Titelthema
Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie
Zukunft verstehen, Probleme lösen, fair entscheiden. Diese Trias wird die Legitimationsfrage der Demokratie in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts entscheiden.
Die schlechten Nachrichten reißen nicht ab. Nun auch die Bertelsmann-Stiftung. Mit wissenschaftlicher Präzision, sorgsam generierten Daten und einprägsamen Schaubildern zeigt sie unmissverständlich auf: Mit der Demokratie geht es abwärts, weltweit. Gleichzeitig steigen die Zahlen der offenen Diktaturen. Hybride Zwischenregime rutschen ins autoritäre Lager ab. Der Bertelsmann-Transformationsindex misst dies für rund 140 Länder. Davon ausgenommen sind die westlichen etablierten Demokratien, die schon länger die Spuren autoritärer Herrschaft abgeschüttelt haben. Aber auch unter diesen hoch entwickelten Demokratien leidet deren rechtsstaatliche und demokratische Qualität. Auch diese Demokratien sind keine Selbstverständlichkeit mehr, auch sie erodierten im letzten Jahrzehnt.
Artikel 97 (1)
Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.
Wir hatten es nach 1989 fast vergessen: Demokratien sind zerbrechlich. Davon zeugen die beiden Autokratisierungswellen (1922–1942, 1958–1962) des 20. Jahrhunderts, die vor allem junge Demokratien hinweggespült haben. Gegenwärtig werden wir Zeugen von schleichenden, aber dennoch signifikanten Demokratieverlusten politischer Systeme in so unterschiedlichen Ländern wie der Türkei, Polen, Ungarn, Italien, Brasilien, Israel oder den Vereinigten Staaten von Amerika. Die besten Zeiten der Demokratie scheinen vorbei zu sein.
15 Jahre des kontinuierlichen Qualitätsverlusts selbst der besten Demokratien markieren einen robusten Trend. Wir reden nicht mehr wie noch zwei Dekaden zuvor über die Demokratisierung der Demokratie. Die Überlegungen zielen nun auf den Verlust demokratischer Qualität, auch in reifen rechtsstaatlichen Demokratien. Die Entwicklungsbeschreibungen lauten: Autokratisierung, Erosion und Regression. Nimmt man die aus der Medizin entlehnte Metapher „Krise“ ernst, ist offen, ob Tod oder Genesung den Ausgang markieren. Aber der Begriff birgt doch eine existenzielle Dramatik, die weder für Finnland, Dänemark, Kanada, Deutschland, Frankreich noch für Großbritannien und nicht einmal für die USA eine überzeugende Interpretation liefert. Belegen wir diese Demokratien alle gemeinsam mit dem Begriff Krise, dann ist dieser für Länder wie Ungarn, Bulgarien, die Philippinen, die Türkei oder Brasilien verbrannt.
Mein Plädoyer heißt deshalb: die Begrifflichkeit entdramatisieren und nicht undifferenziert von „der“ Demokratie im Singular zu sprechen. Dies bedeutet nicht Entwarnung. Doch sollten wir bei aller Erosion oder Regression vieler Demokratien auch in der Lage sein, gegensätzliche Trends zu erkennen, die gleichzeitig in ein und derselben Demokratie verlaufen. Und wir sollten jenseits von unserem beliebten Geschäft, immer wieder die Krisen zu belegen, auch darüber nachdenken, wie wir gegenwärtig aus der Malaise herauskommen. Es gilt gerade in Zeiten des Niedergangs der Demokratien, deren Resilienzpotenziale zu erkennen und zu stärken.
Die Leistungsbilanz muss stimmen
Man kann sich auf die „wehrhafte Demokratie“ berufen. Sie wird insbesondere in Deutschland diskutiert. Da geht es um: Wehret den Anfängen, lasst den Verfassungsschutz die Feinde und Kritiker unserer Demokratie observieren und gegebenenfalls Parteien wie die AfD durch das Verfassungsgericht (GG, Art. 21, 3) verbieten. Auch gegen Politiker wie Björn Höcke sollte das Bundesverfassungsgericht prüfen (GG Art. 18), ob seine neonazistischen Zündeleien eine Verwirkung bestimmter Grundrechte rechtfertigen, um ihn dann aus dem politischen Verkehr zu ziehen. Wenig wäre gewonnen, manches verloren. Die Ausbreitung geheimdienstlicher Observierung stärkt den illiberalen Obrigkeitsstaat, Höcke würde im Hintergrund weiter sein Unwesen treiben, und die AfD-Wähler (15 bis 20 Prozent) würden nicht einfach verschwinden. Wollen wir wirklich mehr Illiberalismus wagen?
