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Das falsche Spiel der PiS

Forum - Das falsche Spiel der PiS
Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki spricht im Juli zu einer US-Marineunterstützungseinheit in Redzikowo. Trotz aller Kritik mag er auf die Nato-Mitgliedschaft nicht verzichten. © picture alliance/epa/adam warzawa

It’s foreign policy, stupid! Oder doch nicht? Polen hat die Wahl, ob es die europäische Politik zukünftig aktiv mitgestalten will.

Piotr Buras01.10.2023

Die Außenpolitik spielt bei den Wahlen keine Rolle, lautet eine allgemein geltende Wahrheit. Sie gilt nicht in Polen. Das Land wählt am 15. Oktober das neue Parlament, mitten im Krieg im Nachbarland Ukraine und in der angespannten Atmosphäre einer geopolitischen Bedrohung. Der innenpolitische Konflikt zwischen liberaler Demokratie westlicher Prägung und östlich anmutendem Halb-Autoritarismus trägt Züge einer beinahe zivilisatorischen Auseinandersetzung. Und weil sich politische Sympathien in der stark polarisierten Gesellschaft für die beiden Optionen ziemlich gleich verteilen, mögen nur kleine Verschiebungen für den Wahlausgang ausschlaggebend sein. Einiges deutet darauf hin, dass das Zünglein an der Waage in der Außenund Sicherheitspolitik zu verorten ist.

Die geopolitische Lage könnte kaum brisanter sein. Wie das gesamte atlantische Bündnis ist Polen zwar nicht Teil des militärischen Konfliktes, seine Nähe ist aber so gut wie mit Händen zu greifen. Ende 2022 verirrte sich eine ukrainische Abwehrrakete in polnisches Territorium – zwei Menschen kamen ums Leben. Im Frühling schlug eine russische Rakete in der Nähe von Bydgoszcz ein, unbemerkt von der polnischen Abwehr, obwohl sie schweren Sprengstoff hätte tragen können. In Belarus werden russische Nuklearwaffen stationiert sowie die berüchtigten Söldner der Wagner-Gruppe, deren künftige Verwendung – nach dem Tod ihres Anführers Prigoschin – unklar ist. Ständig versuchen die von Lukaschenko aus allen Ecken und Enden der Welt geworbenen Migranten die polnischen Grenzmauern zu überwinden, ein Stück hybrider Kriegsführung, die schon seit zwei Jahren anhält. Und während die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) offiziell gegen Migranten hetzt, ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen das Außenministerium wegen des illegalen Verkaufs von bis zu 350.000 Arbeitsvisa. Wobei von echten Ermittlungen nach rechtsstaatlichen Standards wohl kaum die Rede sein kann.

So ist Sicherheit in aller Munde und nicht zuletzt auch im Wahlkampf zum ultimativen Schlagwort geworden, mit dem die PiS versucht, die Wähler für sich zu mobilisieren. Die massiven Rüstungsausgaben, die in diesem Jahr vier Prozent des BIP erreichen werden, katapultierten Polen an die Spitze der Nato-Musterschüler – und sollen der PiS das Image des Hüters der Nation verleihen. Die gewaltige militärische Parade am Tag der Armee am 15. August hatte zum Ziel, diese Stärke zu demonstrieren und gleichzeitig kritische Fragen nach den Finanzierungsquellen (auf Pump) verstummen zu lassen. Kluge Köpfe mahnen, dass Sicherheit nicht nur durch Panzer, Raketen und eine künftig 300.000 Mann starke Truppe zu gewährleisten ist. Aber angesichts der bedrohlichen Lage im Osten werden solche Stimmen als weltfremd abgetan.

PiS tritt als Hüter der Nation auf

Die Verlegung von Wagner-Söldnern nach Belarus im Zuge des gescheiterten Putsches verstärkte nicht nur das Gefühl der Unsicherheit, sondern auch die Versuchung, dieses politisch auszuschlachten. Die Gefahr von Provokationen ist nicht von der Hand zu weisen, ein paar Tausend Soldaten ohne schwere Ausrüstung sind dagegen keine ernsthafte Bedrohung für die Integrität des Landes. Nichtsdestotrotz erwecken die Pressekonferenzen an der Grenze und martialische Mienen der Regierungsvertreter den Eindruck, eine Invasion könnte bevorstehen. Hier und da wird diskutiert, ob die Bedrohung einen Notstand legitimieren würde. Der Haken: Laut Verfassung würde dieser die Abhaltung der Wahl unmöglich machen. Könnte die Sicherheitslage zum Vorwand genommen werden, die drohende Wahlniederlage zu verhindern oder aufzuschieben?

