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Der Gedankenschlosser

Forum - Der Gedankenschlosser
Friedrich Dürrenmatt im Zwiegespräch mit seinem weißen Kakadu: Vögel sind ein ständig wiederkehrendes Motiv im literarischen und künstlerischen Werk des Denkers Dürrenmatt. © Ullstein Bild - rdb

Am 5. Januar 2021 wäre Friedrich Dürrenmatt 100 Jahre alt geworden. Die Komödien „Der Besuch der alten Dame“ und „Die Physiker“ machten ihn weltberühmt. Doch die aufregendsten Entdeckungen macht man anderswo in seinem Werk.

Thomas Bodmer01.01.2021

Es war heiß im Zimmer, in dem die junge Schauspielerin Lotti Geissler sich 1946 von den Proben ausruhte, und entsprechend wenig Kleider trug sie, als sie den Schlüssel sich im Schloss drehen hörte. Kaum hatte sie sich einen Schlafrock ihres Bruders übergestreift, als dieser das Zimmer betrat zusammen mit einem dicklichen Brillenträger Mitte zwanzig, den er als seinen Kommilitonen Fritz Dürrenmatt vorstellte. Dieser versuchte das Interesse der schönen Lotti zu wecken, indem er ihr eine Geschichte erzählte, die er geschrieben hatte, „Die Wurst“.

Erst schrecklich, dann schön

Sie handelt von einem Mann, der seine Frau umgebracht und danach verwurstet hat. Als er vor Gericht kommt, ist nur noch eine Wurst übrig. Der zum Tod Verurteilte äußert als letzten Wunsch, diese Wurst zu essen. Da stellt sich heraus, dass der Richter sie im Lauf der Verhandlung gedankenverloren selbst gegessen hat.

Lotti fand die Geschichte scheußlich und sagte ihrem Bruder, sie wolle diesen Fritz nie mehr sehen. Doch der schaffte es, dass sich ihre Wege immer wieder kreuzten, erzählte ihr andere, weniger scheußliche Geschichten; bald stellte Lotti fest, dass der Geschichtenerzähler sich in sie verliebt hatte und dass sie, obschon anderweitig verlobt, sich ihrerseits in ihn verliebte.

Auf dem Heimweg von der Universität Bern, wo er an einer Dissertation über „Kierkegaard und das Tragische“ laborierte, sah Philosophiestudent Dürrenmatt eines Tages von Weitem den Bus, der ihn nach Hause bringen sollte. „Während ich über den Platz rannte, den Trolleybus zu erreichen, fasste ich den Entschluss, die Universität zu verlassen und Schriftsteller zu werden. Als ich den Trolleybus erreicht hatte und er sich in Bewegung setzte, war ich Schriftsteller“, schrieb Fritz 24 Jahre später in einer frühen Fassung von „Stoffe“, diesem Höhepunkt seines Schaffens als Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt.

Gleichzeitig mit dem Entschluss, Schriftsteller zu werden, beschloss Fritz auch, Lotti zu heiraten, die er erst seit wenigen Monaten kannte. Im Oktober 1946 wurden die beiden von Fritzens Vater, einem Pfarrer, getraut.

Auch wenn Lotti „Die Wurst“ schrecklich gefunden hatte: Bereits hier wurde das Thema „Gerechtigkeit und Recht“ angeschlagen, das ihr Mann immer wieder durchspielen sollte, im Kriminalroman „Der Richter und sein Henker“, im Hörspiel und der Novelle „Die Panne“, aber auch in einem „Monstervortrag“ an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

Im Frühjahr 1955, unterdessen hatten die Dürrenmatts drei Kinder, arbeitete FD, wie wir ihn hinfort nennen wollen, an der Novelle „Mondfinsternis“. Darin kehrt ein Auslandschweizer als Milliardär in das Bergdorf zurück, das er einst verlassen hatte, weil ihm sein Mädchen ausgespannt worden war. 14 Millionen verspricht er den verarmten Dörflern, wenn sie seinen Rivalen von damals umbringen.

Während FDs Arbeit an der Novelle musste Lotti für eine Operation ins Krankenhaus, es kam zu Komplikationen, und so beschloss der verschuldete FD, aus dem Stoff ein Theaterstück zu machen. 

Denn mit Komödien wie „Die Ehe des Herrn Mississippi“ (1952) hatte er auch in Deutschland einigen Erfolg gehabt. Außerdem mochte er die bayrische Schauspielerin Therese Giehse, die damals am Zürcher Schauspielhaus arbeitete, und so wurde aus dem reichen Heimkehrer eine Heimkehrerin.

