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Demokratie der Zyniker

Titelthema - Demokratie der Zyniker
Das Oberste Gericht Polens hat an Autorität eingebüßt. © Getty Images / Omar Marques

Die Erkenntnis, in Polen seien Familie und Nation die zentralen Kategorien, nicht aber die Gesellschaft, ist über 60 Jahre alt, und aktueller als je zuvor.

Piotr Buras01.04.2020

Krise der Demokratie? Welche Krise? In Polen, das seit circa fünf Jahren wegen des Konflikts über die Rechtsstaatlichkeit in Europa Schlagzeilen macht, ist von Dekadenz wenig zu spüren. Im Vergleich zu anderen Ländern ist das Vertrauen in die Demokratie relativ hoch. Laut Global Satisfaction with Democracy Report 2020 sind nur 25 Prozent der Bürger mit der Demokratie als Regierungsform unzufrieden, Tendenz seit 2015 (Regierungsübernahme durch die Partei Recht und Gerechtigkeit, PiS) sichtbar absteigend. Laut dem polnischen Umfrageinstitut CBOS hatten im Mai 2019 rund 48 Prozent eine positive Meinung darüber, wie die Demokratie in Polen funktioniert – einer der höchsten Werte seit 1993, als sie zum ersten Mal gemessen wurden. Während also internationale Institutionen und Medien den Zusammenbruch der Demokratie in Polen beklagen, sehen es die Polen selbst (genauer gesagt: ein Großteil von ihnen) dezidiert anders.

Innere Widersprüche

Dass sich die Expertenmeinung mit dem Volksempfinden nicht deckt, sollte keinen überraschen. Die Behauptung, dass man die Demokratie positiv einschätzt, ist auch bei Weitem noch kein ausreichender Beleg für eine liberal-demokratische Grundhaltung. Gleichwohl sind diese Zahlen frappierend. Sie zeigen nämlich, dass die Ablehnung des demokratischen Systems in der Gesellschaft keine zwingende Voraussetzung für dessen Aushöhlung (oder möglicherweise auch Abschaffung) ist. Damit unterscheidet sich die aktuelle Situation von der aus der Vorkriegszeit, als der Überdruss an Parlamentarismus und Parteienherrschaft sowie die Sehnsucht nach einem starken Führer europäische Demokratien, eine nach der anderen, zum Sturz brachten. Was sich heute auf dem Vormarsch befindet, sind keine Militärdiktaturen, die mit Gewalt nach der Macht greifen, sondern halbautokratische Systeme, die sich mit demokratischem Mantel umhüllen. Ihr Kennzeichen ist nicht Anti-Demokratismus, sondern das Gegenteil von ihm: die Überhöhung des (mehrheits-)demokratischen Prinzips. Und ihr größter Feind ist der Liberalismus, der bis vor Kurzem von Demokratie nicht wegzudenken war.

Unterwerfung der Justiz

Polen liefert heute ein reichliches Anschauungsmaterial dafür, wie sich das mehrheitsdemokratische (anders: anti-liberale) Prinzip durchsetzt. Der machtvolle und machtbewusste Architekt des „guten Wandels“, wie die PiS ihren politischen Kurs nennt, Jarosław Kaczyński, brachte schon vor Jahren den Kern seines politischen Programms auf den Punkt: Es gehe um die Überwindung des Impossiblismus, sagte er in einem Interview, des Zustands also, in dem unabhängige Institutionen – wie zum Beispiel das Verfassungsgericht – die Pläne der demokratischen Mehrheit durchkreuzen. Dass diese Institutionen das Kernstück des liberalen Modells sind, dessen Ziel eben die Einschränkung der Macht jener Mehrheit ist, erklärt die Ablehnung des Liberalismus im Namen einer adjektivlosen Demokratie. Der Kurs wird konsequent durchgesetzt: mit der Unterordnung des Verfassungsgerichts, Unterwerfung des Justizwesens unter die Regierung sowie der Umwandlung des öffentlichen Fernsehens in eine Propagandamaschine der Regierungspartei als wichtigsten Ausgüssen dieser Lehre.

