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Erster Weltkrieg

Die Legende von der einen Urkatastrophe

Dieser Tage erinnert sich Europa an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor einhundert Jahren. In Deutschland gilt der Krieg gemeinhin als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«. Der Historiker Thomas Weber erinnert auf den folgenden Seiten daran, dass es auch andere Ursachen für die verhängnisvollen Entwicklungen nach 1914 gab.

Thomas Weber15.08.2014

Nur in Deutschland ist das Wort in aller Munde: Diplomaten, Historiker, Bischöfe, Publizisten und Ausstellungsmacher überbieten sich derzeit mit der Charakterisierung des Ersten Weltkriegs als „Ur-Katastrophe“ – ein Begriff, von dem zwar manche wissen, dass er von George F. Kennan stammt, aber kaum einer, dass er ihn nur in einer Spezialstudie über die französisch-russischen Beziehungen gebraucht hat.

Und so ergibt eine Nachrichtenrecherche bei Google wenige Tage vor dem hundertsten Jahrestag des Weltkriegsausbruchs etwa 2800 Artikel, in denen „Urkatastrophe“ vorkommt. Eine Suche nach dem englischen Begriff „seminal catastrophe“ bringt hingegen nur 38 Ergebnisse hervor. Und lediglich zwei französischsprachige Artikel verweisen unter „catastrophe originelle“ auf Kennan. Überdies wird in einem Teil der englisch- und französischsprachigen Artikel nur deshalb Kennans Begriff gebraucht, weil hier deutsche Quellen zitiert werden.
Die Begeisterung für die Kennansche Urkatastrophe ist offenbar ein deutscher Sonderweg der Gegenwart. Sie erklärt sich daraus, dass im Deutschland des Jahres 2014 der Erste Weltkrieg im Grunde nur als Vorkrieg zum „richtigen“, also zum Zweiten Weltkrieg gesehen wird. „Urkatastrophe“ ist der Ersatz für die alte spätbundesrepublikanische Idee, dass der von Deutschland angezettelte Zweite Weltkrieg auf einen über viele Generationen beschrittenen illiberalen historischen deutschen Sonderweg zurückgeht. Diese Idee aber überzeugt heute nicht mehr. Wenn also Deutschland nicht schon seit der Zeit der Aufklärung auf den Abgrund hinzugesteuert ist, bietet sich der Erste Weltkrieg als Ursprung des von Deutschland verursachten Infernos der Jahre 1939 bis 1945 an.
KEINE DIREKTE BRÜCKE
Nun gelten die Entgrenzung der Gewalt und die Radikalisierungen von Mentalitäten und politischen Einstellungen während des Ersten Weltkriegs als Vorbereitung und Vorbedingung für den „richtigen“ Weltkrieg und daher als wesentlich für die „Urkatastrophe. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir jedoch, dass andere Länder aus gutem Grunde heute nicht den Urkatastrophen-Enthusiasmus der Deutschen teilen.
Natürlich wäre es vermessen, die Wirkung des Ersten Weltkriegs kleinzureden. Dennoch suggeriert der unreflektierte, inflationierte Gebrauch des Begriffs Urkatastrophe die Existenz einer direkten Brücke vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, die es in Wahrheit nicht gegeben hat. Ja, es gab noch nicht einmal die eine Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, sondern mindestens derer fünf, und es war das Aufeinandertreffen dieser fünf Urkatastrophen, das den Weg für den Zweiten Weltkrieg bereitet hat. Der Erste Weltkrieg war dabei die am wenigsten ausschlaggebende Urkatastrophe. Doch durch die deutsche Mode, nur im Ersten Weltkrieg die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zu sehen, ist der Blick auf die vier eigentlichen verstellt.
Die vielleicht wichtigste Urkatastrophe war die Transformation von multiethnischen dynastischen Reichen, wie sie bis zum 19. Jahrhundert die Norm gewesen waren, zu modernen Nationalstaaten. Diese seit der Zeit der französischen Revolution begonnene Transformation war relativ spannungsfrei überall da, wo die Grenzen der alten Reiche auf der einen und die der Siedlungsräume von Ethnien und Kulturen auf der anderen Seite mehr oder weniger deckungsgleich waren. Dort aber, wo es multiethnische Flickenteppiche gab, wie in Zentral-, Ost-, und Südosteuropa, führte die brutale Entwicklungslogik dieser Transformationsphase im günstigen Fall „nur“ zu ethnischen Säuberungen. Der Erste Weltkrieg läutete eine neue und wichtige Runde in diesem blutigen Transformationsprozess ein, aber er ist nicht seine Ursache.

