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Das konnte man kommen sehen

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Sunzi: Porträt des chinesischen Generals, Militärstrategen, Schriftstellers und Philosophen, der im 6. Jahrhundert v. Chr. in der Östlichen Zhou-Dynastie des alten China lebte. Er ist bekannt für sein Militärtraktat Die Kunst des Krieges. © mauritius images/iandagnall computing/alamy

Spionage ist eine uralte Idee, die heute mit Hightech kombiniert wird und die jeder Staat und manche NGO nutzt. Warum sorgte der jüngste Abschuss eines Spionageballons über Nordamerika für so viel öffentliche Aufmerksamkeit?

Wolfgang Krieger01.03.2023

Anfang Februar wurde über dem Staatsgebiet der USA ein Ballon mit etwa 45 Meter Durchmesser gesichtet, der in 18.000 Meter Höhe flog, über große Solar-Panels verfügte und steuerbar war. Über die technische Ausstattung im Inneren konnte man nur spekulieren, aber aufgrund seiner Flugbahn vermutete man rasch, dass es sich um einen chinesischen Spionageballon handeln musste. Er wurde am 11. Februar vor der Ostküste der USA abgeschossen. Über die aufgefundenen Trümmer wissen wir bislang wenig, aber es wurden andere rätselhafte Flugobjekte über Alaska, Kanada und Mittelamerika gesichtet. Nach und nach sickerte durch, dass die USA bereits seit Jahren derartige Spionageballone beobachteten, aber erst die Öffentlichkeit davon informierten, als besorgte Bürger die Objekte am Himmel ausmachten und bei der Polizei anriefen. Peking wiederum behauptete, die USA hätten selbst viele Ballone über China fliegen lassen. Erleben wir gerade einen Spionagekrieg der Ballone?

Die Luftaufklärung per Heißluftballon gibt es seit dem 18. Jahrhundert. Heute sind es Hightech-Heliumballone, vollgestopft mit Mikroelektronik. Und die Spionage selbst ist so alt wie die Menschheit. Seit rund 3500 Jahren ist sie schriftlich nachweisbar bei den ägyptischen Pharaonen im „Mittleren Reich“. Die scharfsinnigste Erklärung für Spionage verdanken wir dem chinesischen General und Militärschriftsteller Sunzi, der vor etwa 2500 Jahren sein Buch Die Kunst des Krieges schrieb und darin die Logik der Spionage auf den Punkt brachte. Jeder Herrscher, so schrieb er, brauche ein „Vorauswissen“ über seine Feinde, Gegner und Konkurrenten, um selbst an der Macht zu bleiben und um sein Land vor Krieg und feindlicher Übernahme zu schützen. Konkret gesprochen, er braucht dieses „Vorauswissen“, um über die heimlichen Absichten der anderen Bescheid zu wissen und sich vor unangenehmen Überraschungen zu schützen.

An dieser Logik hat sich bis heute nichts geändert. Was allerdings Sunzi nicht ahnen konnte: Die meisten Staaten verfügen heute über riesige bürokratisierte Geheimdienste und Netzwerke, ausgestattet mit Hightech-Geräten und Tausenden oder gar Hunderttausenden von Agenten. Auch große Firmen, beispielsweise Ölkonzerne, benötigen dieses Wissen; internationale Terrororganisationen wie Al-Kaida und der IS steuern damit ihre Operationen. Heute geht es nicht mehr nur um das „Vorauswissen“, sondern um Spionageapparate als Instrumente der Politik, mit denen man zugleich heimlich auf Gesellschaften und Staaten Einfluss nehmen kann.

Diese Einflussnahme kann durch eine Manipulation der Presse, der elektronischen Medien oder – seit der Verbreitung des Internets – durch soziale Medien geschehen. Aber einige der großen Staaten verfügen auch über bewaffnete Einheiten, die Gegner jenseits der eigenen Grenzen ausschalten und Staatsstreiche befördern oder verhindern können. Beispiele dafür kommen immer wieder in die Presse. Man denke an Cyber-Angriffe zur Wahlbeeinflussung oder an bewaffnete Operationen, mit denen Terroristen wie Osama bin Laden oder bestimmte Anführer des IS im Mittleren Osten oder auch iranische Nuklearwissenschaftler und Miliz-Kommandeure getötet wurden.