Eigeninteressen über Gemeinwohl

Man würde meinen, die besagte „demokratische Mehrheit“ goutiert bereitwillig den Kurs und freut sich über das endgültige Erlöschen des Lichts des Liberalismus, um die Metapher aus dem neuen Buch von Ivan Krastev und Stephen Holmes zu bemühen. Nichts dergleichen: Wie unzählige Umfragen belegen, ist die Mehrheit der Polen davon überzeugt, dass die PiS korrumpierter ist und dass sie sich stärker um ihre eigenen Interessen kümmert als ihre Vorgänger. Trotz dieses vernichtenden Urteils haben die Polen – genauer genommen ihre Mehrheit – die PiS im Oktober 2019 wiedergewählt. Es sei der Triumph des politischen Zynismus, urteilt der Sozialforscher Sławomir Sierakowski. Seine These: Die Zeit der großen politischen Konzepte und Narrative sei vorbei, genauso wie die Ära der Transformation, die den Bürgern einiges abverlangte. 

Für die meisten Wähler zählten nun einzig und allein Eigeninteressen, nicht das abstrakte Gemeinwohl oder große Ideen. „PiS stiehlt zwar, aber zumindest teilt sie“, lautet die Formel. Solange die von der PiS eingeführten (und zu Recht lange ersehnten) sozialen Wohltaten sowie die gefühlte Aufwertung der Würde der einfachen Leute ihre Strahlkraft entfalten, ist das negative Urteil über den Abbau der unabhängigen Institutionen, Machtmissbrauch oder Verfassungsbruch irrelevant. Willkommen im Land der zynischen Bürger.

Polen ist für den politischen Zynismus besonders empfänglich. Zusammenarbeit, Vertrauen und Solidarität unter den Bürgern – alles Merkmale einer modernen Gesellschaft – sind traditionell rare Güter. In Polen seien Familie und Nation die zentralen Kategorien, nicht aber Gesellschaft, stellte der Soziologe Stefan Nowak bereits in den 50er Jahren fest. Es ist diese mentale Struktur, die die Liberalen nach 1989 durch den Aufbau der Zivilgesellschaft und Stärkung der lokalen Selbstverwaltung zu überwinden suchten, die sich die PiS heute zu eigen macht und politisch ausnutzt. Unter dem Mantel der „wahren Demokratie“ (des Willens der Mehrheit) wird ein Modell etabliert, in dem bürgerliche Prinzipien der Selbstorganisation, Eigeninitiative und Selbstverwaltung einer immer stärkeren Rolle des paternalistischen und illiberalen Staates weichen. Auch der Wohlfahrtsstaat à la polonaise folgt diesem Muster: Nicht öffentliche Dienstleistungen, die Solidarität und wechselseitige Verantwortung der Bürger implizieren, bilden seinen Kern, sondern Direktzahlungen von Vater Staat. In der Folge wird der Sozialstaat privatisiert – die Qualität der öffentlichen Schulen oder Krankenhäuser sinkt, immer mehr Bürger bezahlen mit ihrem Geld private Dienstleister.

Treulos

Politischer Zynismus, wenn er gezielt gefördert und gepflegt wird, kann leicht politischem Autoritarismus den Weg ebnen. Vor allem, wenn er auf überlieferte gesellschaftliche Strukturen zurückgreifen kann. Die voranschreitende Aushöhlung der Demokratie – ohne den liberalen Kern kann sie auf Dauer ja nicht überstehen – wird dann eine Zeit lang vom demokratischen Willen (oder besser: demokratischer Duldung) abgefedert, bis irgendwann dieser Wille nicht mehr völlig demokratisch ist. Hat Ungarn dieses Stadium nicht bereits erreicht? Das Entstehen und die Festigung eines demokratisch legitimierten Autoritarismus ist aber kein Naturgesetz. Politischer Zynismus hat es auch in sich, dass er keine Treue kennt. Der polnischen Demokratie fügte er aber bereits einen immensen Schaden zu.

Piotr Buras

Piotr Buras ist Politologe, Publizist und seit 2013 Leiter des Warschauer Büros des Thinktanks European Council on Foreign Relations. Davor war er Korrespondent der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" in Berlin und Gastforscher unter anderem in der Stiftung Wissenschaft und Politik.

 

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