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Reportage

Der Griff nach der Notbremse

Reportage - Der Griff nach der Notbremse
Der interozeanische Zug rollt zwischen dem Pazifikhafen Salina Cruz und Coatzacoalcos am Golf von Mexiko. © Victor H.

Vom indigenen Widerstand gegen die Megaprojekte „interozeanischer Korridor“ und „Tren Maya“ im Süden Mexikos

24.05.2023

Von Victor H.

Ein Tag im April 2023. Im Morgengrauen wird das Brummen der Zirpen zum Zwitschern der Vögel, durch dünne Wolken bricht die Sonne hervor, wandert die bewaldeten Berge hinauf und taucht die versteckte Lichtung einer besetzten Rancho bei Pijijiapan in warmes Licht. Dutzende Hängematten regen sich, als 100 Teilnehmer der Karawane „Der Süden widersteht“ aufstehen, um die zehntägige Protestreise gegen die Megaprojekte „Tren Maya“ und „interozeanischer Korridor“ im Süd-Südosten Mexikos anzutreten. Ihre Zahl wird in den kommenden Tagen auf ihrer Route durch die Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Veracruz, Tabasco, Campeche, Yucatán und Quintana Roo auf über 250 anwachsen, 1200 Menschen werden die Karawane in der zapatistischen Universität CIDECI in San Cristobal de las Casas empfangen.  Anwesend sind lokale Gemeinden, Kollektive, Räte und Organisationen, Medienschaffende, Menschenrechtsbeobachter und Internationalisten aus vielen Teilen der Welt.

Sie vereint der Widerstand gegen eine „territoriale Neuordnung“, welche weit über die Zugstrecken des Tren „Maya“ und des „interozeanischen Korridor“ hinausgeht: Die beiden Projekte sind miteinander verbunden und öffnen den gesamten Südosten Mexikos für einen „Fortschritt“, der nur Wenigen dient: Über die großen Häfen an beiden Ozeanen, die ausgebaut und gekoppelt werden, über neue Straßen, (Güter-)Zugstrecken und Flughäfen vernetzen sich große Industrieparks mit Fabriken und Raffinerien, Monokulturen und Energieparks, Massentourismus und Tierhaltung – dort, wo über 40 indigene Völker bis heute einige der artenreichsten Ökosysteme der Welt schützen.        

 

Karte Mittelamerika
Territoriale Neuordnung im Südosten von Mexiko © Geocomunes/ Übersetzung: Recherche AG

Ihre gemeinsame Reise führte durch Schmerz und Hoffnung, Trauer und Aktion: Gegen Fracking- und Gaspipelines, unbezahlbare Stromtarife und ein aufgezwungenes „Gasoduct“ wehrt sich der Consejo Autónomo Regional Zona Costa de Chiapas in El Progreso und Tonola, gegen die Vertreibung aus ihrem Land wehren sich die Otomí, welche das ehemalige Institut der Indigenen besetzten und in Erinnerung an den 2019 ermordeten compa in „Casa de los Pueblos Samir Flores“ umbenannten. In Puente Madera wehrt sich eine organisierte Gemeinde, „der Leuchtturm des Widerstands im Isthmus von Oaxaca“, gegen einen der fünf geplanten Industrieparks des interozeanischen Korridors, der ihr heiliges, ertragreiches Cierro Pitayal in eine Asphalt- und Fabrikwüste verwandeln würde. Hunderte Menschen aus zahlreichen Gemeinden versammeln sich hier, um ihre Erfahrungen und Strategien auszutauschen: Gegen die Windpark-Anlagen, die der indigenen Bevölkerung in einem perfiden Beispiel des Kolonialismus im „grünen Kapitalismus“ ihr Land stehlen, auf dem sie einzigartige Ökosysteme schützen, um anschließend Billigstrom an die großen Fabriken der Textil- oder Lebensmittelindustrie zu liefern, während die Gemeinden kein Licht haben; gegen zerstörerischen Bergbau, gegen Pipelines, gegen Monokulturen, gegen die Zerstörung des Chimalapa-Regenwaldes, gegen Wasser-stehlende Staudämme, gegen die Kontaminierung der letzten gesunden Flüsse, Seen und Meere.

