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Titelthema Juni 2022

Blick in den Abgrund

Titelthema Juni 2022 - Blick in den Abgrund
Historiker Gerd Koenen fordert von den europäischen Staaten selbstbewussten Handeln mit Blick auf die derzeitig schwierige geopolitischen Entwicklungen. Der Bruch zwischen Europa und Russland könne lange anhalten, analysiert er dazu. © Pixabay

Der Kalte Krieg ist zurück, wenn er denn je beendet war. Neue geopolitische Konstellationen erfordern von Europa Entschlossenheit.

Gerd Koenen24.05.2022

In einer Parallelbewegung von irrwitzig anmutender Symbolik schotten die beiden Großreiche des einstigen Weltkommunismus, Russland und China, sich von jener Welt wieder ab, in die sie durch ihre Zusammenbrüche und Transformationen nach 1989 hineingerissen worden sind und zu deren „Globalisierung“ sie beide entscheidend beigetragen haben. Aber jetzt sind sie dabei, sich selbst – und damit uns alle – in eine dramatische Sackgasse zu manövrieren, in einen Strudel von Wirtschafts-, Finanz-, Hunger-, Klima- und Seuchenkrisen, die die Welt neuerdings in Lager aufteilen und die Globalisierung wie im Zeitraffer rückwärts abwickeln könnten. Selbst das Gespenst eines neuen Weltkriegs steht im Raum. Und es fällt vorerst schwer zu sehen, wie die Weltgemeinschaft – die wir auf Gedeih und Verderb trotz allem sind – von dieser schiefen Ebene wieder herunterkommen kann.

Die Volksrepublik China hat, dem unerforschlichen Ratschluss Präsident und Parteichef Xis folgend, Dutzende seiner Megacities und hunderte Millionen seiner Bürger in einen unbegrenzten Lockdown geschickt und klinkt sich zur Zeit radikal aus einem Großteil des Weltverkehrs aus, um „den Virus zu besiegen“. Dieser Virus ist von Anfang an in paranoider Weise als ein von außen (vom Westen) eingedrungener Feind markiert worden, den das von der Partei geführte chinesische Volk in einem neuen heroischen „Volkskrieg“ zu besiegen hat – obwohl Covid, wie die ganze Welt weiß, in China selbst im Dezember 2019 ausgebrütet worden und von dort auf die ganze Welt übergesprungen ist.

Jetzt ist der Virus als Omikron-Variante nach China zurückgekehrt und trifft dort auf eine Milliarde schlecht geimpfter und kaum durchseuchter Menschen, die ihm frisches Zellmaterial für weitere Mutationen und einen nächsten globalen Seuchenzug liefern. In Modellrechnungen chinesischer Wissenschaftler, die der starren Quarantänierungspolitik ihrer Regierung indirekt widersprechen, ist von 112 Millionen möglichen Infektionen, über fünf Millionen Hospitalisierungen und 2,7 Millionen Einlieferungen auf Intensivstationen die Rede, was die verfügbaren Kapazitäten um das 14-fache übersteigen und 1,55 Millionen Tote fordern würde. (Nature Medicine, 20. Mai 2022) Das Ausmaß des totalitären Obskurantismus in einem Machtzentrum, das solche Risiken in Kauf nimmt, um seine unhinterfragbare Autorität zu demonstrieren und die systemische Überlegenheit über den Westen und dessen „schädliche Ideen“ um jeden Preis zu beweisen, lässt sich kaum überzeichnen. 

Einen ähnlichen, nicht zu gewinnenden und deshalb umso katastrophaleren Kampf hat Wladimir Putin eröffnet, seit er sich in einsamer, unberatener Weise entschlossen hat, die Ukraine militärisch zu zerstückeln, zu blockieren und als Staats- und Gemeinwesen auszulöschen. Hier ist es ein politischer Virus, den Putin „Nazismus“ nennt und mit Russophobie, Demokratie und westlicher Dekadenz gleichsetzt, den er ein für allemal radikal austilgen möchte, bevor sein heiliges, argloses Russland davon befallen wird.

Auch hier kann man sich über die Ahnungslosigkeit und gleichzeitige Paranoia nur gruseln, mit der der Mann im Kreml (wo er sich allerdings kaum aufhält) und sein „Zarengefolge“ agieren und argumentieren: Die Ukraine, die historisch eigentlich „Klein-“ oder „Neurussland“ sei, soll gewaltsam „entukrainisiert“ werden, notfalls über Generationen hinweg, so wie man die Deutschen einst hatte „entnazifizieren“ müssen. Was allerdings nur wenig gefruchtet hat, denn jetzt will Berlin der Nazi-Junta in Kiew 88 Panzer liefern, was natürlich nur eine Chiffre für „Heil Hitler“ ist; und der hatte (so Außenminister Lawrow) bekanntlich ja wie Wolodymir Selenskyj „jüdisches Blut“ in den Adern.