Die zweite Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts war die große Krise des Liberalismus und der Globalisierung – also der westlichen Moderne, die mit dem Börsensturz des Jahres 1873 den Sprung von den Schreibstuben einiger linker und rechter Intellektueller in die breite Gesellschaft geschafft hatte. Sie endete in einem Weltkrieg der Ideologien zwischen Liberalismus, rechtem Kollektivismus und linken Kollektivismus, der zwischen 1917 und 1991 ausgetragen wurde. Ohne diesen Weltkrieg der Ideologien ist der Zweite Weltkrieg nur schwer denkbar.

RADIKALISIERUNG DER KRISE
Gewiss spielte der Erste Weltkrieg eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung der Krise der westlichen Moderne, aber revolutionäre Schriften wie „Das kommunistische Manifest“ wurden lange vorher geschrieben. Auch gab es schon im Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs Revolutionen im zaristischen Russland, im Osmanischen Reich und in Mexiko, so dass man die Rolle des Ersten Weltkriegs als Grundvoraussetzung für die Entfesselung von Revolutionen relativieren sollte.
Dennoch muss gefragt werden, ob nicht erst der Erste Weltkrieg sowohl die Krise des Liberalismus und der Globalisierung, als auch die Transformationsphase hin zu Nationalstaaten derart radikalisiert hat, dass dadurch alle folgenden Krisen und der Zweite Weltkrieg möglich wurden. Dies ist nicht ganz falsch, ignoriert aber die dritte Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, die erst nach dem Ersten Weltkrieg begann. Diese bestand darin, dass in den Pariser Vorortverträgen und anderswo versucht wurde, die Zukunft Europas auf dem Geist von 1776 und 1789 aufzubauen, also den Ideen der französischen und der amerikanischen Revolution, aber nicht auf dem Geist von 1783, also den Prinzipien des britischen Weltreichs. Statt ruhiger und gradueller reformistischer Fortentwicklung unter dem Vorzeichen einer konstitutionellen Monarchie bevorzugte man schnelle und revolutionäre Brüche hin zu Republiken.
Der Glaube an rapide und radikale Veränderung schüttete weit mehr Öl in das durch die beiden ersten Urkatastrophen gelegte Feuer als der Erste Weltkrieg selbst. Dies war auch der Fall, weil die auf dem Geist von 1776 und 1789 beruhenden Umbrüche eifrig scheinbar rückwärtsgewandte Kräfte beseitigten, die in Wahrheit aber oftmals moderat und ausgleichend waren und auch zukunftsorientierten demokratischen Veränderungen gegenüber akzeptierend waren. Dadurch wurden die neuen politischen Gebilde anfälliger für Staatsstreiche und die Verlockungen durch linke und rechte Rattenfänger.
Der Geist von 1783 hingegen hätte mit seinem Glauben an die Kraft gradueller Veränderungen und die ausgleichende Rolle von konstitutionellen Monarchien Sand aufs Feuer geworfen und deeskalierend wirken können. Das war der Weg, den deutsche Sozialdemokraten, tschechische Liberale und finnische Nationalisten noch in der Endphase des Ersten Weltkriegs gehen wollten. Woodrow Wilson und andere Wohlmeinende glaubten es besser zu wissen und schufen so ungewollt das Gegenteil des Guten, das sie erreichen wollten.

