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Als den Glocken die Stunde schlug

Titelthema - Als den Glocken die Stunde schlug
Glockenfriedhof Hamburg, 1947 Rund 15.000 Glocken sind ihrer Einschmelzung entkommen. © vintage germany/scheerer

Der Zweite Weltkrieg hat nicht nur zahlreiche Menschen entwurzelt oder zugrunde gehen lassen, sondern auch Kirchenglocken. Für die Schicksale, die ihnen widerfuhren, ist das Geläut des Königsberger Doms ein anschauliches Beispiel.

Matthias Nuding01.12.2020

In der Nacht vom 29. auf den 30. August 1944 flogen britische Bomber einen vernichtenden Angriff auf Königsberg. Die ostpreußische Metropole hatte bis dahin wegen ihrer Randlage kaum unter dem Luftkrieg gelitten, der in anderen Teilen des Reiches längst Alltag war. Nun aber sank innerhalb kurzer Zeit der historische Stadtkern in Trümmer, Tausende kamen in dem Inferno ums Leben. Dem Feuersturm zum Opfer fiel auch der altehrwürdige Dom auf der Kneiphof-Insel. Obwohl das Gotteshaus ausbrannte, wurden drei seiner fünf Glocken nicht in Mitleidenschaft gezogen. Sie waren schon lange zuvor abtransportiert worden. Doch nicht, um sie in Sicherheit zu bringen. Ganz im Gegenteil: Sie sollten zerstört werden. Nicht durch Feindeinwirkung, sondern auf Veranlassung der Deutschen selbst.

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatten die Denkmalbehörden des Reiches die im deutschen Herrschaftsbereich verfügbaren Bronzeglocken aufgelistet und in Wertkategorien eingeteilt. Der schrittweise Zugriff auf die meist gewichtigen Geläute sollte dazu beitragen, die Versorgung der Kriegswirtschaft mit Buntmetall zu sichern. Schon während des Ersten Weltkriegs hatte man auf solche Ressourcen zurückgegriffen, aber in einem geringeren Ausmaß.

Abgehängt und aussortiert

Die Verordnung „Zur Durchführung des Vierjahresplanes über die Erfassung von Nichteisenmetallen“ vom 15. März 1940 griff diese Strategie wieder auf, nur ungleich radikaler. Man schätzt heute, dass im Reich und in besetzten Gebieten über 90.000 Glocken erfasst wurden, fast alle in Kirchen. Mehr als drei Viertel von ihnen, zumeist Glocken jüngeren Alters, stufte man dabei als künstlerisch und historisch unbedeutend ein. Sie wurden von den Türmen geholt und ohne viel Federlesens eingeschmolzen.

In einem zweiten Schritt kamen 1942/43 wertvolle klassifizierte Glocken an die Reihe, darunter auch drei aus dem Dom von Königsberg. Diese Tranche von über 16.000 Stück wurde nicht sofort verhüttet, sondern erst einmal auf zentralen Sammelplätzen zusammengeführt. Deren größter lag auf dem Gelände des Hamburger Hafens. Auf diesem „Glockenfriedhof“ bot sich ein beinahe surrealer Anblick: So weit das Auge reichte, standen Glocken verschiedener Größe, Hunderte von Jahren alt und mit historischen Inschriften und Bildschmuck versehen. Rührige Denkmalpfleger nutzten die Wartezeit bis zum drohenden Abtransport, um sie wenigstens in Wort und Bild zu erfassen. Im Rückblick ein Glücksfall, denn so entstanden zehntausende Karteikarten und Fotografien. Sie sind nicht selten das Einzige, was von den Glocken erhalten blieb.

Nur relativ wenige Glocken, deren dauerhafte Erhaltung wegen ihres hohen geschichtlichen oder künstlerischen Wertes befürwortet wurde (etwa fünf Prozent), mussten nicht abgegeben werden. Dies war paradoxerweise nicht immer von Vorteil, denn manche fiel auf dem heimatlichen Turm erst recht dem Kriegsgeschehen zum Opfer. Im Geläut des Königsberger Doms stufte man die altehrwürdige Marienglocke als erhaltenswert ein. Kein Wunder: Als sie 1492 mit einem Durchmesser von zwei Metern und einem Gewicht von über vier Tonnen gegossen worden war, existierte in weitem Umkreis keine Glocke vergleichbarer Größe. Doch ausgerechnet sie ging verloren.

Auch die Glocken auf den Sammelplätzen waren gefährdet. Ihnen drohte nicht nur die Einschmelzung, sondern auch alliierte Angriffe. Und noch nach Kriegsende hatten Räuber es auf das begehrte Metall abgesehen. Allen Widrigkeiten zum Trotz überstand aber eine bedeutende Anzahl die unruhige Zeit. Bereits 1946 konstituierte sich ein Ausschuss, der die erhalten gebliebenen Glocken an ihre Ursprungsorte zurückführen sollte. Dieses Unterfangen zog sich angesichts der knappen Transportkapazitäten und anderer Hemmnisse über Jahre hin.