Wer sich in diese Echokammern der russischen Regierungs- und Medienpropaganda hineinbegibt, betritt buchstäblich eine Wahnwelt – und das nicht erst seit dem 24. Februar, sondern in anschwellendem Crescendo seit mindestens einem Jahrzehnt. Da sitzt die RT-Chefin Frau Simonjan im schicken grünen Kleid und erklärt lächelnd: Bevor Russland bei seiner ukrainischen „Spezialoperation“ verliere, werde es wohl eher einen Weltkrieg geben. Irgendein Experte schwärmt von den neuen Überschallraketen, die von Kaliningrad aus Berlin in 18 Sekunden atomisieren könnten, wie er auf einem großen Bildschirm stolz demonstriert. Und auf den Einwurf eines Gastes, dass dies natürlich „für uns alle“ das Ende bedeuten werde, bemerkt Moderator Kisseljow schelmisch: „Aber wir sind dann wenigstens im Himmel ...“.

Wie geht man mit solchen offensiv verkündeten atomaren Bedrohungsszenarien um, die angeblich, wie die Ukraine-Operation selbst, nur die Antwort auf einen geplanten, ebenfalls nuklearen Überfall der Nato und auf einen Genozid an unschuldigen russischen Menschen sein sollen, wie er im Donbass gerade bevorgestanden habe? Und dabei ist nicht einmal sicher, dass die Verkünder dieser Szenarien selbst daran glauben. Aber ihr Volk soll es glauben, um Leib und Leben seiner Söhne und seinen bescheidenen Wohlstand für dieses monströse Abenteuer zur Verfügung zu stellen, für eine Entscheidungsschlacht, in der es für Russland als Großmacht angeblich um „Sein oder Nichtsein“ geht.

Und vielleicht geht es ja tatsächlich darum. Nur eben nicht, weil irgendjemand in Washington, London, Paris oder Berlin beschlossen hätte, Russland territorial zu zerteilen, materiell zu schwächen, kulturell zu überfremden – sondern umgekehrt: Weil sein Führer mit aller Gewalt beweisen will, dass Russland entweder Großmacht oder gar nicht sein wird. Dabei war schon bisher jeder der Vernichtungssiege, die er und seine Militärs in Grosny, Donezk oder in Aleppo errungen haben, immer nur ein nächster Pyrrhussieg, durch den sie ihr eigenes Land immer weiter ruiniert und herabgezogen haben.

Schon aus diesem Grund muss man dafür eintreten, dass die Ukraine im jetzigen Krieg siegt, sprich: den Aggressor zurückschlägt und deutlich schwächt, so rasch und so wirksam wie möglich. Nur das würde das anachronistische Großreichsprojekt Putins entscheidend frustrieren, das ja ganz erkennbar auch die territoriale Integrität anderer postsowjetischer Republiken von Georgien, Kasachstan und Moldawien bis zu den baltischen Republiken in Frage stellt und Belarus in eine Satrapie verwandelt hat. Im Übrigen verkennt das betonte Sich-Heraushalten-Wollen, mit dem die eine Hälfte der Deutschen öffentlich auf die Lieferung „schwerer Waffen“ reagiert hat, dass wir schon durch unsere politische Parteinahme, durch die Wirtschafssanktionen und die Lieferung „leichter Waffen“ Teilnehmer dieses Kriegs sind, wie Putin es uns von Beginn an drohend erklärt hat.

Dabei ist mit bloßem Auge zu erkennen, dass die selbst-idiotisierende Angst, mit der gerade auch die deutsche Öffentlichkeit auf die frivolen Ankündigungen von Atomschlägen reagiert, der einzige Zweck dieser präpotenten Drohungen ist. Militärisch haben Nuklearwaffen, so oft ihr Einsatz in Korea, Kuba, Vietnam in Erwägung gezogen und kriegstheoretisch durchgespielt worden ist, noch nie Sinn gemacht. Alle Entscheidungen sind „on the ground“ gefallen. Und außerdem gibt es auch jenseits eines atomaren Schlagabtauschs überreichlich Mittel und Möglichkeiten eines Armageddon – von chemischen und biologischen Waffen bis hin zu einem konsequent geführten Cyberwar, der alle lebensnotwendigen Versorgungssysteme des Feindes ausschaltet. Warum sollten wir im Ernst annehmen, dass Putin und die um ihn gescharte, üppig alimentierte, in bizarren Luxuswelten korrupt dahinlebende Machtfamilie sich mit einem atomaren Jedi-Schwert selbst entleiben wollte?