TRAGISCHE FEHLSCHLÜSSE
Die vierte Urkatastrophe ereignete sich am 20. April 1889 in Braunau am Inn mit der Geburt Adolf Hitlers. Auch wenn Hitler seine Geburt nicht überlebt hätte (oder an der Westfront des Ersten Weltkriegs gefallen wäre), wäre die Etablierung eines rechtsautoritären Staates in Deutschland freilich wahrscheinlich gewesen. Auch hätte sich der multiethnische Flickenteppich Ost- und Südosteuropas wohl kaum von allein und friedlich aufgelöst. Doch der apokalyptische Zweite Weltkrieg und der antijüdische Genozid ist ohne Hitler schwer vorstellbar, was die Mitverantwortung einer beträchtlichen Zahl Deutscher an den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts natürlich nicht infrage stellt. Aber auch hier gilt: Es war nicht der Erste Weltkrieg, der Hitler radikalisierte, wie lange angenommen worden ist – das geschah erst in der Nachtkriegszeit.

Natürlich spielte der Erste Weltkrieg in der Transformation von multiethnischen, dynastischen Reichen zu modernen Nationalstaaten, in der Krise des Liberalismus und der westlichen Moderne und in den auf dem Geist von 1776 und 1789 beruhenden Umwälzungen eine wesentliche Rolle. Auch wurde der Erste Weltkrieg im Nachhinein zur Inspirations- und Legitimitationsquelle für Hitler. Daher können wir auch den Ersten Weltkrieg getrost als eine Urkatastrophe bezeichnen. Er war aber nur die fünftwichtigste Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, da sie sich erst aus den vier anderen, für den Zweiten Weltkrieg eigentlich ursächlichen Urkatastrophen ableitet.
Die tragischste Verbindung zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg sind wohl die Fehlschlüsse aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges.

Die ausufernde Horrorpropaganda insbesondere der Briten im Ersten Weltkrieg führte dazu, dass viele Beobachter im Westen die ersten aus Osteuropa heraus sickernden Berichte über den Holocaust für eine Übertreibung hielten. Auch sah man im Ausland wie im Inland in der Internierung und der Deportation von Juden zunächst nur die Wiederholung der Vertreibungen und Deportationen des Ersten Weltkriegs, die unangemessen und brutal sein mochten, aber kein Genozid waren. Auch floh eine beträchtliche Anzahl von Juden zu Beginn der Zweiten Weltkriegs von der sowjetisch besetzen Hälfte Polens in die Arme der Deutschen, da sie tragischerweise vermuteten, dass ähnlich wie im Ersten Weltkrieg die eigentliche Gefahr für Juden von russischen Truppen ausgehen würde. Die Erinnerung war noch nicht verblasst an die Tage des Ersten Weltkriegs, als Juden in Auschwitz Viehwaggons bestiegen, um vor den vorrückenden Russen zu fliehen und in Sicherheit gebracht zu werden.

Die Katastrophe der Shoah und des Zweiten Weltkriegs wurde deshalb auch dadurch möglich, dass manche Juden und viele andere Zeitgenossen im Zweiten Weltkrieg nicht die logische Konsequenz eines eine Urkatastrophe darstellenden entgrenzten Ersten Weltkriegs sahen. Vielmehr sahen sie im Zweiten Weltkrieg fälschlicherweise die Wiederholung der begrenzten Gewalt der Ersten Weltkriegs. Am Vorabend des Holocaust verhielten sich viele Juden und Nicht-Juden in einer Weise, die offenbart, dass die Architekten der Völkermorde des Zweiten Weltkrieg keine radikalere Variante der Entscheidungsträger des Ersten Weltkriegs, sondern eine neue Gattung verkörperten. Dazu passt auch, dass Adolf Hitler im Zweiten Weltkrieg keine Fortsetzung oder Wiederholung des Ersten Weltkriegs sah. Vielmehr wollte er aus den Fehlern des Ersten Weltkriegs lernen und verhielt sich daher in negativer Abgrenzung an die Handelnden des Ersten Weltkriegs ganz anders als sie.
Thomas Weber
Prof. Dr. Thomas Weber ist Professor of History and International Affairs an der University of Aberdeen und Gastwissenschaftler an der Harvard University. Mit seiner Studie „Hitlers Erster Krieg: Der Gefreite im Ersten Weltkrieg – Mythos und Wahrheit“ (List-Verlag 2011) konnte er erstmals umfassend darlegen, welchen Einfluss der I. Weltkrieg auf den späteren Diktator hatte. http://www.abdn.ac.uk/