Titelthema
Der Siegeszug eines Lebensgefühls
Über den Erfolg der Grünen und die Kompatibilität ihrer Anliegen
Es läuft ganz gut derzeit. Wenn Robert Habeck dieser Tage von Interview zu Interview eilt und die Beliebtheitsrangliste deutscher Politiker anführt, so steckt dahinter weit mehr als der Mix aus Themen und Image. Es ist auch unsere eigene Zerrissenheit im Hinblick auf Wachstum, Wohlstand und Verzicht, die ihn und die Grünen auf der Welle des Erfolgs tragen. Doch der Reihe nach.
Die Grünen haben 67 Abgeordnete im Deutschen Bundestag – die Linke 69, FDP 80, AfD 91 Abgeordnete – sie sind somit die kleinste Oppositionspartei. In der medialen Aufmerksamkeit führen sie die Opposition hingegen an und werden inhaltlich von keiner der anderen Parteien ernsthaft gestellt. Im Gegenteil: Ihr Hauptthema, der Umwelt- und Klimaschutz, ist spätestens mit dem Ausstiegsbeschluss aus der Kernkraft 2011 im Spektrum der Regierungsparteien aufgegangen. Dort, wo auch die Grünen bereits 2013 hinwollten – und jetzt wieder hinwollen.
Dass man dafür die Mitte gewinnen und sich von der einstigen Ideologielastigkeit absetzen muss, ist eine wichtige Lehre der Demoskopen. Kleine Zeichen gibt es viele. In „Neue Zeiten. Neue Antworten“, einem Impulspapier des Bundesvorstandes vom April 2018, argumentierte man erstmals nicht mehr kategorisch gegen die Grüne Gentechnik, sondern räumt ihr Chancen für die Lösung der globalen Ernährung gerade in vom Klimawandel gezeichneten Regionen ein. Und am 24. März 2019 sagte Robert Habeck in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Sätze, bei denen sich mancher Marktwirtschaftler verwundert die Augen gerieben haben dürfte: „Das Versprechen, dass der Markt der Gesellschaft Wohlstand bringt, muss wiederbelebt werden. Ganz in der Tradition eines Ludwig Erhard.“
Erhard und die Soziale Marktwirtschaft, war das was? Anything goes mit Blick auf die Regierungsbeteiligung 2021. Auch wenn Habeck nur eine Woche später in der Welt am Sonntag Enteignungen von Berliner Wohnungskonzernen als Ultima Ratio rechtfertigte und Inlandsflüge hinterfragte (obwohl mittlerweile aktenkundig ist, dass seine Wähler in punkto Flugmeilen ganz vorn mitspielen).
Wieviel ökologisch definierte Einschränkungen – darum scheint es für die Partei gerade zu gehen – verträgt also der Einzelne, ohne diese als Verbote wie beim „Veggie Day“ 2013 zu interpretieren?
Wie alles begann
Wer Fotografien und Programmentwürfe aus der Gründungsphase der Grünen betrachtet, mag nostalgisch werden. Als sie 1983 mit einer Mischung aus Ökologie, Feminismus und Pazifismus in den Deutschen Bundestag einzogen, überreichte Petra Kelly Helmut Kohl zu dessen Wahl als Kanzler keine Blumen, sondern einen Nadelzweig in Anspielung auf die Debatte um das Waldsterben. Ein bemerkenswertes, ein sehr deutsches Bild.
Wenn die Grünen heute nicht nur sieben Jahre Regierungsverantwortung zwischen 1998 und 2005 vorzuweisen haben, sondern auch in elf von 17 Landesparlamenten mitregieren, belegt das den vielbeschworenen Marsch durch die Institutionen. Doch ist es weniger die Fähigkeit zum Regieren, die das derzeitige Selbstbewusstsein der Partei ausmacht. Es ist vor allem die Gewissheit, dass grüne Themen mittlerweile überall auf Zuspruch treffen, ja im Grunde widerspruchslos geworden sind.
