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Gedanken zum Wahlkampf in den USA

Die Implosion der Mitte

Nach dem Zweikampf Clinton gegen Trump: Warum dieser Wahlkampf die USA mittelfristig lähmen und längerfristig heilen kann

Ansgar Graw01.11.2016

Es ist der 9. November 2016, ein Mitt­­wochmorgen, die schmutzigs­te Präsidentschaftswahl in der Geschichte der USA ging am Vortag zu Ende, Barack Obamas Nachfolger im Oval Office steht fest – und doch werden die schrillen Töne und wechselsei­tigen Anschuldigungen der vergangenen Monate noch lange nicht verstummen. Die Denun­ziation hat sich eingenistet in der amerikanischen Politik. 

Das Problem der USA ist nicht ein Wahlkampf, der außer Kontrolle geraten ist. Das Problem der USA ist, dass die Nation den kleinsten gemeinsamen Nenner verloren hat. Demokratische Gesellschaften sind stabil, weil sie ein verbindendes Fundament haben, das dem Wähler auch im Fall der Niederlage seiner Partei attraktiver er­scheint als das Ausscheiden aus der Ge­sell­schaft. 

Doch bei einem großen Teil der ameri­kanischen Wählerschaft ist die Bereitschaft nicht mehr vorhanden, eine Wahlniederlage als schmerzliche, aber nun einmal im Rahmen des Möglichen liegende Alter­nati­ve zum erhofften Wahlsieg zu akzeptieren. Amerikas Rechte ist nach rechts gewandert und Amerikas Linke nach links. Die Nation erinnert an ein Zeltdach, das in beide Richtungen mit wachsender Kraft gestreckt wird. Dadurch ist das Gewebe überspannt, es droht zu reißen.

Zukunft oder Untergang

Wie konnte es so weit kommen in einem Land, dessen System unterschiedliche Mehr­heiten im Weißen Haus und im Kon­gress, also die Idee des divided govern­ment, eher als Regel denn als Ausnahme betrach­tet hat? Ronald Reagan musste sich mit den Demokraten und Bill Clinton mit den Republikanern verständigen, und bei­­de machten aus der Not unklarer Mehrheitsverhältnisse eine Tugend.

In jedem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf versichern die Kandida­ten, speziell dieses eine Mal gehe es nicht um eine simple Entscheidung zwischen zwei Angeboten, sondern um Wohl und Wehe der gesamten Nation, um Zukunft oder Untergang. In der Schlammschlacht zwischen Hillary Clinton und Donald Trump wurde diese apokalyptische Rhetorik aber massiv verschärft. Noch nie haben sich zwei Bewerber fürs Weiße Haus in Präsidentschaftsdebatten wechselseitig so unablässig beschuldigt, nicht über die charakterliche Voraussetzung für das Amt zu verfügen und „Lügner“ zu sein. Und noch nie hat ein Kandidat dem anderen in einer TV-Debatte eine Gefängnisstrafe für den Fall seines Wahlsieges angedroht.

Die zur Trickserei neigende Demokratin Clinton muss sich eine Verquickung der Interessen der familiären Clinton Foundation mit denen der US-Außenpolitik vorwerfen lassen. Hinzu kommen ihr vorschriftswidriger und extrem leichtsin­niger Umgang mit dem privaten E-Mail-­Account und ihre falsche Informationspo­litik zu Bengasi. Aber Clinton ist gleich­wohl eine erfahrene, professionelle Politikerin, deren Eignung für das Amt unstrittig ist.

Der Republikaner Trump hingegen war ein Kandidat ohne jedes Wissen und ohne die Bereitschaft zu lernen, ohne menschlichen Anstand und ohne Aufrichtigkeit. Der ausgemachte Narzisst weiß Lüge nicht von Wahrheit zu unterscheiden und hat Arsen ausgeteilt in einer ohnehin vergifteten innenpolitischen Situation.

Aufruf zum Aufstand

Das System sei „manipuliert“ und die ­Massenmedien arbeiteten mit den Demo­kraten zusammen, um Clinton den Sieg zuzuschanzen, der gemessen am großen Zulauf zu seinen volkstribunalen Auftritten eigentlich ihm sicher sei, hat Trump immer wieder behauptet. Er erklärte dem „System“ den Krieg, und aus dieser Logik heraus rief drei Wochen vor dem Wahltag ein prominenter und gewählter Gesetzeshüter aus dem Trump-Lager zum ­Aufstand auf. „Es ist unglaublich, dass unsere Regierungseinrichtungen und große Medien korrupt sind und wir nichts tun als zu schimpfen. Zeit für Mistgabeln und Fackeln“, twitterte Sheriff David A. Clarke aus dem Milwaukee County im Bundesstaat Wisconsin. Clarke fügte das Bild eines aufgebrachten Mobs hinzu, bewaffnet mit Mistgabeln, Fackeln und Knüppeln.

So etwas kommt bei der Trump-Klientel an. Dabei handelt es sich zumeist um einfache weiße Arbeiter, gesetzestreu, pa­triotisch, christlich, die seit mindestens einem Jahrzehnt Reallohnverluste hinnehmen und zugleich registrieren müssen, dass beide Parteien sie im Stich gelassen haben. Die Republikaner haben auf ihrem Rücken Politik für die Besserverdienenden gemacht, und die Demokraten kümmern sich um Hispanics und Schwarze sowie um Schwule, Lesben und Bisexuel­le, aber nicht um die weiße Arbeiterklasse. Jetzt ist diese Wählerschicht aufgestanden.

