Standpunkt
Die Jugend braucht uns nicht …
… aber wir sie. Wichtig seien authentische Kontakte und eine Beziehungspflege auf Augenhöhe, meint Michael Schulte-Markwort, aber das ließe zu, infrage gestellt zu werden – ein ziemlich unbequemes Resultat.
Diskussionen über die Bedeutung von Interact für Rotary sind wichtig und ein Beispiel dafür, wie sich der Dialog der Generationen verändert. Viele Erwachsene, viele Unternehmer, haben derzeit den Eindruck, dass die jungen Leute der Generation Z (Zero), die ersten „Digital Natives“, angeblich immer online, ungeduldig sowie gesundheits- und umweltbewusst sind – und dass sie auch, ähnlich wie die Generation Y, im Einstellungsgespräch zuerst nach der Work-Life-Balance fragen. Das wird oft mit weniger Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit gleichgesetzt.
Eigenen Blick und Haltung überprüfen
Rotary lebt von der Gemeinschaft und der lebendigen Vernetzung. Rotary lebt vom Nachwuchs. Und Rotary tut sich schwer, Letzteren wirklich und authentisch aufzunehmen. Wenn jetzt über Schwierigkeiten debattiert wird, die offensichtlich viele Regionen bei der Gründung und Erhaltung von Interact Clubs haben, dann wird sofort über eine veränderte Jugend gesprochen. Eine Jugend, die vermeintlich pandemiegeschädigt ist, eine Jugend, die hinter ihren Smartphones verschwindet, eine Jugend, die unverbindlicher geworden ist. Eine Jugend, die sich nur schwer für Rotary gewinnen lässt. An dieser Stelle könnte jetzt eine Analyse des jugendlichen Verhaltens folgen, verbunden mit Vorschlägen, wie sich Interact erfolgreicher organisieren lässt. Das zu tun, wäre eine Fortsetzung des grundlegenden, dahinter liegenden Dilemmas. Deshalb möchte ich vorschlagen, den eigenen Blick und die eigene Haltung zu überprüfen.
Als Kinder- und Jugendpsychiater bin ich vertraut damit, wie schnell wir Erwachsenen die Jugend verlorener Werte verdächtigen. Menschheitsimmanent ist unser Blick auf die nachfolgende Generation defizitorientiert. Wir nehmen einen Verlust von Werten wahr, wir fürchten weniger Verbindlichkeit, mehr Regellosigkeit, gar Verwahrlosung. „Die Jugend von heute ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.“ So lautet ein bekanntes Keilschrift-Zitat aus der mesopotamischen Stadt Ur, circa 2000 vor Christus. Wer in diesen Kanon einstimmt, setzt die Generationenbrüche fort, ist misstrauisch der Jugend gegenüber und vertreibt sie, statt sie zu gewinnen.
Wir Rotarier stehen für konservative Clubs, die ihre Werte verteidigen und sich davor fürchten, sich nicht verjüngen zu können – was für ein größenwahnsinniger Wunsch! Zudem: Dieser Verjüngungsgedanke ist nur selten verbunden mit dem Nachwuchs von Interact oder Rotaract Clubs. Umgang und Pflege mit ihren Mitgliedern ist vielerorts getragen von der Haltung, jungen Menschen etwas Gutes zu tun. In diesem Wohltätigkeitsgedanken steckt schnell eine Entmündigung. Ein authentischer Kontakt und eine Beziehungspflege auf Augenhöhe würden zulassen, infrage gestellt zu werden. Dann würde deutlich werden, wie unklar unser Motiv ist, Interact zu gründen und zu unterstützen. Was sollen denn Sinn und Ziel von Interact sein? Lernen, Helfen, Feiern sind Ziele, die so losgelöst aus jeglichem Kontext nicht attraktiv erscheinen. Viele Jugendliche leiden unter der Dienstleistungswüste Schule, leben in einem engen Korsett aus Lernen, moralischen Kategorien und der Mühe, die soziale Netze jeden Tag aufs Neue auslösen. Die Strukturen, die bei Interact gelebt werden sollen, sind lediglich eine Kopie von Rotary. Eine Aufnahme von Interact-Mitgliedern in die „rotarische Familie“ bleibt sinnenentleert, solange nicht geklärt ist, wozu diese Familie – neben der eigenen in der Regel als anstrengend erlebten – gut sein soll. Wird man dann automatisch in Rotaract aufgenommen oder gibt es einen Weg von Interact zu Rotary? Viele komplexe Fragen, die unbeantwortet bleiben.
Reflektiert, vernünftig und zugänglich wie noch nie
Die Jugend von heute ist so reflektiert, vernünftig und zugänglich wie noch nie. Sie zeigt uns, wie engagiert und zukunftsorientiert, aber auch wie geängstigt sie auf das reagiert, was wir Erwachsenen vorhalten und vorleben: eine Welt der Kriege und der Klimakrise. Es gibt genügend Gründe, auf diese Jugend zuzugehen und sie zu fragen, was sie brauchen. Wie wir helfen können. Was wir von ihnen lernen können. Feiern werden wir dann getrennt … Wenn es uns gelingt, einen Haltungswechsel zu vollziehen, mit dem wir wertschätzend und respektvoll auf Jugendliche zugehen, sie fragen, ob sie etwas von uns möchten, dann könnte ein Dialog entstehen, der kreatives Potenzial zutage fördert. Sinn entsteht nur mit einem authentischen, wahrhaftigen Dialog, der möglicherweise ein identitätsstiftendes Narrativ begründet – für beide Seiten. Es könnte aber auch sein, dass die Jugend nichts von uns möchte. Das wäre dann unser Problem.
Diskutieren Sie mit und beteiligen Sie sich an unserer Meinungsumfrage zu diesem Standpunkt: rotary.de/#umfrage
Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort, Rotary Club Hamburg- Lombardsbrücke