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Titelthema

Auf der Suche nach sich selbst

Titelthema - Auf der Suche nach sich selbst
KFOR-Einsatz im Kosovo: Ein Erkundungshubschrauber überfliegt die Region um Prizren. © Jörg Gläscher

Als der Krieg 2006 nach Afghanistan zurückkehrte, musste die Bundeswehr plötzlich kämpfen. Aber wofür?

Sönke Neitzel01.04.2021

Das Land braucht eine Armee – so viel war selbst dem eingefleischten Zivilisten Konrad Adenauer klar. Für ihn war die Wiederbewaffnung einer der Hebel, mit denen es 1955 gelang, die Souveränität der Bundesrepublik zurückzuerhalten. Das Militär war außenpolitisch immer noch von großem Gewicht – an diesem Grundsatz hatte sich nichts geändert.

Innenpolitisch jedoch war alles anders. Nach Krieg, Tod und Zerstörung konnte man nicht einfach da weitermachen, wo man 1945 aufgehört hatte. Niemand konnte sagen, ob jene, die bis zur letzten Patrone für Hitler gekämpft hatten, auch der Republik loyal dienen würden. So schloss man eine Art Gesellschaftsvertrag: Soldaten gab es zwar wieder, aber sie wurden sorgsam eingehegt und sollten still und loyal den Dienst für die Republik versehen.

Die frühen Skandale der Bundeswehr resultierten auch daraus, dass sich Offiziere nicht immer daran hielten und es wagten, offen ihre Meinung zu sagen. Viele dachten die Bundeswehr nicht vom Frieden, sondern vom Krieg her, wollten eine möglichst effiziente Organisation aufbauen. Im Sinne einer militärischen Logik hatten sie Recht, doch darum ging es nicht. Die Bundeswehr war eben auch ein innenpolitisches Projekt. Die Armee musste mühsam lernen, Kompromisse zu machen, sowohl militärisch einigermaßen leistungsfähig zu erscheinen – sonst hätte sie kein außenpolitisches Gewicht gehabt – und es zugleich mit der Ausrichtung auf den Krieg nicht zu übertreiben, um innenpolitisch verträglich zu sein. Dazu dienten auch die Konzepte des Staatsbürgers in Uniform und der Inneren Führung. Sie sollten der Politik und der Gesellschaft zeigen, dass mit der Bundeswehr eine demokratische Musterarmee geschaffen worden war, zusammengehalten und motiviert vom Verfassungspatriotismus.

Trotz aller Schwierigkeiten, Widersprüche und heftiger Debatten hat die Bundeswehr im Kalten Krieg ihre Aufgabe erfüllt. Ihre Existenz wurde von der breiten Mehrheit zumindest akzeptiert. Zudem wurde sie sowohl vom Warschauer Pakt als auch von den Partnern in der Nato als eine leistungsfähige Armee wahrgenommen. Der britische Militärattaché in Bonn schrieb 1980 gar: „The Bundeswehr is in the top ranks of the West’s armed forces.“ Im Krieg werde sie „hard and effectively“ kämpfen. Angesichts der von den USA kritisch beäugten Ostpolitik oder der gesellschaftlichen Proteste gegen die Nachrüstung, sendete die Bundeswehr ein wichtiges Signal von Bündnistreue und Verlässlichkeit. Außenpolitisch war sie daher von zentraler Bedeutung. Zudem bot die Existenz und Effizienz der bundesdeutschen Streitkräfte überhaupt erst die Voraussetzung, die alliierten Truppen in der Bundesrepublik zu halten, sie gar bis an die innerdeutsche Grenze vorrücken zu lassen, um der Sowjetunion zu signalisieren, dass sie im Falle eines Angriffs gegen das westliche Bündnis insgesamt würde kämpfen müssen.

Die Aufgaben änderten sich

1990 war die Welt eine andere geworden. Der Kämpfer hatte scheinbar ausgedient. Gebraucht wurden nicht mehr Panzer und Artillerie, sondern Blauhelmsoldaten und Sanitäter. Zwar führte die Bundeswehr 1999 ihren ersten scharfen Einsatz durch, bekämpfte mit einem Dutzend Tornados serbische Luftabwehrstellungen und stellte gar zwei Brigaden für einen möglichen Landkrieg im Kosovo bereit. An der generellen Entwicklung änderte das aber nichts. Ein militärischer Konflikt in Europa schien auf absehbare Zeit ausgeschlossen, das Wort von der Friedensdividende machte die Runde, und angesichts klammer Kassen, nicht zuletzt aufgrund der hohen Kosten der Wiedervereinigung, mussten Prioritäten gesetzt werden.

2001/02 verabschiedete sich die Bundeswehr von der Landes- und Bündnisverteidigung und konzentrierte sich ganz auf sogenannte Out-of-Area-Einsätze. Mit der Afghanistan-Mission kam 2001 eine neue große Aufgabe hinzu, die nicht, wie eigentlich geplant, nach sechs Monaten abgeschlossen war. Aus politischen Gründen drängte Berlin darauf, stets der drittgrößte Truppensteller am Hindukusch zu sein. Vor Ort machten die Soldaten das, was sie schon in Bosnien und im Kosovo getan hatten: bewaffnete Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe leisten und darauf hoffen, dass alles gut wird. Das kam in der Öffentlichkeit gut an und reichte, um Deutschlands außenpolitisches Gewicht zu mehren. Endlich, so schien es, hatten sich Militär und Gesellschaft versöhnt.

