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Einige Beleuchtungen des Begriffes Tradition

Das meiste geht nicht verloren, es verändert sich nur

Michael Thumser03.06.2011

Frankreich, Ende des 19. Jahrhunderts: Ein junger Mann erlebt eine Art Reise in seine Vergangenheit wie einen Blitzschlag. Der Ich-Erzähler in Marcel Prousts Monumentalroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ hat gerade eine Madelaine in eine Tasse Tee gestippt – da eröffnet ihm der Geschmack des aromatisch befeuchteten Sandtörtchens schlagartig eine Welt der Erinnerungen, die verschlossen schienen: Auf Teestunden bei der alten Tante besinnt er sich, wo er besagtes Gebäck auf dieselbe duftige Weise genoss, auf feine Leute und ländliche Landschaften seiner Kindheit. Erinnern heißt Wieder-Erleben, ein „unerhörtes Glück“, das kein Ende nimmt; bei Proust buchstäblich: Es dauert 4100 Buchseiten lang. Wer sich so erinnert, wird seiner selbst gewahr, indem er sein früheres Selbst wie Geschichten eines anderen ins Gedächtnis ruft. Freilich erleben wir dergleichen nicht willenlos wie einen Traum: Wir vergleichen, was wieder ans Licht kommt, mit unserer Gegenwart. Was die Erinnerung zutage fördert, hat seinen Sinn nicht als unbeweglich-tote Reminiszenz, sondern, wie bei Marcel Proust, als Vorgang fast wie auf dem Theater. Es ist lebendig, und es ist dynamisch: Es wirkt verändernd fort; und es verändert sich selbst. Dafür, dass uns aus den Hinterlassenschaften früherer Zeiten Bleibendes blühe, sorgt die Tradition. Fragen wir zunächst nach der Lebendigkeit der Erinnerungen. Sie haben deutlich mehr mit dem Morgen zu tun als mit dem Gestern und Vorgestern: Wir verwerten Erinnerungen in Form von Erfahrungen, um, indem wir aus ihnen klug werden, eine sinnvolle Zukunft zu entwerfen – für uns wie für andere. Denn „der Einzelne erinnert sich, aber er bleibt nicht allein damit“ (Etienne François, Hagen Schulze). So ist, was wir an Andenken und Gedenken in uns bewahren, in gewissem Umfang Teil des Gruppengedächtnisses. Je älter eine Kultur wird, desto mehr verändert sich ihr kollektives Gedächtnis. In unseren Traditionen stellen wir das fest: an dem, was über die Zeitläufte auf uns gekommen ist, und was wir davon aufheben. An zwischenmenschlichen Gebräuchen erkennen wir es und am volkstümlichen Brauchtum, an unserer Verbundenheit mit sogenannter guter alter Zeit; von irgendwann eingeübten Ritualen wollen wir lange nicht lassen; Konventionen sind Traditionen, Moden erst recht. Die belegen bekanntlich aufs Augenfälligste, wie unbedingt der Wandel zu ihnen gehört: Was erhielt sich denn von den Kleiderordnungen, Etikette-Vorschriften, Förmlichkeiten und Höflichkeits-Mustern aus der feinen Welt Marcel Prousts, die vor noch nicht einmal hundert Jahren zugrunde ging?

Schleichende Veränderung

Und doch gilt all das immer nur eine Zeit lang: zeigen sich doch scheinbar eherne Regelwerke – wie gottesdienstliche Liturgien, der Große Zapfenstreich, der Komment von Reitern, Jägern, Burschenschaftern – mancherlei Metamorphosen unterworfen. Schleichend, darum weniger greifbar, gleichwohl fortwährend zersetzen sich Normen und Moralvorstellungen, Sitten, Werte. Sie zersetzen sich, weil andere sie ersetzen. Nichts von alldem also bleibt unverändert. Das Wenigste davon sollten wir für unverzichtbar halten.

Mithin kann Tradition nicht anders überdauern als dynamisch – als Prozess: als etwas, das vorangeht, darum als Vorgang; als etwas, das nicht stehen bleibt, sondern fortschreitet, darum als Fortschritt. Als Gegenbild hierfür taugt der Staffellauf: Dort verändert sich der Stab nicht, wenn ein Läufer ihn dem nächsten in die Hand drückt. Verhielte es sich mit der Erinnerung ebenso, wäre unsere Rückschau wortwörtlich nur Rück-Griff, das Hüten eines Nachlasses, dessen man irgendwie habhaft wurde, und Erbe wäre nichts als ein toter Rest.

Lebendige Weitergabe

Das Wort Tradition kommt vom Lateinischen tradere her; was übergeben bedeutet, überliefern, ausliefern, mitteilen. Nun aber sollte, im günstigen Fall, eine Generation der nachfolgenden das Ihre nicht bedenkenlos auf Gedeih und Verderben ausliefern, sondern es ihr zu guten Händen übergeben. Auf Seiten der Geber wie der Empfänger setzt das Vertrauen voraus. Was uns von unseren Müttern und Vätern mitgeteilt wurde, sollen wir mit anderen teilen, mit der Gemeinschaft, der Gesellschaft. Aus der Vergangenheit übernehmen wir das Tradierte, um es in der Gegenwart für uns und für das Gemeinwohl fruchtbar zu machen und um damit, sozusagen vor der Zeit, an der Zukunft steuernd mitzuwirken. Als Glieder einer Kette, als Etappen einer unabsehbaren Wegstrecke hoffen wir, das Morgen einigermaßen berechenbar zu machen für jene, die nach uns kommen. Denn für sie und ihre Welt tragen wir längst die Verantwortung.