Tatsächlich ist „Der Besuch der alten Dame“ (1956), wie das Stück hieß, viel raffinierter als „Mondfinsternis“, die FD um 1980 für die „Stoffe“ vollenden sollte. Finanzielle Not führte paradoxerweise also dazu, dass etwas künstlerisch Höherstehendes entstand. Einen zweiten Welterfolg hatte FD 1962 mit der Komödie „Die Physiker“, worin drei Wissenschaftler sich als Irre ausgeben, um zu verhindern, dass ihre Entdeckungen zur Vernichtung der Menschheit führen. Doch der Plan misslingt, denn wie der Autor in einem Kommentar zum Stück schrieb: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“

Erfolg und Misserfolg

Aus finanziellen Gründen hätte FD nie mehr eine Zeile schreiben müssen und sich ganz der Malerei widmen können, die er sein Leben lang, wie er es nannte, als „Dilettant“ betrieb. Aber sein Hirn war eine Maschine, die sich nicht abstellen ließ. Unerbittlich dachte er seine Stücke immer wieder neu durch, und so spätexpressionistisch-schwelgerisch seine Sprache im Erstling „Es steht geschrieben“ (1947) gewesen war, so knapp sollte sie im Lauf der Zeit werden, bis im Stück „Der Mitmacher“ (1973) das Wesentliche von den Figuren gar nicht mehr ausgesprochen wurde, sondern ungesagt in deren Köpfen blieb. Das Stück fiel zu Recht durch, doch der Misserfolg ließ FD keine Ruhe.

Der selbsternannte „Gedankenschlosser“ schrieb nicht nur eine Neufassung des Stücks, sondern auch ein mehr als 100 Seiten langes „Nachwort“ und dann ein ähnlich langes „Nachwort zum Nachwort“. Darin mischten sich praktische Überlegungen zu Bühnenbild und Beleuchtung mit Essays über „Das Mitmachen als moralische Kategorie“, einer Kriminalerzählung und einer hochkomischen Neuinterpretation der Ödipus-Geschichte mit dem Titel „Das Sterben der Pythia“. Das einzigartige Buch erschien 1976 unter dem Titel „Der Mitmacher. Ein Komplex“ – und wurde kaum wahrgenommen.

Zu Gast bei den Dürrenmatts

Doch FD ließ sich nicht beirren. Schon vorher hatte er begonnen, die Teile seiner Autobiografie zu notieren, die für sein Werk von Bedeutung waren. Er arbeitete an dem Großprojekt, das ihn unter dem Titel „Stoffe“ bis zu seinem Tod am 14. Dezember 1990 beschäftigen sollte. Er schuf damit eine Mischung von Autobiografie, Essayistik und Erzählungen, wie es sie noch nie gegeben hatte und die in mancher Hinsicht die Summe des Dürrenmattschen Schaffens darstellt.

Dieses lernte ich gründlich kennen, als ich 1980 als 28-jähriger Lektor die 30-bändige Gesamtausgabe betreute, die zu FDs 60. Geburtstag am 5. Januar 1981 erscheinen sollte. Mit dem Bleistift in der Hand las ich alles, was FD seit 1942 geschrieben hatte, und reiste dann immer wieder von Zürich nach Neuchâtel. In seinem riesigen Arbeitszimmer mit Blick über den Neuenburger See saß ich ihm gegenüber, wollte „Falle“ in „Klinke“ ändern, „Finken“ in „Pantoffeln“ oder bemäkelte eine Passage als psychologisch nicht stimmig. Das ließ er bis auf ein gelegentliches berndeutsches „Nei!“ geduldig über sich ergehen.

Nach getaner Arbeit öffnete er eine Flasche Bordeaux aus seinem legendären Weinkeller, oft setzte sich Lotti dazu. Man konnte über alles reden – außer über die „Alte Dame“ und die „Physiker“. Auf diese beiden Stücke wolle er nicht reduziert werden, brummte FD und erzählte dann umso schwungvoller, was ihm gerade für ein neuer Stoff eingefallen war. Sein Lektor bin ich nicht mehr, doch ein begeisterter Leser nach wie vor. Besonders häufig greife ich zu seinen Essays, denn die sind aktueller denn je. „Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern. Was alle angeht, können nur alle lösen“, schrieb er – nicht zum Thema Klimawandel, sondern bereits 1962 angesichts der atomaren Bedrohung.

Thomas Bodmer

Thomas Bodmer war 20 Jahre lang Verlagslektor bei Diogenes und Haffmans, danach Zeitungsredakteur und arbeitet heute vor allem als Übersetzer von Autoren wie Georges Simenon, James Hamilton-Paterson und Julian Barnes.