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Das Erwachen der jungen Generation

Titelthema - Das Erwachen der jungen Generation
STRATEGEM 14 - Für die Rückkehr der Seele einen Leichnam ausleihen. © Illustration Claudia Lieb

Der Westen weiß wenig über China, noch weniger weiß er über das, was junge Chinesen bewegt. Dabei sind sie die Zukunft einer Weltmacht.

Zak Dychtwald01.03.2020

Welche ist die beliebteste Band in China? Welchen chinesischen Film mögen Sie am liebsten? Wie denken die jungen Leute über ihre Eltern? Über ihre Regierung? Geld? Sex? Gemeinnützigkeit?

Wenn Sie nun denken, dass Sie die bei jungen Chinesen beliebteste Band nicht kennen müssen, dann überlegen Sie, wie wichtig die Beatles und die Rolling Stones für das Selbstgefühl der Generation der inzwischen 60-Jährigen in Europa und den USA waren. Diese Fragen sind die Bausteine der zunehmend bedeutsamen Identität dessen, was ich als „Young China – Junges China“ bezeichne; die jungen Menschen, die den kraftvollen Schritt der alten Kultur anführen, die ihre Identität auf der heutigen Weltbühne neu definieren. Diese Generation wird eine entscheidende Rolle bei der Definition der Zukunft unserer Welt spielen.

Es gibt vier diese junge Generation definierende Charakterzüge, die ich entdeckte, als ich nach meinem Abschluss an der Columbia University nach China zog, wo ich auch bis heute, sieben Jahre später, lebe und daran arbeite, die neu entstehende Identität der jungen Generation Chinas zu verstehen.

Zunächst teilten sie mir mit, dass sie weitaus mehr über Sie und mich wissen, als wir glauben würden. Es stimmt, dass die ältere Generation Chinas hinter einem kulturellen Vorhang aufwuchs. Mein Freund, Xiao Huan, wurde 1990 in der Provinz Sichuan geboren – im gleichen Jahr wie ich. Seine Eltern erinnern sich daran, wie sich in ihrer Kindheit die Gemeinschaft in dem verfallenen Haus ihrer Nachbarn versammelte, denn diese hatten einen Zwölf-Monats-Kalender an der Lehmwand ihres Hauses befestigt. Diese Bilder – „Felder Europas“ – waren der einzige Blick auf die Welt außerhalb des Ortes für deren Bewohner. Für die meisten wurde der Westen auf eine Reihe von Slogans reduziert, die die Kommunistische Partei wie Paukenschläge als Marschbefehl für die Kulturrevolution von sich gab. „Übertrefft Großbritannien und holt Amerika ein!“, wurden sie angewiesen.

Chinas Millenniumsgeneration ist inzwischen jedoch damit aufgewachsen, die Welt dort draußen zu beobachten. Sie sind Digital Natives, 92 Prozent der chinesischen Internetnutzer entstammen der Millenniumsgeneration und 90 Prozent besitzen ein Smartphone. Xiao Huan und seine Altersgruppe haben in der Schule zehn Jahre lang Englischunterricht im Pflichtprogramm gehabt, und auch wenn das chinesische Internet eingeschränkt ist, so ist er doch mit internationalen Filmen und TV-Shows aufgewachsen, hat die westliche Mode verfolgt und die Politik des Westens studiert. Viele meiner Freunde in China können Barney aus „How I Met Your Mother“ zitieren.

Der größte Reisemarkt der Welt

Sie lernen die Welt nicht nur aus der Ferne kennen. Das Junge China erlebt die Welt im wahrsten Sinne des Wortes mit eigenen Augen und sendet in diesem Prozess seismische Wellen durch die globale Reiseindustrie. Zwei Drittel aller Passinhaber in China sind jünger als 36 Jahre alt. Obwohl nur sechs Prozent der Bevölkerung im Besitz eines Passes sind, steht China für den größten Auslandsreisemarkt weltweit. Mit jedem Prozent, um das die Zahl der Passbesitzer in China steigt, gesellen sich 14 Millionen weitere Passinhaber zu dieser globalen Reiserevolution hinzu. Die USA sind nicht mehr länger der lukrativste Reisemarkt der Welt – die Branche muss beginnen, sich um China zu kümmern.

Die zweite definierende Charaktereigenschaft sind ihre „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Erfolgsgeschichten. Es ist blanke Ironie, aber die weltweit größte kommunistische Partei hat eine der größten kapitalistischen Erfolgsgeschichten der Geschichte vorangetrieben. Meine Freunde aus der Provinz Guizhou haben mir erzählt, wie sie sich erinnern, in ihrer Kindheit Baumrinde gegessen zu haben, um während Chinas Kulturrevolution nicht zu verhungern. Zum Vergleich: Im gleichen Jahr, 1969, haben meine Eltern diskutiert, ob sie nach Woodstock fahren. Als ich 1990 geboren wurde, war das Pro-Kopf-BIP auf das 2,5-Fache seines ursprünglichen Wertes angestiegen, ein beträchtlicher Sprung. Im gleichen Zeitraum hat Xiao Huan erlebt, wie das BIP seines Landes um das 25-Fache anstieg. Die jungen Menschen in China haben dieses riesige Spektrum der physischen, persönlichen Änderungen – von rural zu urban, von Fahrrädern zu Autos, von Wohnhäusern zu Hochhäusern – während ihres gesamten Lebens erlebt, und dies hat unvermeidlich die Art und Weise geformt, mit der sie sich selbst und die Welt betrachten.

