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Das Kriegsende und die Frauen

» Die Empathie muss allen Opfern gelten «

Miriam Gebhardt über die Vergewaltigungen deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs, das Schweigen der männlichen Historiker und den besonderen Blick der Frauen auf die Geschichte

12.05.2015

Mit Ihrem Buch „Als die Soldaten kamen“ hat die Historikerin und Journalistin Miriam Gebhardt in den letzten Monaten große Aufmerksamkeit im In- und Ausland erfahren. Ein Gespräch über ein lange unterdrücktes Thema und die Reaktionen auf das Buch.

Frau Gebhardt, wie kamen Sie dazu, sich mit der Vergewaltigung deutscher Frauen bei Kriegsende zu befassen?
Mich haben in meiner Arbeit als Historikerin immer schon die unterdrückten Diskurse interessiert. In diesen Kontext gehört auch das Schicksal der deutschen Frauen bei Kriegsende. Bei der Recherche zu diesem Thema ist mir rasch klar geworden, dass wir dazu zwar konkrete Bilder im Kopf haben, dass diese jedoch immer einseitig sind. So sind die Untaten der Roten Armee bei der Flucht und Vertreibung der Ostdeutschen und bei der Eroberung Berlins durchaus im öffentlichen Bewusstsein, während die Vergewaltigungsopfer der westlichen Alliierten bis heute kein Gehör gefunden haben. Das hat mich dazu motiviert, mich mit diesem sehr unangenehmen und auch belastenden Thema zu beschäftigen.  

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass ein Thema, über das im Grunde auch im Westen jeder Bescheid wusste, 70 Jahre lang öffentlich verschwiegen worden ist?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen wurde im Westen jahrzehntelang das Bild des strahlenden Befreiers gepflegt, in dessen Gefolge Wohlstand und Demokratie in unser Land kamen, und der dann zu einem politischen Verbündeten wurde. Dieses Bild einzutrüben war durchaus schwieriger als bei den Rotarmisten, die nicht nur in der Nachkriegszeit der Feind waren, sondern auch schon zuvor von der Goebbelsschen Propaganda als „asiatische Bestie“ bezeichnet worden waren.

Das zweite Hauptproblem war meines Erachtens, dass sich an den von westlichen Soldaten vergewaltigten Frauen das Moralverständnis der Nachkriegszeit festgemacht hat. Nämlich die Frage, ob sie es vielleicht selbst gewollt haben, ob sie vielleicht „Ami-Liebchen“ waren, ob sie den eigenen Männern in den Rücken gefallen sind usw. Dieses Verdikt wollte keine Frau riskieren, weshalb die Opfer der westlichen Soldaten noch weniger über ihr Schicksal gesprochen haben als die der Roten Armee.

Gab es zwischen Osten und Westen Unterschiede in der Art und Weise, wie es zu den Vergewaltigungen kam?
Bei den Taten der Rotarmisten hat sicherlich eine Rolle gespielt, dass die Kämpfe an der Ostfront zuvor wesentlich brutaler geführt worden waren als im Westen. Gleichwohl hat mich überrascht, dass sich die Abläufe der einzelnen Taten insgesamt sehr geähnelt haben; dass es auch bei den US-Soldaten sehr häufig Gruppenvergewaltigungen gab; dass diese auch immer eingebettet waren in Plünderungen; dass Waffengewalt angewendet wurde, indem dem Mann oder den anwesenden Kindern die Waffe an den Kopf gehalten wurde, während andere Soldaten sich über die Frauen hermachten. Solche Geschichten finden wir nicht nur bei den Russen in Ostpreußen oder Berlin, sondern auch bei den US-Amerikanern in Oberbayern und auch in sehr exzessiver Form bei den Franzosen im Südwesten.

Was in Ost und West ebenfalls gleich war, war die Hilflosigkeit der deutschen Nachkriegsbehörden gegenüber ihrer jeweiligen Besatzungsmacht. Gab es denn Unterschiede in dem Umgang der Besatzungsbehörden mit den Vergewaltigungen?
Die Besatzungsarmeen an sich hatten allesamt kein Interesse, dass es zu solchen Taten kommt; nicht zuletzt, weil sie als moralisch überlegene Macht dastehen wollten. Hinzu kam – zum Teil auch noch nach dem Ende der Kampfhandlungen – die Angst vor Infiltration und Spionage durch deutsche Frauen im Dienste von Freischärlern, Stichwort Werwölfe, weshalb auf allen Seiten ein „Fraternisierungsverbot“ verhängt wurde. Und so finden wir durchaus bei allen Besatzungsmächten Todesurteile und langjährige Arbeitshaftstrafen für Vergewaltiger. 

Das Problem war jedoch in den meisten Fällen die Überführung der Täter. So finden sich Beispiele, wo sich Vorgesetzte vor ihre Soldaten gestellt und gesagt haben, „der hatte ja zum fragwürdigen Zeitpunkt gar keinen Ausgang und kann es gar nicht gewesen sein“. Insofern war auf der rein formal rechtlichen Ebene die Gefahr der Bestrafung tatsächlich groß; auf der praktischen Ebene jedoch wurden die Taten nur selten geahndet.

Wie war die Resonanz auf Ihr Buch?
Am Anfang wurde vor allem über meine Opferzahlen diskutiert, für deren Schätzung ich eine neue Berechnungsgrundlage vorgelegt habe. Diese Zahlen waren nicht ganz so hoch wie frühere, oftmals vage geschätzte Annahmen. Mein Anliegen war es jedoch nicht, die Opferzahlen in irgendeine Richtung zu bewegen, sondern die Anerkennung der Tatsache, dass wir es hier mit der größten Massenvergewaltigung der Geschichte zu tun haben, und darauf hinzuweisen, dass ein ganz großer Teil der Betroffenen bis heute keine gesellschaftliche Anerkennung und keine Empathie erfahren hat.

