor in den Weiten Russlands
Seit der Zeitenwende 1989 lebt und arbeitet Stephan Stein in Russland. Für die Krise in den deutsch-russischen Beziehungen empfiehlt er eine rotarische Medikation: mehr Toleranz
Stephan Stein zu treffen ist in diesen Wochen etwas schwierig. Während seine Governorkollegen in den anderen Teilen der Welt ihre Clubbesuche lange abgehakt haben, ist er gerade beim letzten Club seines Distrikts zu Gast. Zwar hat der nur 50 Clubs, die aber liegen weit auseinander. Wir befinden uns im Distrikt 2220 (Russland-West), und der reicht vom Polarkreis bis zum Schwarzen Meer, von Königsberg (Kaliningrad) an der Ostsee bis Jekaterinburg am Ural. „Ein Governor aus England erzählte mir, dass er seine Clubs mit dem Fahrrad abfahren kann“, sagt Stein und lacht. „Das ist bei mir etwas anders. Ich brauche dazu ein Flugzeug.“
Auch unser Gespräch kann nur über Skype stattfinden: Stein sitzt in Nischni Nowgorod, rund 400 Kilometer östlich von Moskau, der Reporter in Hamburg und hört eine Lebensgeschichte, die Stoff für einen ganzen Roman bietet: von einem jungen Frankfurter mit Ambitionen als Musiker, der lange als Manager einer Rockband durch die Welt tourt, dann auf Tourismus umsattelt und sich 1989 unversehens in Russland wiederfindet, um später mit der Handelskammer Hamburg die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern zu entwickeln.
Manager von Tangerine Dream
Zunächst sah alles nach einer Karriere im Musikbusiness aus. Mit Klarinette und Saxofon hatte sich Stein in Jazzclubs sein musikwissenschaftliches Studium an der Technischen Universität Berlin finanziert und wurde quasi aus dem Hörsaal heraus von der Band Tangerine Dream als Manager engagiert. Die deutschen Elektro-Rockmusiker waren Mitte der 1970er Jahre auf dem Weg zur Weltspitze und brauchten ein professionelles Umfeld. Die verlockende Chance erwies sich jedoch auf Dauer als nervenaufreibendes Leben „on the road“, von dem Stein nach sechs Jahren genug hatte. Da kam 1981 ein Angebot des Reisekonzerns TUI gerade recht, den Einkauf Osteuropa zu übernehmen. Jetzt entwickelte er im gesamten Ostblock Ferienangebote für deutsche Urlauber. Als er im Moskauer Bolschoi-Theater seiner zukünftigen Frau über den Weg lief, war ihm schnell klar, dass Russland auf Dauer seine Heimat werden würde. Im Frühjahr 1989 zog er mit Sack und Pack an die Moskwa. Und dann kam die Wende.
Russland wird zum Traumziel
„Plötzlich strömten die Touristen nach Russland – für rund 70.000 haben wir in den ersten beiden Jahren Kurzreisen organisiert. Nach dem Putsch von 1991 versiegte diese Nachfrage aber schnell wieder“, erinnert sich der 69-Jährige. Nun standen die Wirtschaftsreisenden Schlange, die in Russland unternehmerische Chancen ausloten wollten und für die Stein Ausstellungen und Messen organisierte. Auch ein zweiter Geschäftszweig erwies sich als lukrativ: Charterreisen für russische Touristen zu Ferienzielen in Westeuropa. Mit diesen Erfahrungen im Rücken war Stein 1996 erste Wahl, als die deutschen Auslandshandelskammern und die Handelskammer Hamburg einen neuen Leiter für die Büros in St. Petersburg und Köningsberg suchten. Fortan kümmerte er sich quasi offiziell um die wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Aufbau gutnachbarlicher Beziehungen. Seit seinem Ruhestand 2011 führt er das Kammerbüro in Königsberg ehrenamtlich weiter. Schon 1998 hatte ihn der RC St. Petersburg-Newa aufgenommen. Nur drei Jahre später gründete Stein als Pendler zwischen beiden Städten den RC Kaliningrad, in den er nach dem Ruhestand wechselte.
„Rotarys Spielraum in Russland ist deutlich enger als im Westen“, erläutert der Governor. „Das liegt vor allem an den politischen Rahmenbedingungen, etwa dem generellen Spionageverdacht gegenüber Nichtregierungsorganisationen mit Kontakten ins (westliche) Ausland.“ Ein Geldtransfer der Rotary Foundation für ein Global Grant könnte für einen Club üble Folgen haben. Als Notlösung werde das Geld direkt an den Empfänger geleitet, im aktuellen Grant-Projekt der Partnerclubs Kaliningrad und Berlin-Schloss Köpenick an ein Heim für schwerbehinderte Kinder.
„Andererseits sind die Russen zwar interessiert an internationalen Kontakten, sprechen aber nur selten Englisch und stehen als junge Clubs rotarisch noch am Anfang“, sagt Stein. Hier sieht er noch viel Arbeit auf sich zukommen. Der Länderausschuss liegt ihm sehr am Herzen, auch treibt ihn die Sorge um das deutsch-russische Verhältnis um. „Wir sollten entspannter miteinander umgehen. Die Russen mögen es nicht, ständig darüber belehrt zu werden, was sie zu tun haben“, umreißt er die Stimmung in seiner Wahlheimat. „Dabei wünschen sie sich Kontakte. Rotary könnte in diesem Bereich als Schrittmacher wirken, denn viele russische Clubs suchen Partnerclubs in Deutschland.“
Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.
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