Und umgekehrt: Wenn man annähme, es mit einem schlichtweg Wahnsinnigen zu tun zu haben, wie wollte man dann jemals mit ihm auch nur einen Waffenstillstand aushandeln, geschweige „zurück zur Diplomatie“ zu finden, wie so inständig jetzt gefordert wird? In die Sackgassen, in die Putin und seine Leute sich selbst mit ihren Tiraden gegen die „Nazi-Junta in Kiew“, und mit ihren phobischen Ängsten vor einer Ansteckung mit dem HIV-Virus eines „Gayropa“ hineingeführt haben, sollte man ihnen wahrhaftig nicht folgen. Und man sollte dieses Wahnsystem auch nicht in vernünftelnder Weise als Ausdruck legitimer Sicherheitsinteressen Russlands adeln.

Irgendwann, wenn es für seine zerschlagenen Armeen nicht mehr vorwärts, sondern nur noch zurück geht, wird Putin aus Selbsterhaltungsinstinkt die Reißleine ziehen und mit seinem über sich (und ihn) hinausgewachsenen Antagonisten Selenskyj face to face verhandeln müssen – wie dieser kleine Comedian es beharrlich verlangt, und wie jener große Zampano es aus guten Gründen fürchtet, weil das der Anfang von seinem Ende sein wird. Und wir Europäer werden es uns jedenfalls verbieten müssen, noch einmal in „Minsker Abkommen“ über den Kopf der demokratisch gewählten, souveränen Kiewer Regierung hinweg irgendwelche Abkommen zur „Beilegung des Konflikts“ mit ihm auszuhandeln, die seinen Großreichsplänen weiterhin Zucker geben. Es mögen erst einmal „schmutzige Deals“ sein, bloße Waffenstillstände, aber sie dürfen keine einzige der bisherigen Eroberungen sanktionieren – geschweige ein „Neurussland“ von Donezk über Mariupol bis Cherson, wie es sich auf den Schlachtkarten gerade abzeichnet und wie Putin es als von Menschen entleerte Attrappe und Ersatztrophäe heim ins Reich führen möchte. Im Gegenteil: Alles muss auf den Verhandlungstisch – die Militärkolonie Transnistrien ebenso wie die okkupierte Krim und das militarisierte „Kaliningrad“. Auch wir haben Sicherheitsinteressen und werden uns, wie die skandinavischen Länder, nicht mehr abschrecken lassen, sie zu wahren – was der einzige Zweck der Nato als eines Beistandspakts freier Länder ist.

Von dieser Basis aus ließe sich eine zivile, neue Entwicklungsdynamik entfalten, die das große Projekt einer Wiederherstellung der zerbombten Ukraine einschließt und der auch Russland sich anschließen könnte, wenn es ihm gelänge, sich aus der Geiselhaft seines Regimes zu befreien. Aber gerade weil der Weg aus der Sackgasse im Prinzip ganz einfach wäre, wird Putin noch weiter an der destruktiven Abwärtsspirale zu drehen suchen und die Einsätze seines politisch-ökonomischen Zermürbungskriegs gegen uns, das geeinte, aber fragile, von den Disruptionen des Weltverkehrs getroffene und von Inflationsängsten getriebene Europa zu steigern suchen.

Zwar kann er diesen Krieg genauso wenig gewinnen wie den gegen die Ukraine – aber er kann den Bruch, der sich zwischen Russland und Europa jetzt aufgetan hat, für lange Zeit unüberbrückbar machen und eine verbrannte, verseuchte Zivilisationslandschaft hinterlassen. Denn wie sollen wir in absehbarer Zukunft wieder in normale, und wären es nur geschäftsmäßige Austausch- und Verkehrsbeziehungen mit einem von solchen Wahnvorstellungen beherrschten Land zurückfinden, das sich selbst seiner besten Möglichkeiten und fähigsten Menschen beraubt hat – die es doch so dringend bräuchte, um seinen demographischen, ökonomischen und ökologischen Niedergang zu stoppen?

Für China, das über unendlich viel mehr Möglichkeiten verfügt, sind die Prognosen günstiger, dass die kollektiven Aufstiegs- und Bereicherungsmechanismen und Krisenpaniken das Regime doch zu einer Kurskorrektur bringen, die dann natürlich wieder als höhere Weisheit des Führers präsentiert und gerühmt werden wird. Aber wenn, dann wird China nur in den Weltverkehr zurückfinden, um die Kräfte zu sammeln für Xis eigene Hegemonie- und Großreichspläne, die die benachbarten Meere und das zu erobernde freie Taiwan einschließen. Auch darüber wird jetzt beim Krieg in der Ukraine indirekt mitentschieden.

Gerd Koenen
Dr. Gerd Koenen ist Publizist und Historiker. Zu seinen Büchern gehören unter anderem „Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977“ (C.H. Beck, 2011), „Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945 “ (C.H. Beck, 2013) sowie "Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus" (C.H. Beck, 2017). www.gerd-koenen.de

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