Mittlerweile wird weniger über die Zahlen geredet. Ich erhalte viele Zuschriften von Betroffenen selbst und auch von Angehörigen, die sich dankbar dafür zeigen, dass das Thema jetzt auf den Tisch kommt; quasi im letzten Moment, bevor die letzten Zeitzeugen sterben.

Und wie hat die historische Fachwelt auf Ihr Buch reagiert?
Ich habe bislang eine bestätigende Aussage von dem US-Kriminologen J. Robert Lilly erhalten, der sich systematisch mit den Verge waltigungen der US-Soldaten und mit den Gerichtsakten auf amerikanischer Seite beschäftigt, und meine Zahlen für plausibel hält. Bis die Fachrezensionen in der Forschungsliteratur kommen, muss ich mich noch gedulden. Das dauert in der Regel mindestens ein halbes Jahr.

Aber es hätte doch sein können, dass zum Beispiel ein Kollege anruft und sagt: „Toll, dass Sie das Thema aufgegriffen haben“.  
Es ist interessant, dass Sie das sagen, denn bislang war das noch nicht der Fall. Das kann entweder daran liegen, dass Universitätsprofessoren wirklich viel zu tun haben und in puncto Neuerscheinungen nicht immer unbedingt auf dem Laufenden sind, oder an der Verblüffung darüber, dass ein Impuls wie meiner aus der außeruniversitären Welt – ich bin ja außerplanmäßige Professorin – kommt. Wie begeistert die Zunft reagieren wird, muss ich also noch abwarten. Letztlich finde ich es wichtig, dass das von mir beschriebene Thema nicht nur von ein paar Spezialisten diskutiert wird, sondern in der breiten Öffentlichkeit.

Die Bewältigung der NS-Verbrechen, ihre schonungslose Offenlegung und – wo möglich – Wiedergutmachung, gehört inzwischen zum Selbstverständnis unseres Landes. Hat diese Vergangenheitsbewältigung ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn allerorten über deutsche Schuld und deutsche Täter gesprochen wird – und deutsche Opfer zugleich beschwiegen werden?
Durchaus. Ich denke auch, dass eine wirklich tiefe Empathie allen Opfern gelten muss – sowohl denen der „eigenen“ Taten, als auch den eigenen Landsleuten gegenüber. Wir haben viel zu lange eine Art Ausschließlichkeitsgedanken gepflegt: Entweder wir beschäftigen uns mit den Verbrechen der Deutschen oder mit den Verbrechen an Deutschen. Dieses Entweder-Oder ist nicht mehr angemessen.
Ich halte dies auch für eine wichtige Voraussetzung, um adäquat mit Flüchtlingen umzugehen, die in der Gegenwart sexueller Gewalt zum Opfer gefallen sind. Denn auch heute werden Frauen in Kriegsgebieten immer wieder massenhaft vergewaltigt. 

Neben Ihrem Buch gibt es derzeit einige Neuerscheinungen, die sich mit dem Schicksal der Frauen, aber auch der Kriegs- und Nachkriegskinder sowie der Heimkehrer befassen. Was dabei auffällt ist, dass diese Arbeiten fast ausnahmslos von Frauen stammen. Sehen Frauen die Geschichte tatsächlich anders als Männer?
Ich bin ich mir ganz sicher, dass es einen unterschiedlichen Blick auf die Geschichte gibt, und dass dieser mit den Geschlechterrollen zu tun hat. Die Frauen werden seit Generationen eher zu einer empathischen Haltung erzogen, während von den Männern in der Regel erwartet wird, Gefühle eben nicht zu zeigen. Dass Frauen anders auf die Geschichte schauen, ist deshalb keine Überraschung. Der Blick der Männer richtet sich zumeist auf die Fakten und Ereignisse, zum Beispiel auf Strategien und Schlachtenverläufe in einem Krieg. Was dieser Krieg jedoch in denen anrichtet, die ihn durch- und überleben, sehen die männlichen Kollegen meistens nicht.

In den letzten Jahren hat sich der ursprünglich in der DDR geprägte Begriff vom „Tag der Befreiung“ für den 8. Mai 1945 auch im Westen durchgesetzt. Sollten wir angesichts Ihrer Erkenntnisse nicht besser darauf verzichten, Begriffe wie „Befreier“, „Besatzer“ oder auch später „Beschützer“ pauschal zu gebrauchen?
In der Tat. Dafür war das Kriegsende auf allen Seiten einfach zu ambivalent. Das Bild von der Zivilbevölkerung, die aufatmet, weil sie vom Nationalsozialismus befreit wurde, ist nur teilweise zutreffend, zumeist auch nur für diejenigen, die von den Nazis verfolgt worden waren, während der Großteil der Bevölkerung eher deswegen aufgeatmet hat, weil der Krieg endlich vorbei war.

Zu dieser Ambivalenz gehört im übrigen auch das Bild der „Befreier“, die in ihren Herkunftsländern aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten kamen und diesen Hintergrund nach Deutschland mitbrachten. Insofern ist der strahlende GI, der auf dem Panzer sitzt und von der Zivilbevölkerung mit Blumen beworfen wird, nur eine Ikone, die mit der historischen Wirklichkeit kaum etwas zu tun hat.


  • Miriam Gebhardt
    Als die Soldaten kamen
    Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs
    352 Seiten, DVA 2015, ISBN 3-421-04633-6, 21,99 Euro
  • www.miriamgebhardt.de