Vom Provisorium zur Dauerlösung

Dass etwa 1300 Glocken letztlich nicht an ihre Herkunftsorte zurückkehrten, lag nicht an beeinträchtigten Verkehrswegen. Vielmehr stammten sie aus den Gebieten, deren weitere Zugehörigkeit zu Deutschland in Frage stand: Ost- und Westpreußen, Pommern, Ober- und Niederschlesien. Deshalb verteilte man sie vorläufig als Leihgaben auf Gemeinden in den drei westlichen Besatzungszonen. Doch was als Provisorium gedacht war, verstetigte sich – bis heute, ein Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende.

Die 126 cm hohe und etwa 1,2 Tonnen schwere Königsberger „Silberglocke“ aus dem Jahr 1736 hat es auf diese Weise – zusammen mit zwei Breslauer Glocken – nach Schloss Burg bei Solingen verschlagen. Der im 19. Jahrhundert rekonstruierte Adelssitz beherbergt heute die Gedenkstätte des Deutschen Ostens. Inschriften auf dem Klangkörper überliefern, von wem, wann und wo die Glocke hergestellt wurde. Ihr Name rührt nicht etwa daher, dass Meister Andreas Dorling sie aus Silber gegossen hätte; vielmehr soll die Bezeichnung auf ihren hellen Klang anspielen. Einen anderen, heute verlorenen Teil ihres Geläuts nannten die Königsberger übrigens „Goldglocke“.

Die romanische Kirche der früheren Benediktinerabtei Bursfelde (in Hann. Münden) beherbergt die alte Stundenglocke des Königsberger Doms. Jochim Gruttemaker goss das etwa 100 Kilogramm schwere Stück im Jahr 1570. Nach Bursfelde gelangte es auf Initiative des dortigen Abtes, der Jahrzehnte zuvor an der Universität Königsberg gelehrt hatte. Eine weitere Glocke aus dem Domgeläut tut heute bei Cuxhaven ihren Dienst.

Dass wir uns heute relativ unkompliziert an einer zentralen Stelle über diese Glocken informieren können, ist das Verdienst der Erfassungsarbeiten auf den Sammelplätzen. Das dabei entstandene Material bildete den Kern des Deutschen Glockenarchivs, das Mitte der 1960er Jahre aus Hamburg nach Nürnberg gelangte. Im Germanischen Nationalmuseum, wo die Kulturgeschichte des deutschen Sprachraums erforscht und präsentiert wird, ist das Glockenarchiv seither einer der am stärksten nachgefragten Archivbestände. Neben der Kartei mit den Beschreibungen und Fotos gehören zu ihm auch Kopien der Abnahmelisten und ein Verzeichnis, das Aufschluss über den Verbleib der Ost-Glocken geben kann.

Mahnerinnen für den Frieden

Das Material ist weit mehr als eine kampanologische Vermisstenkartei. Oft hilft es bei der Rekonstruktion der Geschichte einzelner Orte. Dabei zeigt sich etwa, dass manche Glocken nicht erst im Zweiten Weltkrieg auf erzwungene Reisen gegangen sind. Es birgt aber auch räumlich und sachlich übergreifendes Erkenntnispotenzial, beispielsweise Anhaltspunkte für Konjunkturzyklen in der frühen Neuzeit. Wer sich irgendwann eine aufwendig gestaltete Glocke leisten konnte, muss schließlich über entsprechende Geldmittel verfügt haben. Solche Indizien werfen willkommene Lichtstrahlen ins Dunkel quellenarmer Epochen.

Ein großer Teil der Anfragen, die im Archiv eingehen, betreffen gleichwohl die Gestaltung und vor allem den Verbleib von Glocken aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Absender sind oft Personen, die selbst keine tiefen Wurzeln in diesen Regionen haben. Als heutige Bewohner interessieren sie sich für die Vergangenheit der Städte und Dörfer vor jener Stunde null, in der ihre Eltern oder Großeltern sich dort niederließen. Manchem eröffnet sich so die Möglichkeit, die Glocke aus seinem Ort an ihrer heutigen Wirkungsstätte aufzusuchen und zu erleben. Diese Kontakte scheinen erfreulich konfliktarm zu verlaufen. Die Frage, wohin die Leihglocken nun am ehesten gehören, hat im vereinten Europa offenbar an Brisanz verloren.

In Deutschland gelten sie nach wie vor als Staatseigentum. Ihre Verbringung an den Herkunftsort ist daher nicht ohne weiteres möglich, selbst wenn die betroffenen Gemeinden einander einig sind. Dem Vernehmen nach sind in Einzelfällen zwar entsprechende Lösungen gefunden worden; gleichwohl werden die drei erhaltenen Glocken des Königsberger Doms vermutlich so schnell keine Reise mehr antreten müssen. Ebenso wie die vielen anderen Leihglocken auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik sind sie als Zeuginnen einer buchstäblich bewegten Geschichte auch stimmgewaltige Mahnerinnen für den Frieden.