Ich meine Nein. Die politischen Entscheidungseliten in Regierung, Parlament und an der Spitze der Parteien müssen selbstkritisch erkennen, was sie dazu beigetragen haben, dass eine Rechtsaußenpartei so erstarken konnte. Ein (unsicheres) AfD-Verbot und eine weitere personelle Aufrüstung des Verfassungsschutzes werden ihnen nicht helfen, die verlorene Glaubwürdigkeit und Repräsentationskraft wieder zurückzugewinnen. Ex-Kanzler Helmut Kohl formulierte einst in der ihm eigenen Sprache: „Wichtig ist, was hinten herauskommt.“ Vornehmer formuliert: „Output matters“, die Leistungsbilanz des politischen Systems zählt. Sie muss von den Bürgerinnen und Bürgern positiv verstanden werden. Wir wissen zudem, dass in Zeiten externer Krisen wie Klima, Krieg, Migration oder Pandemie die Bürger ihre politischen Präferenzen wechseln. Jetzt geht es nicht mehr vordringlich um Partizipation und Mitbestimmung, sondern um Ergebnisse und materielle Sicherheit.
Was die Demokratie stärkt
Wenn wir auf die Leistungsbilanz demokratischer Politik blicken, sind drei Funktionen für die Zustimmung der Bürger von besonderer Bedeutung: Zukunft verstehen, Probleme lösen und fair entscheiden. Um die Zukunft zu verstehen, muss sich die Politik den Wissenschaften öffnen. Diese können die Chancen und Risiken neutraler und langfristiger beurteilen als die im kurzfristigen Alltagsgeschäft befangene Politik. Die Klimapolitik ist dafür ein Beispiel. Sie liefert die Kenntnisse zu Ursachen und Tempo des Klimawandels. Dem hat sich die demokratische Politik geöffnet. Dann aber ist es Aufgabe der Politik, die besten Umsetzungsstrategien zu entwickeln.
Die Politik muss zeigen, dass sie auch langfristige Probleme lösen kann. Dabei steht ihr bisweilen die Ungleichzeitigkeit von politischen Investitionen und Amortisationen im Wege. Politische Entscheider denken durchaus rational. Sie wollen wiedergewählt werden. Die Wahlzyklen sind relativ kurz. Bei langfristigen Reformen wie der Reduktion der CO₂-Emissionen fallen die sozialen und wirtschaftlichen Kosten zu Beginn an. Die Renditen und Amortisationen lassen auf sich warten. Regierungen werden dann häufig abgewählt, wie die Beispiele Gerhard Schröder nach der Agenda 2010 oder der Popularitätsabsturz der Ampel-Koalition nach dem Gebäudeenergiegesetz zeigen. Die Lösungen müssen zudem als fair verstanden werden. Erst dann folgen die Bürger den Entscheidungen. Es muss bei anfallenden Kosten eine gerechte Lastenverteilung geben. Dies stärkt den demokratischen Gedanken der Gleichheit und reduziert die Neigung der Bürger, rechtsradikale Protestparteien wie die AfD zu wählen.
Zukunft verstehen, Probleme lösen, fair entscheiden. Diese Trias wird die Legitimationsfrage der Demokratie in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts entscheiden. Wenn diese Frage überzeugend beantwortet wird, dann werden intensivierte Observierung der Bürger und Parteienverbote überflüssig. Darum geht es.
Buchtipp
Wolfgang Merkel
Im Zwielicht: Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert
Campus Verlag,
381 Seiten, 39 Euro
Prof. Dr. Wolfgang Merkel ist Direktor em. am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professor em. für Politikwissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin. Er ist seit 2007 Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
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