Standpunkt
Familienplanung enttabuisieren
Die Weltbevölkerung wächst nahezu unbegrenzt – zum Schaden aller. Freiwillige Aktionen scheitern an Ideologie und Ignoranz.
Allein in dem kurzen Augenblick, den Sie brauchen, um diesen Satz zu überfliegen, kommen acht Kinder zur Welt. Wenn Sie diesen Artikel bis zum Schluss gelesen haben, wird die Weltbevölkerung um rund 700 Menschen angewachsen sein. Das tut sie freilich auch, wenn Sie den Beitrag jetzt aus den Händen legen. Lesen Sie also ruhig weiter – und wundern Sie sich nicht, wenn Sie am Ende eine gewisse Unruhe beschleicht. Denn die Weltbevölkerung wächst nahezu ungebremst – auf geschätzte 9,7 Milliarden Menschen im Jahr 2050. Bis zum Jahr 2100 rechnen Demografen mit einem Anstieg auf 11,2 Milliarden Menschen, es könnten sogar 13,3 Milliarden werden. Allein für Afrika wird bis dahin eine Vervierfachung der Bevölkerungszahl auf 4,4 Milliarden erwartet.
Hinzu kommt, dass durch den Klimawandel gerade in den bevölkerungsreichsten Gegenden die bewohnbaren Flächen schrumpfen und die Menschen aus diesen Gebieten fliehen. Manche Demografen halten die vorliegenden mittleren Schätzungen des Weltbevölkerungswachstums für zu optimistisch. Ich selbst höre seit Jahren in Nigeria, dass die tatsächliche Bevölkerungszahl höher ist als die von den Behörden veröffentlichte; unlängst sprach ein dortiger Wissenschaftler von derzeit 300 Millionen Menschen – die offizielle Zahl lautet 180 Millionen. In vielen Ländern Afrikas gab es in den zurückliegenden zehn Jahren keine Volkszählung. Die vom UN Populations Fund und dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung herausgegebene Studie „Folgenreiche Versäumnisse“ beschreibt als „die Herausforderung des Jahrhunderts“, dass rasantes Bevölkerungswachstum die Möglichkeiten von Staaten begrenzt, höhere Pro-Kopf-Einkommen zu erzielen, und es schwieriger macht, den Zugang zu Gesundheit, Bildung, Infrastruktur zu erhalten und auszubauen. Alle Anstrengungen, den Lebensstandard in den Entwicklungsländen anzuheben, laufen ins Leere, wenn die Bevölkerungszahlen im prognostizierten Maß steigen.
ZUM HIMMEL SCHREIENDE UNGERECHTIGKEIT
Schon 1994 hat die Weltgemeinschaft auf der Bevölkerungskonferenz in Kairo ein „Program of Action“ beschlossen, wonach allen Menschen Zugang zu freiwilliger Familienplanung zu gewähren sei, damit die Bevölkerungsdynamik nicht aus dem Ruder laufe. Warum sie dennoch ein Stiefkind der Entwicklungspolitik geblieben ist, hat der Demograf Thomas Buettner erforscht, früher stellvertretender Direktor der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen. Er nennt als Gründe ideologische Vorbehalte und Tabus hinsichtlich Sexualität, Abtreibung und Frauenrechten sowie nicht ausreichende institutionelle Unterstützung im UN-System, auch Ignoranz. Ist es nicht endlich an der Zeit, mit Tabus zu brechen und den Menschen in Afrika und Asien Zugang zu Familienplanung mittels Aufklärung und Kontrazeptiva zu verschaffen? Gehört es nicht zur Fairness, diese Möglichkeiten auch Menschen in Entwicklungsgebieten zur Verfügung zu stellen? Auf keinem anderen Gebiet ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß, eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit.
Bei Rotary gilt Familienplanung als förderungswürdige Aktivität im Schwerpunkbereich „Gesundheit für Mutter und Kind“. Die Rotarian Action Group for Population & Development (RFPD) initiierte mit einem Global Grant ein Pilotprojekt zur Familienplanung in Pakistan, das erfolgreich verläuft und in Äthiopien repliziert wird.
INITIATIVEN DER ROTARY CLUBS
Erst 1998 hat der Council on Legislation (CoL) mit überwältigender Mehrheit für solche Projekte gestimmt, zwei vorausgegangene CoLs hatten sie noch abgelehnt. Nach der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 mit Informationen dazu, die RFPD den CoL-Delegierten zukommen ließ, zeigten sie sich aufgeschlossen für das Anliegen. Kurz nach der Kairo-Konferenz begann RFPD auf Ersuchen nigerianischer Rotary Clubs, Familienplanungsprojekte zu initiieren, die sukzessive erweitert wurden, auch um das Training von Anbietern der Familienplanungsdienste. In 20 Jahren hatten die Projektverantwortlichen nicht ein einziges Mal Schwierigkeiten bekommen, wenn sie das Thema Familienplanung Gemeindevorstehern und religiösen Führern vorstellten, ob Muslimen, Christen oder Menschen, die afrikanischen Religionen angehören. Im Gegenteil, sie zeigten sich dankbar für diese Hilfe. Der Effekt: Mit Familienplanung können 30 Prozent der Sterbefälle von Müttern verhindert werden, bei sinkender Kindersterblichkeit wollen Mütter weniger Nachkommen.
ENTWICKELTE STAATEN GEFÄHRDET
Familienplanung ist auch wirtschaftlich sinnvoll. Jedem investierten Dollar sollen nach Meinung von Experten 120 Dollar an Einsparungen gegenüberstehen. Wenn die Nachfrage nach Verhütungsmitteln in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen gedeckt würde, könnten pro Jahr 5,7 Milliarden Dollar an Gesundheitsausgaben für Mütter und Neugeborene eingespart werden. Würden die Investitionen in reproduktive Gesundheit und Mütter- und Säuglingsgesundheit um fünf Dollar pro Kopf und Jahr erhöht, könnte bis zum Jahr 2035 ein bis zu neunfacher ökonomischer und sozialer Nutzen erzielt werden. Wöchentlich veröffentlichen Medien in den Entwicklungsländern Hilferufe zur Familienplanung. Diese Appelle weiterhin nicht wahrzunehmen gefährdet auch die Zukunft der entwickelten Staaten. Rotary kann das Tabu brechen, Projekte zur Familienplanung durchführen und andere Organisationen einladen mitzumachen.
So können Länder in Afrika mit einer „demografischen Dividende“ sich selbst helfen: Dabei kommen Investitionen, die bisher in die Versorgung der wachsenden Bevölkerung fließen, der Infrastruktur, der Bildung und dem Gesundheitswesen zugute. Es gilt, eine globale Allianz anzustoßen, die das Problem des Bevölkerungswachstums lösen kann.
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