So weit das Ideal. In der prosaischeren Wirklichkeit ist Zukunft immerhin „die Vergangenheit, die durch eine andere Tür wieder hereinkommt“, wie das Geflügelte Wort sagt. Nach wie vor also gilt das Gebot, das der englische Gelehrte Thomas Morus vor 500 Jahren mit angemessener Würde erließ: „Tradition ist nicht das Festhalten der Asche, sondern die Weitergabe der Flamme.“ Das redensartliche „kurze Gedächtnis“ reicht dazu nicht aus. Erst das kulturelle Gedächtnis verknüpft die Generationen – schafft gemeinsame Identität, die sich noch nie von oben verordnen ließ. Denn Tradition wächst nicht empor als Abwehrmauer gegen den Fortschritt, sondern macht den Fortschritt als Brücke begehbar. Indem wir von einer Etappe des Weges zur nächsten wandeln, wandeln wir uns. Derjenige missbraucht die Tradition, der, als Traditionalist vor allem Neuen angststarr verharrend, sie gegen den Lauf der Zeit und ihre Entfaltungen, auch ihre vorteilhaften, ausspielt. Dies lehrt uns, dass von uns beim Umgang mit Traditionen Sichtung und Auswahl verlangt ist: Einsicht ins Verkehrte, charakterliche Redlichkeit und Durchsetzungskraft, uns angesichts des Guten für das Bessere zu entscheiden. Tradition erfordert folglich stetige Interpretation: Einschätzung, Abwägung, Deutung. Und die wandelt sich von Generation zu Generation. Wenn Tradition uns auffordert, „das Beste daraus zu machen“, so kann das nicht im Davonkommen, im Überleben, gelingen, sondern allein im Weiterkommen. In der Geschichte der Gesellschaft heißt Fortschritt, was wir in der biologischen Geschichte des Lebens Evolution nennen – ein Reifen, Sich-Entfalten und -Ausbreiten der jeweils tauglicheren Variante. Evolution schreitet durch Mutationen voran, durch Umgestaltung des Erb-Guts. Nicht also die Regeln allein, ebenso die Ausnahmen sind des Bedenkens und, bei erwiesener Tauglichkeit, des Bewahrens wert: die Abweichungen von der Norm, die erweiterten Möglichkeiten und Neu-Entwürfe. Und sogar Umwege auf den Stufen der Entwicklung kommen vor, auf denen Abbruch und Umbruch, Umkehr oder gar Umsturz unvermeidlich zur Entfaltung gehört – die Revolution statt der Evolution: die krasseste, allerdings auch seltenste Ausnahme von der Regel. Für den rechten Umgang mit der Tradition heißt das Zauberwort: Anverwandlung. Wir sind gefordert, die Vergangenheit durch Erinnerung zu vergegenwärtigen, uns das überkommene Fremde zum eigenen Besitz zu machen, den wir unsererseits (und noch zu Lebzeiten) guten Gewissens weitergeben. Tradition bedeutet nicht Feindschaft gegen den Wandel, sondern, im Gegenteil, die Bereitschaft, Veränderung schöpferisch zu wagen, rücksichtsvoll, weil vorsichtig, darum zukunftstauglich. Die faule Ausrede also gilt nicht: Das haben wir schon immer so gemacht. Aber der Satz: Wir bleiben dabei, denn es hat sich bewährt – der hat Anspruch, gehört zu werden. Den Zeitläuften hat das Bewährte nicht ohne das Bedürfnis nach Erneuerung getrotzt – vielmehr hat eingehender, umsichtiger und differenzierender Gebrauch es geschmeidig gehalten, um auf immer neue Erfordernisse, auf immer neuer Epochen zu antworten. Im Bewusstsein der Tradition leben ist ein Agieren, das sich zur einen Hälfte aus Re-Agieren speist und zur anderen aus Risikobereitschaft.

Wiedergewinnung von Brauchbarem

Mit Epigonentum und billiger Nachahmung gibt sich Tradition nicht zufrieden, nicht mit Einerlei und Monotonie, Plagiat und Schmuck aus fremden Federn. „Tradition ist Schlamperei“ – so zitiert, verkürzend, die Anekdote den Komponisten Gustav Mahler. In seinen Symphonien mit ihren Klangbildern aus Kindheit, Natur, Nacht und zärtlich wachgerufener Romantik feiert sich das Erinnern als Wieder-Erleben wie bei Marcel Proust, dem nicht enden wollenden Romancier. Klassische Stilmuster nahm Mahler ebenso in seine Tonsprache auf wie Klangzaubereien des Impressionismus, folkloristische Liedweisen ebenso wie Ausbrüche in die Atonalität; weihevolle Momente inszenierte er und ließ zugleich platte Musik-Spielarten zu, denen die „hohe“ Tonkunst sich zuvor verweigert hatte. So stecken in der Modernität dieses beispielhaften Tonsetzers viele Züge, mit denen wir seit den 80er-Jahren die Postmoderne charakterisieren, eine Verwertung und Durchmischung, Anwendung und Ausnutzung des Tradierten. So etwas wie Recycling: wörtlich genommen nichts anderes als die Wiedergewinnung von Brauchbarem aus einem Kreislauf heraus.

Michael Thumser
Michael Thumser ist  Verantwortlicher Redakteur für das Feuilleton der Frankenpost und Dozent für Feuilleton an der Akademie für Neue Medien in Kulmbach und der Akademie der Bayerischen Presse in München. frankenpost.de