Was zu Zeiten von Sunzi noch im Geheimen ablief, weil man das Geheimnis des Gegners nur auf diese Weise beschaffen konnte und das eigene Wissen nicht preisgeben durfte, läuft heutzutage ganz anders ab. Zwar operieren die menschlichen Spione noch wie zu Sunzis Zeiten hinter einer ausgeklügelten Tarnung, aber die technische Aufklärung ist dem Gegner weitgehend bekannt, zumindest zwischen Staaten mit Hightech-Potenzial. Jede Seite verfügt über Spionagesatelliten, die der Gegner wortwörtlich „auf dem Schirm“ hat. Mit derzeitiger Technik könnte man Satelliten im Weltraum zerstören, aber man tut es nicht, weil der Gegner zurückschlagen und die eigenen Satelliten treffen könnte. Spionageflugzeuge, die an der gegnerischen Staatsgrenze entlangfliegen und tief in das Hinterland hineinhorchen, also vielerlei technische Signale empfangen können, werden in der Regel nur abgedrängt, nicht abgeschossen. Sogar ertappte Spione werden zumeist nicht hingerichtet, sondern ausgetauscht, wie es der Kinofilm Bridge of Spies (Der Unterhändler) zeigt. Eine Ausnahme bilden allerdings die Verräter im eigenen Geheimdienst.

Jahrelang passierte nichts

Es hat sich also eine internationale Praxis im Umgang der Geheimdienste herausgebildet, die bemüht ist, die Suche nach „Vorauswissen“ nicht zu sehr eskalieren zu lassen. Diese Logik dürfte auch hinter dem aktuellen Debakel um den Spionageballon stecken. Die Chinesen wissen natürlich, dass es den Amerikanern gelingen könnte, diese Luftfahrzeuge vom Himmel zu holen, aber einen Versuch ist es ihnen trotzdem wert. Immerhin konnten ihre Spionageballone jahrelang ungestört und teilweise unentdeckt in den amerikanischen Luftraum eindringen, wie die USA selbst bestätigten. Nun allerdings dürfte es den Amerikanern gelingen, die aus dem Meer vor South Carolina gefischten Bauteile eingehend zu untersuchen und damit den technischen Stand der chinesischen Spionage zu prüfen. Denn aus verschiedenen Berichten geht hervor, dass China auch in anderen Regionen wie Ostasien, Mittelamerika und vermutlich Europa damit operiert. Ob andere Mächte mit ähnlichen Ballonen spionieren, wie man aus Peking hört, lässt sich derzeit nicht beantworten, aber es dürfte wohl keine Spionagetechnik geben, die nur von einer einzigen Macht angewendet wird. Im Übrigen bleibt auch ungeklärt, ob Russland, das immerhin an Alaska angrenzt, ähnliche Luftfahrzeuge einsetzt, ganz zu schweigen von Nordkorea und eventuell sogar von nichtstaatlichen Akteuren.

Wenn wir dabei bleiben, dass der große Ballon aus China kam, ist die Frage angebracht, ob damit die amerikanische Öffentlichkeit eingeschüchtert werden sollte. Immerhin geriet Präsident Joe Biden sogleich ins politische Kreuzfeuer, weil er den über dem Westen der USA gesichteten Ballon störungsfrei über den Kontinent bis zum Atlantik fliegen ließ. Das erklärt zumindest, warum sogleich drei weitere Objekte vom Himmel geholt wurden, über deren Herkunft und technische Eigenschaften absolut nichts bekannt war, außer dass sie viel kleiner waren und etwa so hoch wie die zivile Luftfahrt flogen. Wie man seit Jimmy Carter weiß, verliert ein schwacher, zögerlicher US-Präsident sofort massiv an Ansehen und wird nicht wiedergewählt. Eine Schwäche im Verhältnis zu China kann sich Biden also nicht leisten. Das ist wohl die eine Lektion der Ballonaffäre.

Eine zweite Lektion steckt in dem öffentlichen Druck, die geheimdienstlichen Details der Affäre möglichst rasch öffentlich zu machen. Daran sieht man: Geheimdienste sind nicht mehr so geheim wie früher, sondern Gegenstände der öffentlichen Politik. Sie senden dem Gegner politische Signale, werden zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung genutzt und können nur noch wenig wirklich geheim halten, wie sich an einem anderen, ungleich wichtigeren Beispiel zeigen lässt: dem Krieg in der Ukraine.

