Titelthema
Das Virus und die Demokratie
Zwingt Corona zu temporär autoritärem Durchregieren?
Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Einer der am häufigsten zitierten Sätze in der deutschen Verfassungslehre. Er steht in der „Politischen Theologie“ (1922). Sein Verfasser: Carl Schmitt, der ebenso brillante wie politisch umstrittene Staatsrechtslehrer. Wer hätte gedacht, dass die Bedeutung dieses Satzes im 21. Jahrhundert so anschaulich würde?
Ein Virus verändert gegenwärtig die Welt, ihre Gesellschaften und politischen Systeme. Es verschont nichts und niemanden. Nicht die Diktaturen, nicht die Demokratien, nicht deren Untertanen oder Bürger. Die Volksrepublik China scheint die exponentielle Ausbreitung des Virus gestoppt zu haben. Mit drastischen Mitteln. Solche stehen Autokratien per definitionem zur Verfügung, Demokratien jedoch nicht. Oder doch? Zwingt das Virus nicht auch Demokratien zu temporär autoritärem Durchregieren zum Wohle des Volkes? Nicht mehr auf die Parlamente haben die Regierungen zu hören, sondern auf die Wissenschaft, auf Virologen und Epidemiologen.
Das Virus setzt alle Demokratien einem besonderen Stresstest aus. Denn Demokratien ruhen auf Grundrechten, die vor allem die Freiheit des Einzelnen schützen; erst sie ermöglichen Rechtsstaat und Demokratie. Bei Naturkatastrophen, Krieg, Aufruhr und Rebellionen können demokratische Regierungen den Notstand ausrufen. Macron beschrieb diese Situation drastisch: „Nous sommes en guerre“ - wir befinden uns im Krieg. Der Feind steht nicht an den Landesgrenzen. Er ist unsichtbar, geruchlos, perfide. Er kann uns alle treffen. Drei Szenarien mögen zum Nachdenken anregen.
Die Europäische Union
Neben der weltweiten menschlichen Katastrophe steht der erste politische Verlierer schon fest: die Europäische Union. Selbst die Kanzlerin war schneller als Ursula von der Leyen. Als diese vor die Presse trat, hörte schon keiner mehr hin. Alle waren schneller als die Exekutive der EU. Kommunen, Länder, der Bund und die Mitgliedsstaaten reihum. Unilateral war längst verfügt worden, die EU-weite Freizügigkeit zu suspendieren. Über den Ausnahmezustand entscheidet, wer souverän ist. Die Europäische Union ist es nicht. Schon nach der Flüchtlingskrise erwies sich die EU als machtlos und solidaritätsfrei.
In der Corona-Krise fehlt jegliche europäische Koordination. Nationalstaatliche Souveränität feiert fröhliche Urständ. Rette sich, wer kann. Am Vorabend wurde noch Donald Trumps Reisebann den Europäern gegenüber als hinterhältige Narretei gescholten. Am Tag darauf folgten Österreich, Frankreich, Dänemark, Tschechien, Deutschland und andere dem Beispiel des irrlichternden Populisten. Italien wurde im Stich gelassen. Wer lieferte Atemmasken? Die Europäische Union, ihre Mitgliedsstaaten? Nein, die Volksrepublik China.
Solidarität und Koordination: Fehlanzeige. Auch die europäischen Bürger lassen sich lieber von „ihren“ Regierungen in Krisenzeiten regieren als von der Kommission oder dem Europäischen Rat. Wird das Virus endlich besiegt sein, dürfte das auch systemisch angelegte Krisenversagen ganz offenbar werden und die Desintegration der EU beschleunigen.
Der deutsche Staat
Die erste Reaktion kam aus den Ländern. Besonders der Ministerpräsident Bayerns preschte vor. In der Sache keineswegs verfehlt, scheint er die Krise auch für das Warmlaufen zu seiner möglichen Kanzlerkandidatur zu benutzen. Der Bund zog nach. Die Länder verboten kulturelle, sportliche und andere Großveranstaltungen, schlossen Kneipen, Pubs, Restaurants, Schulen und Universitäten. Synagogen, Moscheen und Kirchen stehen auf der Schließungsliste. Der Bund sperrt die Grenzen für Privatpersonen. Italien und Spanien verhängen Ausgangssperren. Die Bürger scheinen zu folgen. Wie lange diese Folgebereitschaft anhält, vermag niemand zu sagen. Darf die Bundesregierung, dürfen die Länderregierungen solch fundamentale Einschränkungen der Grundrechte verfügen? Der fast unscheinbare dritte Satz im GG, Artikel 2, Abs. 2 ermöglicht eine solche Erlaubnis:
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. Wenn nicht alles täuscht, ist dies das „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen“. Aus demokratietheoretischer Sicht ist aber klar, wenn solche fundamentalen Einschränkungen von Grundrechten andauern, bedarf es einer Legitimation durch das Parlament.
Die Gesellschaft
Mindestens so problematisch erscheinen mir heute die möglichen kollektiv-mentalen Fallouts für die Zukunft. Gelingt es den Regierungen, die Pandemie rasch und effektiv einzudämmen, kann das die Bürger an den exekutiven Dezisionismus gewöhnen. Dieser legitimiert sich dann nicht mehr über demokratische Prinzipien und Verfahren, sondern über Ergebnisse und effektive Entscheidungsstrukturen. Das ohnehin geringe Vertrauen der Bürger in das Parlament könnte weiter schwinden. Warum sollten dann nicht auch stärker ökoautoritäre Entscheidungen in der „Menschheitsaufgabe Klimarettung“ oder in der nächsten Bankenrettung legitimiert werden? Gewiss sind die gegenwärtigen Entscheidungen in der Viruskrise legal und legitim. Doch wird es danach darauf ankommen, Gewaltenteilung, Grundrechten und der Liberalität unseres politischen Gemeinwesens wieder ihren notwendigen Platz zuzuweisen.
Prof. Dr. Wolfgang Merkel ist Direktor em. am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professor em. für Politikwissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin. Er ist seit 2007 Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
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