Dabei erscheint es unerheblich, ob dies der Zuspitzung einer ökologischen Krise geschuldet ist. Oder aber dem Umstand, dass die Ökologie zu einer Art Leitschnur in einer Welt des Konsums und grenzenloser Mobilität, aber sich auflösender Milieus und politischer Weltentwürfe geworden ist. Wer mag sich allen Ernstes der Forderung entziehen, unsere Lebensgrundlagen zu schützen?
Alle gesellschaftlichen Großthemen an der Schnittstelle von Natur und Technik seit den 1980er Jahren spielen darum mit dem impliziten Vorwurf, dass wir diesbezüglich im Grunde nicht genug unternähmen. Seien es die Debatten um die Kernkraft und den Kohleausstieg, die Veränderung der Schöpfung durch „Ackergifte“ wie Glyphosat oder die Genschere CRISPR/Cas: Erst die Grünen haben sie zum Programm erhoben. Und ihre Geisteshaltung ist, wenn man die Wähler nicht durch Verbotsausrutscher irritiert, im Grunde nicht mehr kritisierbar. Darin liegt, auch gemessen an hinfällig gewordenen Formeln anderer wie „Freiheit“ oder „Wohlstand“ (die müssen offenbar nicht mehr täglich erkämpft werden) ihr politischer Vorteil.
Zwischen „Landlust“ und Bio-Markt
Der gegenwärtige Wohlstand, aber auch unsere eigene Zerrissenheit, sind das beste Beet, auf dem grüne Anliegen gedeihen können. Der ZEIT-Journalist Henning Sußebach, der für das Konsumklima des Prenzlauer Berg einmal den Begriff „Bionade-Biedermeier“ erfand, hat in seinem Buch „Deutschland ab vom Wege“ beschrieben, wie der Rückzug ins Private und der Siegeszug grünen Denkens miteinander zusammenhängen. Man könnte auch sagen: wie grüner Internationalismus und Anti-Materialismus der Achtziger zu einer konsumbejahenden, ja geradezu über den Konsum distinguierenden sozialen Bewegung geworden sind.
So fragt der Autor mit einigem Recht, wann er jemals die Konsequenzen für seine moralischen Überzeugungen wie den Atomausstieg tragen musste, von einer zu verschmerzenden Erhöhung seiner Stromrechnung abgesehen. Mit dem Bahnhof vor der Tür sei der klimabedingte Verzicht aufs Auto leicht gefordert. Gerade auf dem Land werde heute umgesetzt, was den Städtern ein moralisch integres Leben ermögliche.
Dabei war die städtische Entfremdung noch nie so sehr mit Händen zu greifen. Kaum ein Schüler, der bei der durch die schwedische Schülerin Greta Thunberg initiierten Bewegung „Fridays for Future“ gegen die globale Erwärmung demonstriert, dürfte noch die vier Hauptgetreidearten auseinanderhalten können. Oder Karpfenartige wie Karausche und Schleie. Oder die Flugbilder von Milan, Bussard, Rohrweihe; ein beliebter Test meines Vaters auf den Mecklenburger Feldern der Achtziger, bevor es ins Schilf zum Angeln ging.
Zudem waren – bildlich – wohl noch nie so viele Erwachsene mit Gummistiefeln zu sehen wie heute. Sie tragen Namen wie „Hunter“ und „Aigle“. Der Lifestyle des Landes und der Jagd hat offenkundig auch dort Fuß gefasst, wo man sich zunehmend fleischlos ernährt, keiner Wespe und keinem Unkraut mit Chemie auf den Leib rücken möchte. Und auf betonierten Wegen statt durch Dung läuft.
