Titelthema
Demokratie unter Quarantäne?
Das politische System, sein Führungspersonal, die multilaterale Ordnung – sie alle unterziehen sich einem Stresstest. Wie leistungsfähig ist unsere Demokratie?
Der Herausforderungen gab es eigentlich schon zur Genüge: Bereits die digitale Transformation, die Globalisierung einschließlich der Migration und natürlich der Klimawandel verändern das Leben sehr vieler Menschen auf unserem Globus dramatisch und stellen nationale Regierungen und internationale Organisationen vor neue und große Aufgaben. Und jetzt kommt etwas hinzu, das so bedrohlich erscheint und wohl auch ist, dass es die öffentliche, politische, ökonomische und private Themensetzung völlig umwirft: Eine Pandemie, also eine sich weltweit und enorm schnell ausbreitende Epidemie, stellt Staaten, Gesellschaften, die Wirtschaft und Individuen vor Entscheidungen, die zumindest „der Westen“ seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht kannte.
Anders als die Bevölkerung in einem autoritären oder totalitären System können wir in unserer offenen Gesellschaft die staatlichen Maßnahmen sowie deren Erfolge und Misserfolge im Kampf gegen das neuartige Corona-Virus (SARS-CoV-2) beobachten und mit denen anderer Staaten vergleichen. Und auch wenn es weltweit viele Regionen gibt, in denen die Menschen von einem Gemeinwesen mit geordneten staatlichen Institutionen und einer Gesundheitsorganisation nur träumen können, ist es per se weder undankbar noch populistisch, die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Demokratie in Zeiten der Pandemie zu stellen: Werden erstens unsere demokratische Ordnung und ihre verschiedenen Teilsysteme, zweitens das politische Führungspersonal und drittens die multilaterale Ordnung dieser massiven (gesundheits-)politischen und ökonomischen Krise gewachsen sein?
Auch wenn so mancher Unkenruf nicht zu überhören ist, so sind auch positive Anzeichen offensichtlich: Zu den unverzichtbaren Grundlagen unserer freiheitlichen Demokratie gehört die Offenheit der Kommunikations- und Informationskanäle, die die öffentliche Meinungsbildung womöglich für Verzerrungen und Manipulationen anfällig macht. Gerade in Zeiten epidemiebedingter Nervosität sind digital gestreute Desinformationen und Verschwörungstheorien, die sich ähnlich rasch verbreiten wie das analoge Virus selbst, eigentlich ein unvermeidbarer Bestandteil der medialen Tagesordnung. Tatsächlich beobachten wir derzeit jedoch das Gegenteil: Die Nachfrage nach den Informationsangeboten gerade der öffentlich-rechtlichen Sender sowie der Qualitätspresse – also das Interesse an seriösen und glaubwürdigen Quellen – steigt in allen Altersgruppen. Wichtigeres kommt hinzu: Seit der Finanz- und Bankenrettung und vor allem der so genannten Flüchtlingskrise sank das Vertrauen in die „politische Elite“ ebenso wie die Stimmenanteile der beiden Volksparteien bei den verschiedenen Wahlen. Diese Vertrauenskrise und die gesellschaftliche Spaltung, die sich seit 2008 nicht nur in demoskopischen Befragungen, in den digitalen Netzwerken und vor allem in Wahlergebnissen zeigte, haben unterschiedliche Ursachen und stellen auch keineswegs nur ein bundesdeutsches Phänomen dar. So hatte sich in Teilen der Bevölkerung der durch populistische Argumentation zusätzlich geschürte Eindruck verbreitet, dass „die“ Politik bei Weitem nicht so handlungsfähig sei, wie gerade die Volksparteien das gern für sich in Anspruch nehmen.