Selbstbewusst und voller Stolz

Drittens ist das junge China, trotz seiner Bevölkerungszahl von mehr als 400 Millionen Menschen, relativ klein. Denn im Jahr 1949, als Mao die Volksrepublik China gründete, lebten in chinesischen Familien durchschnittlich fünf bis sechs Kinder pro Familie und die Lebenserwartung betrug 36 Jahre. Die chinesische Demografie war wie eine Pyramide mit einem breiten Fundament junger Men- schen und einer schmalen Spitze alter Menschen geformt. Das traditionelle chinesische Altersrenten-System basierte auf den Kindern, wobei die meisten Menschen ihren Ruhestand gar nicht erreichten.

Heute könnten die demografischen Herausforderungen Chinas diese Zukunft der jungen Generation zunichte machen. Die Pyramide wird auf den Kopf gestellt. Der gesteigerte Wohlstand hat sich in einer verlängerten Lebensdauer manifestiert und Chinas Alte leben durchschnittlich bis zu einem Alter von 76 Jahren. Die chinesische Ein-Kind-Politik, eingeführt im Jahr 1979 und im Jahr 2015 aufgehoben, bedeutet, dass es heute relativ wenige junge Menschen im Vergleich zur Gruppe der Alten gibt, die oft eine 4-2-1-Familie bilden – vier Großeltern für jeweils zwei Eltern und ein dazugehöriges Kind.

Chinas wirtschaftliches Fertigungswunder ist größtenteils durch viele Hände begründet, die sehr viel Arbeit kostengünstig leisten. Bei Chinas junger Generation handelt es sich um Geburtsjahrgänge mit Einzelkindern. Sie wollen und können nicht die Hemden für die Welt fertigen. Innovation ist der Schlüssel: Diese mutige Generation aufkommender Unternehmer wird mit deutschen, amerikanischen und internationalen Innovationsträgern auf der Weltbühne konkurrieren. Apps wie Tencents WeChat, das inzwischen rund eine Milliarde Benutzer verzeichnet, sind inzwischen technologisch über das hinaus entwickelt, was die USA und Europa im Angebot haben. Ohne WeChat zu verlassen, lässt sich auf die Funktionalitäten von Facebook, Instagram, Skype, WhatsApp, Yelp, Venmo, ApplePay, Groupon, Uber, einzelne Amazon-Eigenschaften und eine Vielzahl anderer Nutzungen zugreifen, lassen sich Bitcoins senden, ein Karaoke-Raum buchen und ein Fahrer bestellen.

Viertens sind die Chinesen stolz. Die Millenniumsgeneration hat erlebt, wie sich ihr Land mit einem Tempo und einem Maßstab aus der Armut erhoben hat, die in der menschlichen Geschichte unvergleichlich sind. 1990 verlagerte sich das chinesische Bildungssystem von Diskussionen, die sich primär auf Mao bezogen, zu einem Schwerpunkt auf Chinas historische Erfolge. Dieser neue Ansatz hat zusammen mit dem jüngsten plötzlichen Aufstieg ihres Landes dieser Generation vieles gegeben, auf das sich stolz sein lässt. Ihr starkes Selbstgefühl fordert die stillschweigende Überzeugung heraus, dass „Modernisierung“ von Natur aus „Verwestlichung“ bedeutet. Sie betrachten ihre eigene Regierung als effektiv, wenn auch mit Makeln behaftet. Vor diesem Hintergrund haben sie genug von der Zensierung durch die Regierung und sind über eine neue, anmaßende Reihe von Internet-Reformen und kulturellen Standards von Chinas Führung besorgt, wie die Begrenzungen für das Teilen von Posts auf Weibo sowie das irritierende Vorgehen gegen die populäre chinesische Rap-Szene, die strikt zensiert wird.

Die Identität eines ganzen Volkes

Diese junge Generation begehrt Freiheit. Die Millenniumsgeneration tätowiert dieses Wort auf ihren Bizeps und schreibt es in ihre Musik. Die meisten suchen jedoch keine Freiheit von einer unterdrückenden, restriktiven Regierung, sondern von einer beklemmenden, restriktiven Reihe traditioneller Erwartungen.

Diese junge Generation ist die erste in der modernen chinesischen Geschichte, die, im Großen und Ganzen, nicht über Fragen des Lebensunterhalts nachdenken muss. Sie fragt: „Was möchte ich für mich? Meine Familie? Mein Land?“ Sie ist die identitätsstiftende, ruhelose Generation, die erste, die bestimmen können wird, was es bedeutet, in der modernen Welt Chinese zu sein.


Erklärung zur Illustration STRATEGEM 14
Man benennt zum Beispiel die Konfuzius-Institute nicht nach Mao Zedong, sondern nach Konfuzius. Man haucht also dem bereits der Vergangenheit angehörenden Konfuzius eine neue Seele ein, lässt ihn im Namen dieser Institute wieder aufleben und instrumentalisiert ihn. Auf diese Weise stellt ihn die Kommunistische Partei Chinas in ihren Dienst.

Buchtipp

Zak Dychtwald, Young China,

288 Seiten, Econ Verlag, 22,99 Euro,

ab 24. April im Handel

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