Die kapitalistische Erschließung ihres Territoriums geht mit einer massiven Militarisierung und der extremen Zunahme organisierter Kriminalität der Kartelle einher: Während die Streitkräfte unter dem aktuellen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) immer mehr Befugnisse erhalten (so bauen und verwalten sie die Megaprojekte, dessen Gewinne sie erhalten), greifen die Narcos nach den neu-erschlossenen Gebieten, in denen Drogen-, Menschen-, Waffen- und Tierhandel plötzlich eine Rolle spielen. Beide Akteure gehen mit entmenschlichter Brutalität zudem gegen die Migranten vor, die, vor Leid und Zerstörung in Süd- und Mittelamerika wie der Karibik fliehend, dieses umkämpfte Gebiet zu einem der größten Migrationskorridore der Welt machen. Für sie bedeuten die Großprojekte der Armee einen rassistischen Filter: Manche werden aufgehalten, andere eingesperrt, andere ermordet – und wieder andere als Billigarbeitskräfte auf den Baustellen ausgebeutet – genau wie die indigene Bevölkerung, die in den Hotels putzen soll, während man ihre Kultur den Touristen tot in alten Pyramiden präsentiert.

Im Protestcamp „Tierra y Libertad“ bei Mogoñé Viejo wehren sich über 26 Gemeinden gemeinsam gegen den „interozeanischen Zug“, der ihr Land stiehlt und die Marine vor ihrer Haustür stationiert. In Oteapan im Bundesstaat Veracruz wehren sich die Menschen gegen Minen, gegen riesige Müllhalden, gegen die Lager hochgiftiger Restbestände der Ölraffinerien auf ihrem Land, gegen die Privatisierung ihres Wassers und weitere Industrieparks. In Tabasco wehren sich die Menschen gegen die großen Raffinerien, die den Kleinbauern ihr Land stehlen und das übrige vergiften, gegen zunehmende Femizide und Gewalt gegen Migranten, gegen die Aussetzung der Gehälter für Lehrkräfte oder das staatliche Vorgehen gegen die Ärmsten der Stadt. In der Gemeinde „El Bosque“ am Golf von Mexiko hat der Klimawandel das kleine Fischerdorf bereits verschluckt, doch der Widerstand der Menschen ist nicht untergegangen.                     

Sie sind Zeugen der (Klima-)Ungerechtigkeit: Hier haben sie am wenigsten zum Anstieg des Meeresspiegels beigetragen, hier sind sie aber vor allen anderen die Opfer der in ihre ehemaligen Wohnzimmer, Schulen und Kirchen schwappenden Wellen. Während sie auf eine Umsiedlung warten, wird in Cancún der Strand mit neuem Sand aufgeschüttet – damit das Urlaubsparadies der Weißen nicht auch im Wasser verschwindet. Wir reden von dem (von Hurricanes und Überschwemmungen heimgesuchten) Küstenabschnitt, an dem im Zuge des „interozeanischen Korridors“ und des „Maya-Zuges“ neue Ölplattformen und Hotelanlagen im oder wenige Meter vor dem Meer entstehen sollen.

Gegen den Zug wehrt man sich in Candelaria, wo der örtliche Fluss bereits der Großbaustelle zum Opfer gefallen ist. Ähnlich sieht es in Valladolid aus, wo vor der Stadt die letzten Wasserquellen (auch in den unterirdischen Höhlen- und Flusssystemen der „Cenotes“) verseucht und Häuser dem Erdboden gleichgemacht werden, während in den urbaneren Gebieten Gentrifizierung und Vertreibungen Hand in Hand gehen. In Xpujil wehrt man sich gegen die massive Entwaldung des Maya-Regenwaldes, die Gefährdung archäologischer Stätten, die Implementierung riesiger Mastfarmen – und das Militär: In nur einem Jahr ist aus der kleinen Gemeinde eine Soldatenhochburg mit Kräften der regulären Streitkräfte, der Nationalgarde, der Polizei und der Narcos geworden. Im Centro Comunitario Maya U Kúuchil K Ch’i’ibalo'on, dem kommunitären Zentrum der Maya-Kunst und Kultur Raxalay Mayab At, werden in einer historischen Vereinigung der Sinti und Roma mit den Maya-Völkern Parallelen gezogen zum Schmerz des Genozids und dem aktuellen Kampf gegen das Vergessen, für die auch gemeinsam Verantwortliche benannt werden: In diesem Fall die Deutsche Bahn.