Im Wahlkampf 2016 standen sich die beiden unbeliebtesten Kandidaten aller bisherigen Präsidentschaftsrennen gegen­über. Aber die Polarisierung der amerikani­schen Nation hat nicht mit der geplanten, zunächst aber durch den inner­par­tei­li­chen Konkurrenten Bernie Sanders gefährdeten Nominierung Clintons und im anderen Lager mit dem völlig ungeplanten Coup von Trump begonnen.

Bereits unter George W. Bush war ein tiefer Graben zwischen den Parteien entstanden. Unter seinem Nachfolger Barack Obama wurde die Spaltung noch tiefer. Das lag teilweise an Obamas nur halbherzigen Versuchen, die Republikaner in seine ­Re­formpolitik einzubinden und ihnen Zugeständnisse anzubieten. Entschei­den­der aber war, dass die Tea Party als neue politische Macht eingriff und die „Grand Old Party“ kaperte. Der Kompromiss, ohne den eine Demokratie nicht auskommt, geriet zum Schimpfwort. Totalopposition wur­de das neue Markenzeichen einer neuen repu­blikanischen Politiker-Generation. Symptomatisch für sie ist der texanische Senator Ted Cruz, der es in Washington auf die Blockade der Regierung anlegte und von vielen seiner Parteifreunde deshalb gehasst, aber von seinen Wählern verehrt wurde. Bis Trump kam, der Cruz’ Radika­lität noch übertraf und der politischen Kor­rektheit den Garaus machte. Eine Rückkehr zu einer prinzipienfesten Politik, wie sie eine Supermacht der Welt schuldet, wird schwierig sein. So hat der Wahlkampf den Freihandel nachhaltig denunziert. Zunächst wetteiferten Sanders, der selbstetikettierte „demokratische Sozialist“, und Trump, wer schärfer gegen den Freihandel zu agitieren wusste.

Rasch schwenkte die Opportunistin Clinton auf diese Rhetorik der ökonomischen Abkapselung ein. Das hat Fakten geschaffen. Das eigentlich schon ausgehandelte transpazifische Partnerschaftsabkommen TPP, von Clinton einst als „Goldstandard“ gepriesen, wird in absehbarer Zeit nicht umgesetzt werden, während die vergleichbare transatlantische Vereinbarung TTIP auf EU-Seite weitgehend torpediert wurde.

Ähnlich sieht die Situation beim The­ma Einwanderungsreform aus. Auch unter Republikanern wie Marco Rubio und gar Ted Cruz herrschte lange Zeit der Konsens, man müsse den rund elf Millionen ille­ga­len Immigranten einen Weg zu einem lega­len Aufenthalt eröffnen. Doch mitt­ler­wei­le hat Trumps Ankündigung, eine Mauer zu bauen und die Illegalen zu depor­tieren, auf Jahre hinaus jede konstruk­tive Reform unmöglich gemacht. Republikani­sche Abgeordnete oder Senatoren, die für eine solche Politik einträten, müss­ten fürchten, von einem internen Tea-­Par­ty-­Herausforderer weggefegt zu werden.

Als Folge der verhärteten innenpolitischen Fronten wird Washington in den kommenden Jahren nur sehr bedingt in der Lage sein, bei der Lösung globaler Kri­sen zu führen. 

Die amerikanische Nation als kranker Mann der Weltpolitik – diese Diagnose ist niederschmetternd und die Therapie schwierig. Aber es gibt Möglichkeiten, die USA wieder zu einen, zumindest wenn die Präsidentin Hillary Clinton heißt.  

Ihr wichtigstes Ziel muss eine möglichst überparteiliche Politik sein. Statt den Sozialstaat auszuweiten, sollte Clinton ausgeglichene Haushalte und die mit­tel­fristige Reduzierung der hohen Verschuldung von fast 20 Billionen Dollar anstreben. Die von ihr angestrebte Steuer­­­­­­er­hö­­hung für die Spit­zen­­ver­diener passt in dieses Kon­zept, solange die Zusatz­belas­tung nicht so hoch wird, dass sie das dringend benötigte Wachstum drosselt.

 Tröstlicher Gedanke

Möglicherweise würden sich über eine solche Politik, die nicht parteipolitischen Ideologien, sondern der Vernunft folgt, beide große Parteien zerlegen. Eine Aufspaltung der Republikaner in die Erzkonservativen um Cruz, die Reformkonser­vativen um Rubio und die Wutbürger um Trump ist nicht nur denkbar, sondern wünschenswert. Sie wäre für die „Grand Old Party“ leichter hinzunehmen, wenn sich die Demokraten zugleich in Sozial­revolutionäre um Sanders und Sozialdemokraten um Clinton aufteilen würden. Hispanics, Asiaten und Millennials vergrößern die Diversität der USA, deren Gesellschaft vom faktischen Zweiparteiensystem nicht mehr in ausreichendem Maße reprä­sentiert wird. 

Darum steht ein fast tröstlicher Gedan­­ke am Ende: Wenn Trumps beispiellose Provokationen zu einer Spaltung der ­Republikaner und längerfristig zu einem tatsächlichen Mehrparteiensystem führen sollten, hätte sich der ungehobelte Milliar­där nachhaltigeVerdienste um die USA erworben. Mittelfristig jedoch bleiben die Vereinigten Staaten gefährlich pa­ra­lysiert.