Bereits viele Wochen vor dem russischen Angriff vom 24. Februar 2022 gaben die Geheimdienste der USA, teilweise im Verbund mit ihren britischen Kollegen, detaillierte Informationen über den russischen Truppenaufmarsch im Grenzgebiet und in Belarus an die Medien. Nie zuvor hatte man in diesem Umfang und vor allem mit so vielen Details geheimdienstliche Informationen preisgegeben, die offensichtlich von Spionagesatelliten, von allerlei Abhöreinrichtungen und von menschlichen Quellen stammten. Der Zweck war offensichtlich. Man wollte die russische Seite abschrecken und die eigene öffentliche Meinung für den eingeschlagenen konfrontativen Kurs gewinnen. Zusätzlich gab es umfangreiche Waffenlieferungen, ukrainisches Militär wurde ausgebildet und die Ukraine wurde mit Geheimdienstinformationen aller Art versorgt. Als diese Abschreckung versagte, konnte das ukrainische Militär die westlichen Informationen nutzen, um die schlecht geplanten russischen Angriffsoperationen zu vereiteln. Der Krieg trat damit in eine Phase der kleinen Vorstöße und Rückzüge ein, die man auf beiden Seiten als Abnutzungsstrategie präsentiert. Gemessen an der anfänglichen Schwäche der ukrainischen Streitkräfte mag das als Erfolg gelten, aber eine militärische Lösung ist damit nicht zu erreichen.

Offene und verdeckte Propaganda

Es bleiben somit zwei weitere Ebenen der Auseinandersetzung, auf denen Geheimdienste eine wichtige Rolle spielen: der Kampf um öffentliche Zustimmung, also die offene und verdeckte Propaganda einerseits, und andererseits die Positionierung der übrigen Welt, insbesondere der großen Mächte. Im einen Fall lässt sich konstatieren, dass die ukrainische Führung samt ihren westlichen Unterstützern mit großem Geschick und sehr erfolgreich operiert, wobei allerdings auch die russische Kriegspropaganda zumindest bei der eigenen Bevölkerung durchaus Wirkung zeigt. Die britischen und amerikanischen Geheimdienste veröffentlichen täglich sehr detaillierte Frontberichte samt Bildmaterial sowie Auswertungsberichte aus abgehörten Telefongesprächen und mitgelesenen Social-Media-Beiträgen russischer Soldaten, während die russischen Medien überwiegend in plumper Propaganda ohne Nachrichtenwert verharren.

Im anderen Fall, bei der Positionierung der außereuropäischen Staatenwelt, sind bislang keine westlichen Erfolge zu verzeichnen. Dadurch wird vor allem die Wirkung der gegen Moskau verhängten Wirtschaftssanktionen stark eingeschränkt. China, Indien sowie die wichtigsten Staaten in Lateinamerika und Afrika weigern sich, gegen Russland Partei zu ergreifen. Sie setzen den Handel mit Russland fort und freuen sich über vorteilhafte russische Öl- und Gaslieferungen, die teilweise als verarbeitete Produkte nach Europa weiterverkauft werden – mit sehr hohen Gewinnen, versteht sich. Nach einem Jahr der immer wieder verschärften und ausgeweiteten Sanktionen ist ein globaler Umbau des russischen Außenhandels und der Finanzbeziehungen zu konstatieren, den die Analysten der westlichen Geheimdienste, vor allem der amerikanischen, offensichtlich nicht vorhergesehen haben und derzeit nur beobachten können. Zusätzlich müssen sie den nordkoreanischen und iranischen Waffenlieferungen an Moskau tatenlos zusehen.

Daran erkennt man, dass die heutigen Hightech-Geheimdienste ihr Wissen zwar sehr detailliert und ohne Zeitverlust bereitstellen können. Aber dieses Wissen ist nur in bestimmten Situationen und Kontexten für die Regierungspolitik verwertbar. Hier erweist sich der politische Nutzen der Geheimhaltung von Spionagewissen, denn kein Politiker will etwas an die Öffentlichkeit geben, das ihn schlecht oder schwach aussehen lässt. Das erklärt beispielsweise, warum wir in letzter Zeit so wenig über die Atom- und Raketenentwicklung in Nordkorea und im Iran gehört haben, obwohl die westlichen Geheimdienste nach wie vor intensiv an diesem „Vorauswissen“ arbeiten.

Wolfgang Krieger
Wolfgang Krieger ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte und Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Marburg. Zuletzt erschien von ihm Die deutschen Geheimdienste – Vom Wiener Kongress bis zum Cyber War, C. H. Beck, 2021.