Mit ihrem Tochterunternehmen „DB Consulting & Engineering“ beteiligt sich das deutsche Staatsunternehmen am Tren „Maya“ – während andere Konzerne und die Bundesregierung die kolonialen Energie- und Industrieparks im Isthmus von Tehuantepec fördern und sehnlich auf den Ausbau der Häfen warten, die ihnen Flüssiggas liefern sollen. Sie sind mitverantwortlich für einen Ökozid: Die Megaprojekte bedrohen die letzten großen Regenwälder, das zweitgrößte Korallenriff der Welt, die Mangroven und das größte Süßwasservorkommen des Landes.

Angriff auf das friedliche indigene Protestcamp „Tierra y Libertad“

Angriff auf das friedliche indigene Protestcamp „Tierra y Libertad“ © CNI México

Inmitten der globalen Klimakatastrophe und des enormen Artensterbens treiben die multinationalen Konzerne mit Hilfe auch von sich selbst als „links“, „grün“, oder „fortschrittlich“ bezeichnenden Regierungen unaufhaltsam die Ausbeutung der letzten intakten Ökosysteme und die Vernichtung ihrer besten Beschützer – der indigenen Gemeinden – voran. Doch diese wehren sich:

Wir steigen auf diesen Zug des Fortschritts nicht auf, weil wir wissen, dass seine Stationen Dekadenz, Krieg, Zerstörung und seine Endstation die Katastrophe sind“, verkünden Delegierte des CNI auf der Abschlusskundgebung der Karawane in Palenque – zurück in Chiapas, dort, wo der „Maya-Zug“ beginnen soll.

Die Katastrophe trifft viele dann, wenn sie sich gegen ebendiese aufzulehnen suchen: Wir hören auf der Karawane vom unschuldig inhaftierten und gefolterten Zapatisten Manuel Vasquez, der nun bereits seinen 21. und 22. Geburtstag im Gefängnis verbringen musste. Wir erinnern an die Ermordung von Samir Flores, der sich gegen das Großprojekt „Integral Morelos“ wehrte. Die Gesandten aus Guerrero berichteten von 40 Ermordeten und 20 Verschwundenen in den letzten Jahren, die Tsetal von aktueller Folter und vergangenen, unbestraften Massakern. Dutzende Teilnehmende und Besuchte des „Südens, der widersteht“ erhalten Morddrohungen oder werden mit ungerechtfertigten Haftbefehlen gesucht, und Aktivisten aus Eloxchitlán fordern noch immer die Freilassung ihrer gefangenen und gefolterten Töchter und Väter. Im Protestcamp „Tierra y Libertad“ gedachten wir dem Mord an Bety Cariño und dem sie begleitenden Menschenrechtsbeobachter Jyri Jaakkola, welche der von Paramilitärs bedrohten Gemeinde San Juan Copala zur Hilfe eilten. Nur wenige Stunden nach dem Besuch dieses würdigen Ortes indigener Selbstverwaltung durch die Karawane stürmten schwer bewaffnete und vermummte Einheiten von Militär, Nationalgarde und Polizei das Camp. Die Antwort auf die Schläge, Verwüstung und die Verschleppung von sechs „Compas“ war eine Welle der nationalen und internationalen Solidarität, die zur Freilassung der Festgenommen führte sowie der sofortige Wideraufbau der Blockade.

Diese ist mehr als die Verteidigung gegen lokalen Landraub, Militarisierung und Umweltzerstörung. Sie ist das Auflehnen gegen ein System, welches, den Abgrund bereits vor Augen, noch einmal schneller auf diesen zufährt.

Walter Benjamin, einer der Gefallenen, schrieb vor seinem Tod durch den Nationalsozialismus als Antwort auf Marx` These von der Revolution als Lokomotive der Weltgeschichte: „Vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“

Es ist unsere, im Schatten der Konzernzentralen und den Büros der Verantwortlichen Lebende Pflicht, Teil dieser Notbremse zu sein – statt von Vereinigung von „Wohlstand und Klimaschutz“ oder „grünem Kapitalismus“ zu reden, während El Bosque (und Italien, und das Ahrtal…) im Wasser versinkt, während anderswo das Wasser verschwindet, und während diejenigen, die bereits jetzt ihre Lebensgrundlage verloren haben, im Wasser ermordet und sterben gelassen werden.


Zur Person:
Victor H. ist Teil einer Recherchegruppe zum Wirken europäischer Unternehmen in indigenen Territorien und begleitet derzeit den Widerstand der indigenen Völker in Südmexiko.