Vertrauen in alte Kräfte
Die durch den Schwesternstreit von CDU und CSU zusätzlich in den öffentlichen Fokus geratenen Defizite der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik nährten den populistisch untermalten Vorwurf, die deutsche Politik vernachlässige die Interessen der eigenen Bürgerschaft. Nicht minder schwer wog die Wahrnehmung, dass die von der Modernisierung und Globalisierung begünstigten großstädtischen Eliten einseitig die bundesdeutsche Parteien- und Medienlandschaft dominierten. Dass gleichzeitig ein anderer Teil der Bevölkerung den Vorwurf erhob, Politik und Wirtschaft hätten weltweit die Anzeichen des Klimawandels ausgeblendet und seien unfähig, sich auch international auf wirksame (also einschneidende) Maßnahmen zu verständigen, begünstigte dann auch noch die Wahrnehmung einer Spaltung der Gesellschaft.
In der derzeitigen Krise gibt es hingegen Indizien, dass die Bürger sich verstärkt wieder den Institutionen und Amtsinhabern zuwenden, denen sie aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung grundsätzlich Handlungsfähigkeit, Verlässlichkeit und die Orientierung am Gemeinwohl zugestehen. Ohne aus diesem womöglich nur vorübergehenden demoskopischen Trend gleich eine demokratietheoretische Gesetzmäßigkeit ableiten zu wollen, ist grundsätzlich festzustellen, dass politisches Vertrauen der Bürgerschaft sich auf zwei Dimensionen bezieht: die spezifische Haltung gegenüber der aktuellen Regierung und deren Führungspersonal sowie die „diffuse“ Unterstützung des politischen Systems. Bislang fokussierte sich die sozialwissenschaftliche Forschung auf den Aspekt, dass in stabilen Demokratien selbst die oppositionelle Haltung zur amtierenden Regierung oder deren tagespolitischen Entscheidungen nichts an der grundsätzlichen Loyalität zum politischen System ändert. Nun legt die Corona-Krise die Annahme nahe, dass es womöglich auch einen umgekehrten Zusammenhang gibt.
Nachteile der „Kleinstaaterei“?
Es wäre nicht nur zynisch, sondern auch sachlich falsch, darauf zu setzen, dass eine hoffentlich insgesamt erfolgreiche Bekämpfung der Corona-Epidemie einen politischen Zustand herstellen könnte, wie ihn so mancher durchaus melancholisch mit der „alten“ Bundesrepublik verbindet. Weder sollen wir die gesellschaftliche Modernisierung zurückdrehen wollen, noch erscheint es – angesichts der von Nationalismus ausgehenden Gefahren – vernünftig, auf die von Links- und Rechtspopulisten geforderte Entglobalisierung zu setzen, die vor allem angesichts von Lieferengpässen bei Medikamenten und Schutzvorkehrungen Unterstützung findet. Aber dennoch: Trotz aller sehr berechtigten Sorgen vor den womöglich verheerenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie können wir – unter bestimmten Voraussetzungen – darauf bauen, dass unsere rechtsstaatliche Demokratie, ihre Institutionen und die Amtsinhaber gestärkt aus dieser Krise hervorgehen werden. Zu den großen Stärken unserer gewaltenteilenden und pluralistischen Ordnung gehört nämlich ihre institutionell fundierte Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen sowie erforderliche Anpassungs- und Strukturreformen vorzunehmen. Unsere demokratische Ordnung setzt den Rahmen für das insgesamt professionelle Zusammenwirken einerseits unaufgeregt agierender politischer Führungskräfte, die der Kontrolle durch pluralistische Medien und relevante Opposition unterliegen, und andererseits undogmatischer wissenschaftlicher Expertise, die der Politik immer wieder Korrekturen von Einschätzungen abverlangt. Natürlich sind Fehlentscheidungen und Fehler dennoch unvermeidlich. Im Unterschied zu einem totalitären System, dessen Führung zwar den „Vorteil“ hat, politische Gefolgschaft an- ordnen beziehungsweise erzwingen zu können, wegen des ungeteilten Führungsanspruchs aber keine Fehler einräumen darf, sind die verschiedenen Teilsysteme unserer liberalen Demokratie aber anpassungs- und lernfähig.