Mehr denn je wurden die deutschen Streitkräfte vom Frieden her gedacht. Der Soldat als miles protector, Polizist, Streetworker und Streitschlichter, war in der Gesellschaft und zunehmend auch in der Bundeswehr selbst populär. Und auch die ewigen Debatten um die Vergangenheit schienen endlich beendet zu sein: In den 90er-Jahren traten jene konservativen Köpfe in Politik, Gesellschaft und Armee ab, die einst die militärischen Leistungen der Wehrmacht zum Vorbild erhoben hatten. Diese Traditionslinie war nach der seit 1995 breit diskutierten Ausstellung zu den „Verbrechen der Wehrmacht“ mehr denn je obsolet. Nach mehreren Skandalen um rechtsradikale Vorfälle wurden die Kasernen entrümpelt. Im Heer wurde 1999 ein neuer Leitfaden zur Tradition erlassen, in dem die Wehrmacht nur noch in homöopathischen Dosen vorkam.

Keine Antworten aus Berlin

Armee und Gesellschaft der Bundesrepublik waren sich in ihrer Auffassung vom Zweck der Streitkräfte nie einiger als zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Doch dann passierte, was nach dem Willen der Politik nie hätte passieren dürfen: Die Bundeswehr musste kämpfen. Nach Jahren der Ruhe kehrte der Krieg 2006 in den Norden Afghanistans zurück, wo Deutschland die Verantwortung trug. Rückzug war keine Option, der außenpolitische Schaden wäre zu groß gewesen. Wie auf die neue Lage angemessen zu reagieren war, wusste niemand zu sagen. Also steckte das politische Berlin den Kopf in den Sand. Regierung und Parlament wichen den drängenden Fragen der Soldaten aus: Wofür kämpfen wir? Gegen wen kämpfen wir? Dürfen wir überhaupt kämpfen? Und wie sollen wir dauerhaft einen stabilen afghanischen Staat aufbauen? Kanzlerin, Außenminister und Verteidigungsminister, aber auch der Generalinspekteur wollten keine Antworten geben, hielten die Illusion aufrecht, dass der Krieg im Grunde eine Sache der Afghanen sei und sich die Bundesrepublik irgendwie würde heraushalten können.

Es stand zunehmend schlecht um die vertikale Kohäsion zwischen der Truppe und der politischen und vor allem militärischen Führung. Minister und Generäle wurden kritischer gesehen denn je. Es fiel schwer, aus Einsicht gehorsam zu sein, wie es die reine Lehre der Inneren Führung vorsah, wenn man vor allem Floskeln zu hören bekam. Und es fiel schwer, Vertrauen in die Institution Parlamentsarmee zu haben, wenn etliche Parlamentarier bei ihren Truppenbesuchen durch eine geradezu groteske Unwissenheit auffielen und der Zuschnitt der vom Bundestag beschlossenen Mandate im krassen Gegensatz zu den militärischen Aufgaben vor Ort stand.

Dass die Soldaten von einem demokratisch legitimierten Souverän in den Einsatz geschickt werden, ist verfassungsrechtlich zwar ein bedeutender Unterschied zu früheren Tagen. Für den einzelnen Rekruten reichte das als Motivation aber nicht aus – falls dieser Umstand von den Männern und Frauen in Uniform überhaupt nennenswert reflektiert wurde.

Zu wenig aus Erfahrungen gelernt

Sie legten sich den Sinn der Mission notgedrungen selbst zurecht, um kognitive Dissonanzen erst gar nicht aufkommen zu lassen. Ihre Bindung zum Staat und zur Bundeswehr als Institution manifestierte sich vor allem in den „tribal cultures“ der Truppengattungen, in den kleinen Kampfgemeinschaften, den sogenannten Primärgruppen – und im taktischen Auftrag. Zweifel, ob der Einsatz mittel- und langfristig vergebliche Mühe war, ob es überhaupt wünschenswert war, einer korrupten Zentralregierung in Kabul und kriminellen Provinzfürsten in Masar-e Scharif die Macht zu sichern, wurden verdrängt, umgedeutet oder ignoriert. Die Bundeswehr wurde von der Politik am Hindukusch in eine „mission impossible“ geschickt. Ihren Auftrag zu erfüllen, die Macht der Kabuler Zentralregierung in den Nordprovinzen zu stabilisieren, lag außerhalb ihrer Möglichkeiten.

Im politischen Berlin hat man indes nur wenig aus den Erfahrungen in Afghanistan gelernt. Und so wiederholt sich das strategielose Improvisieren in Mali: Die Bundeswehr wird erneut aus außenpolitischen Gründen in einen Einsatz geschickt, dessen Aufgaben aber nicht von den Notwendigkeiten vor Ort, sondern von der Innenpolitik bestimmt werden. Ein Erfolg kann die Mission schon aufgrund dieses Strukturfehlers kaum werden.


Buchtipp

 

Sönke Neitzel

Deutsche Krieger.
Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte

Propyläen Verlag 2020,

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Sönke Neitzel

Sönke Neitzel, RC Berlin-Nord, ist Professor für Militärgeschichte/ Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Geschichte der Bundeswehr im internationalen Kontext.