Die Sorge um die Natur, so scheint es, steht mittlerweile in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zum Wissen über die Natur. Mag Annalena Baerbock in programmatischen Statements zur Außen- oder Wirtschaftspolitik darum auch schwimmen: Es tut dem Grundgefühl vieler Wähler keinen Abbruch, dass sie anders als etwa die so bezeichneten „Marktliberalen“ per se auf der richtigen Seite steht. Dort, wo auch die Initiatoren des Volksbegehrens „Rettet die Bienen“ in Bayern stehen. Oder die Demonstranten von „Wir haben es satt“. Oder eben die „Fridays for Future“-Bewegung.
Eine „Prophetin“ namens Greta
Das eigentlich Bedenkliche hinter einem Medienphänomen wie Greta Thunberg ist deshalb auch nicht die Ernsthaftigkeit des adressierten Themas. Und nicht die Angst von Schülern hinsichtlich der Zukunft des „blauen Planeten“, von der die Band Karat in meiner Kindheit 1982 ganz ähnlich sang – genau wie Gänsehaut mit „Karl der Käfer“ im Westen. Es ist das Kalkül, mit dem Teile von Politik und Wissenschaft die Schülerproteste als „enormen Rückenwind“ – so Bundesumweltministerin Svenja Schulze am 24. März 2019 im Deutschlandfunk – für eigene Ziele nutzen und Greta Thunberg gar zu einer „Prophetin“ stilisieren; so geschehen durch Katrin Göring-Eckardt, die immerhin von 2009 bis 2013 Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland war und somit weiß, was sie sagt, wenn sie ein solches Wort in den Mund nimmt.
Auch der Berliner Bischof Heiner Koch griff zu biblischen Metaphern und verglich Greta zu Beginn der Karwoche gar mit Jesus; die Freitagsdemos erinnerten ihn an die Szene vom Einzug des Heilands in Jerusalem. Geht es nicht eine Nummer kleiner? Und warum nur schauen Eltern, die ansonsten kaum noch das kindliche Raufen oder Werfen von Sand auf dem Spielplatz ertragen, ohne einzuschreiten, der medialen Dauerzurschaustellung einer Minderjährigen applaudierend zu?
Nicht zuletzt irritiert an all dem die zunehmend akzeptierte Umkehrung der Meinungspluralität hin zu einem Meinungskanon, bei dem Argumente nicht mehr hinterfragt werden, sobald sie den Status ökologischer Relevanz erreicht haben.
Moral als Geste
Stereotype helfen uns, die Komplexität der modernen Welt zu reduzieren, uns ihren Widersprüchen nicht oder weniger aussetzen zu müssen. Wenn man allerdings auf das Ende einer solchen Entwicklung blickt, könnte die weltanschauliche und quasi-religiöse Aufladung grüner Themen dazu führen, dass wir in Vermeidung eines Disputs immer öfter zum Polieren der Oberflächen neigen.
„Offenbar kommt es gar nicht so sehr darauf an, ob jemand moralisch ist oder nicht“, schrieb Moritz Freiherr Knigge, der Nachfahre des berühmten „Benimm-Knigge“ in einem Buch. „Was zählt, ist vielmehr, ob ihm seine moralische Selbstdarstellung überzeugend gelingt. Ob er, mit anderen Worten, moralisch wirkt. Und zwar auf ein Publikum, das ausgesprochen empfindlich ist und schon kleine Verstöße als Zeichen für moralische Verkommenheit wertet.“
Das einzig Beruhigende am Geist unserer Zeit ist: All das ist nicht ganz neu. Schon vor einhundert Jahren sprach Max Weber bekanntlich von „Charisma“ und meinte damit, dass in Gesellschaft und Politik modernen Zuschnitts immer weniger klar definierte Kompetenzen dafür maßgeblich seien, ob Menschen anderen folgten oder nicht. Sondern vor allem der durch einen bestimmten Habitus begründbare Glaube, dass er oder sie das Richtige tue.
Vielleicht antizipierte er dabei auch ein Stück weit die Grünen unserer Tage.
Foto: Trumpf
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