Damit unsere politisch Verantwortlichen zu gegebener Zeit tatsächlich für sich in Anspruch nehmen können, dass unsere Demokratie sogar der Corona-Krise gewachsen war, werden sie die Lernfähigkeit unserer Institutionen und sogar Verfassungsordnung unter Beweis stellen müssen. Die Pandemie legt schonungslos offen, auf welchen Gebieten dies erforderlich sein wird. Nicht nur diejenigen, die die Bundesstaatlichkeit auch in „normalen“ Zeiten gern als „Kleinstaaterei“ abwerten, halten den föderalen Aufbau des öffentlichen Gesundheitsdienstes und die Tatsache, dass der Bundesgesundheitsminister Maß- nahmen lediglich empfehlen, aber nicht anordnen kann, für ineffizient und unter den Bedingungen der Corona-Epidemie, die einer nationalen Koordination bedürfen, sogar für lebensbedrohlich.
Zwar erlaubt das bundesdeutsche Infektionsschutzgesetz im Pandemiefall unter Wahrung des Gebots der Verhältnismäßigkeit massive Eingriffe in die Grundrechte der Bürger; ob diese vorgenommen werden oder nicht, wird aber nicht bundesweit einheitlich entschieden, sondern durch die Behörden der 16 Länder. Der Bund ist auf eine koordinierende Funktion beschränkt und kann den Ländern lediglich Empfehlungen aussprechen. Ausgerechnet die Schweiz, wo der Föderalismus nicht nur im verfassungspolitischen Denken präsent ist, sondern den Bürgern auch am Herzen liegt, geht anders vor und könnte womöglich Vorbild sein. Für den Fall, dass sich eine epidemiologische Notlage zur nationalen Bedrohungslage entwickelt, reagiert der Schweizer Staat auf das exponentielle Wachstum der Ansteckungszahlen und eskaliert quasi parallel die Durchgriffsrechte des Zentralstaates. Besteht in einer „normalen Lage“ wie auch in der „besonderen Lage“ die grundsätzliche Zuständigkeit der Kantone, so hat der Zentralstaat in der letzten von drei Eskalationsstufen – sie wurde in der Schweiz am 16. März 2020 verhängt – das Recht, kantonale Kompetenzen an sich zu ziehen und gegenüber den Kantonen Maßnahmen anzuordnen.
Wenn alles überstanden ist
Unabhängig von den Zuständigkeitsregelungen sind nach der Bewältigung der aktuellen Krise Lücken und Defizite sowohl im Pandemierecht, aber auch im Wahlrecht von Bund und Ländern sowie in den Geschäftsordnungen der Parlamente zu schließen beziehungsweise zu beheben: Die bundesdeutschen Pandemiepläne sind zum Teil veraltet, und der Bundestag könnte im Falle der Erkrankung oder Reiseunfähigkeit von mehr als der Hälfte seiner Abgeordneten nach derzeitiger (Verfassungs-)Rechtslage keine Beschlüsse fassen. Die Wahlgesetze für Bund, Länder und Gemeinden erlauben derzeit selbst dann keine längere zeitliche Verschiebung von Wahlen, wenn ein Pandemiefall länger dauert. Diese und viele andere Themen sind in der Öffentlichkeit und vor allem im Parlament zu beraten und zu entscheiden, „wenn alles überstanden ist“; und zwar nicht in der Harmonie, die sich manche Bürger wünschen, sondern natürlich kontrovers. In dieser Post-Corona-Phase wird offensichtlich werden, dass die Bewährungsprobe für unser politisches System nicht nur darin bestand, die Krise zu bewältigen. Vielmehr wird sich dann auch zeigen, ob die Bürgerinnen und Bürger ebenfalls aus der Corona-Krise etwas gelernt haben: dass wir ein widerstands- und handlungsfähiges politisches System haben, das nicht nur in der Krise besser funktioniert, wenn ihm Vertrauen entgegengebracht wird und das dieses Vertrauen zudem verdient.
Prof. Dr. Ursula Münch, RC Starnberg, ist derzeit beurlaubte Professorin für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München und seit November 2011 Direktorin der Akademie für Politische Bildung im oberbayerischen Tutzing – einer wissenschaftlichen Einrichtung, die unabhängig und überparteilich die politische Bildung fördert.