So weit muss es nicht kommen, aber außen- und sicherheitspolitische Herausforderungen werden noch anderweitig in den Wahlkampf eingespannt. Und zwar mit dem klaren Ziel, die Opposition in Bedrängnis zu bringen. So werden die Polen am 15. Oktober nicht nur über die Zusammensetzung des Sejms abstimmen, sondern auch über vier Fragen in einem Referendum, das zeitgleich abgehalten wird. „Unterstützen Sie die Beseitigung der Barriere an der Grenze zwischen der Republik Polen und der Republik Belarus?“, lautet eine von ihnen. Die Idee steht gar nicht zur Debatte, keine politische Partei erhebt eine solche Forderung. Die Frage suggeriert aber das Gegenteil – und soll die Wähler der Regierungspartei mobilisieren, denen eingebläut wird, dass die Opposition bereit ist, vitale Sicherheitsinteressen des Landes aufs Spiel zu setzen. Dem gleichen Ziel dient eine andere Frage: „Unterstützen Sie die Aufnahme von Tausenden illegaler Einwanderer aus dem Nahen Osten und Afrika nach dem von der europäischen Bürokratie auferlegten Zwangsumsiedlungsmechanismus?“ PiS als Hüter der Nation vor Migranten – 2015 war das das Erfolgsrezept, das die Partei an die Macht brachte. Jetzt soll sich die Geschichte wiederholen. Dass es keinen Zwangsumsiedlungsplan gibt und keine Partei illegale Einwanderer nach Polen holen will, außer offenbar die PiS selbst, spielt dabei keine Rolle.

Das Weizendilemma

Noch eine andere Auseinandersetzung um ein wichtiges außen- und europapolitisches Thema mag für den Wahlausgang mitentscheidend sein. Es geht um die Ukraine und die Getreideimporte. Am 15. September, gleich zu Beginn der heißesten Phase des Wahlkampfs, hob die Europäische Union die Einschränkungen für die Importe von ukrainischem Getreide auf. Diese wurden im Frühling unter anderem auf Druck Polens verhängt, dessen Agrarproduzenten unter der Konkurrenz des wesentlich billigeren Weizens oder Mais aus der Ukraine ächzten. Die Öffnung des europäischen Marktes für diese Importe war aber ein Zeichen der Solidarität und Unterstützung für die Ukraine, deren andere Exportwege von Russland blockiert werden. Warschau und andere östliche Länder wollten das Importverbot um weitere Monate verlängern, der Rest der EU war dagegen. Die PiS-Regierung droht, die Grenze im Alleingang zu schließen, sollte die Kommission auf ihre Forderung nicht eingehen. Wie soll sich in einem solchen Fall die Opposition verhalten? Auf die Umsetzung des EU-Rechts pochen, für den Preis, als Landesverräter angeprangert zu werden? Oder sich der Linie der Regierung beugen – und ihre eigene Glaubwürdigkeit als proeuropäisches Lager aufs Spiel setzen?

Dass Außenpolitik im Wahlkampf eher instrumentalisiert als wirklich debattiert wird, mag wenig überraschend sein. Gleichwohl ist es ein trauriger Befund, dass zentrale Fragen für Polens außen- und sicherheitspolitische Selbstverortung zwar über den Wahlausgang entscheiden können, aber ihr Verständnis dabei um keinen Millimeter weiter vertieft wird. Der außenpolitische Konsens scheint in Polen seit 30 Jahren stabil zu sein: das transatlantische Verhältnis ist ein Axiom, auch die EU-Mitgliedschaft wird trotz oft lauter EU-Kritik nicht ernsthaft infrage gestellt. Aber dieser Schein trügt insofern, als diese Übereinstimmung dort endet, wo die eigentlichen Dilemmata der polnischen Außen- und Sicherheitspolitik beginnen. Wie sollen wir die Ukraine an die EU heranführen und gleichzeitig unsere eigenen wirtschaftlichen Interessen wahren? Wie können die irreguläre Migration kontrolliert und Menschenrechte respektiert werden? Welche Rüstungsausgaben ergeben Sinn und welche nicht? Welche Rolle soll die EU bei Polens Sicherheit spielen?

Es braucht eine offene Debatte

Polens aktive Rolle bei der Unterstützung der Ukraine und der Verteidigung Europas schuf eine neue Grundlage für die Debatte über diese Fragen. Wie kaum zuvor gibt es heute sowohl den Bedarf als auch die Möglichkeit, dass sich Warschau mit seinen Ideen in die europäische Diskussion einbringt und eigene Lösungsvorschläge unterbreitet. Dabei müssen viele alte Prämissen der polnischen Außenpolitik auf den Prüfstand sowie neue Fragen aufgeworfen werden. Es ist zu befürchten, dass die unübersichtliche und polarisierte politische Lage, die auch nach den Wahlen den politischen Alltag bestimmen kann, eine solche Debatte – genauso wie heute im Wahlkampf – erschwert oder verhindert. Damit wäre leider auch die Chance vertan, den Mittelpunkt der europäischen Außenpolitik ein Stück weit nach Osten zu verschieben.

Piotr Buras

Piotr Buras ist Politologe, Publizist und seit 2013 Leiter des Warschauer Büros des Thinktanks European Council on Foreign Relations. Davor war er Korrespondent der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" in Berlin und Gastforscher unter anderem in der Stiftung Wissenschaft und Politik.

 

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