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Die neue deutsche Frage

Die Krise Europas und die Aufgaben der Macht in der Mitte des Kontinents

Angelo Bolaffi01.04.2016

Deutschland sitzt erneut auf der Anklagebank. Während der fälschlicherweise als „Euro-Krise“ bezeichneten Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre hatten die verschuldeten Länder aus dem Süden des Alten Kontinents Kanzlerin Merkel für ihr wirtschaftliches „Sparkonzept“ und ihre ordoliberalistischen Vorstellungen einer Gesellschaft ganz im Sinne des „Modells Deutschland“ kritisiert. Heute hingegen steht ihre Flüchtlingspolitik und ihr hartnäckiges Festhalten an einer Politik der offenen Grenzen im Kreuzfeuer der Kritik.

Die Fronten haben sich dabei paradoxerweise umgekehrt. Diesmal sind Länder wie Italien und Griechenland, die während der Krise ihre erbittertsten Gegner waren, auf Merkels Seite. Und der heftigste Widerstand zum Thema Flüchtlinge kommt nun aus den ausnehmend konservativen Kreisen der deutschen Politik und Gesellschaft und aus den osteuropäischen Ländern, allen voran Polen und Ungarn..

Kritik an der Kanzlerin

Merkel hatte in der kollektiven Vorstellung der südeuropäischen Länder als „Stiefmutter Europas“ dagestanden, ein finsteres Bild für eine herzlose Politik. In den dramatischsten Tagen der Griechenland-Krise war sie sogar als „wiederauferstandener Hitler“ bezeichnet worden, und jetzt wird sie wie durch Zauberei zum Objekt von Staunen und sogar von Bewunderung. Ihre Aussage „Wir schaffen das“ – die von Ruth Klüger in ihrer Rede vor dem Bundestag am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus als „heroisch“ bezeichnet wurde – wird verglichen mit der ebenfalls „heroischen“ Geste von Willy Brandt, als er am 7. Dezember 1970 vor dem Ehrenmal des Warschauer Ghettos niederkniete. Eine Geste, durch die Deutschland mit sich selbst und mit der Welt Frieden schloss.

Gemäß den Kritikern der von Deutschland im Umgang mit dem epochalen – von Wolfgang Schäuble als „Rendezvous mit der Globalisierung“ bezeichneten – Phänomen der Migration verfolgten Politik habe Angela Merkel einen Fehler historischen Ausmaßes begangen, und ihre auf einer unpolitischen Gesinnungsethik (und historischen Schuldgefühlen) fußende Entscheidung zeuge vom gänzlichen Fehlen einer strategischen Vision und sogar geopolitischer Grundkenntnisse. Angela Merkel habe „ein Herz, aber keinen Plan“ so urteilte Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder. Und Rüdiger Safranski drückte es noch härter aus: „Es herrscht in der Politik eine moralistische Infantilisierung!“

Beide Kritiken dienen im Grunde als Vorwand und sind einseitig. Die Kanzlerin hat in den Jahren der Wirtschaftskrise nicht als „Merkiavelli“ (Ulrich Beck) gehandelt, wie es die Politiker der Mittelmeerländer dargestellt haben, um ihre eigene schlechte Regierungspolitik zu rechtfertigen. Aber sie hat sich seit dem vergangenen Spätherbst auch nicht in eine wohltätige, jedoch ohnmächtige Berliner Version der Maria Teresa aus Kalkutta verwandelt, wie es einige Vertreter des „Neo-Wilhelminismus“ der nouvelle droite allemande auslegen. Sie hat – trotz unzähliger Unsicherheiten, verspäteter Handlungen und sogar Fehlern – einfach versucht, eine „europäische“ Lösung für diese neuen Herausforderungen zu finden.

Aber weshalb dann dieses Unverständnis? Wir müssen realistischerweise schlicht zur Kenntnis nehmen, dass diese Anhäufung von Krisen, die heute sogar die bis gestern undenkbare, extremste Hypothese eines Scheiterns des politischen Projekts der Europäischen Union plausibel erscheinen lässt, Ausdruck von etwas viel Tieferem ist. Ein epochaler Umbruch bestimmt derzeit weltweit die Hierarchien der Macht und die demographische Zusammensetzung der einzelnen Länder neu und erschüttert Klassen und Kulturen. Wie in der Vergangenheit, in den Jahren, die das Ende der Belle Époque einläuteten und zum Ersten Weltkrieg und dann in den 20er und 30er Jahren zum Aufkommen der Totalitarismen führten, sind zwischen den europäischen Völkern alte Feindschaften und neue Abneigungen zu Tage getreten, während viele (auch linke) Politiker und Meinungsführer, die sich einst vehement für einen freien Markt einsetzten, nun versucht sind, auf die fatale (und unrealistische) Illusion einer wirtschaftlichen und spirituellen Autarkie zu setzen.

Angesichts der offensichtlichen Ohnmacht der politischen Klassen gegenüber populistischen und tendenziell extremistischen Bewegungen verbinden sich in einem Auffangbecken neo-identitäre Ressentiments mit reaktionären, anti-universalistischen Ideologien. In einem von ethnozentrischen Impulsen durchzogenen Europa – es vergeht kein Tag, an dem in einer Art „Spiel ohne Grenzen“ nicht irgend jemand ein neues „kleines Heimatland“ entdeckt –, das besessen ist von der Aussicht auf globale Umbrüche, die nur als dunkle Bedrohungen wahrgenommen werden und nie als Chance für mögliche Veränderungen, in diesem Europa hat sich das Gefühl verbreitet, dass der inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert anhaltende Frieden eine glückliche Übergangszeit war. Und dies genau in dem Moment, in dem eine tiefgehende Wirtschaftskrise dem anderen „Gründungsmythos“ der Europäischen Union den Zauber genommen hat, nämlich, dass die EU ein Synonym für wachsenden wirtschaftlichen Wohlstand und allgemeinen sozialen Fortschritt sei.

Der Berliner Mauerfall, die deutsche Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Krieges haben einen historischen Einschnitt bedeutet, indem sie die Voraussetzungen und die Ziele der Europäischen Union tiefgreifend veränderten. In einer globalen Welt kommen die Bedrohungen für Europa (zum Glück!) nicht mehr nur von den Alpträumen der Vergangenheit, sondern von den wirtschaftlichen Fragen der Gegenwart und den demographischen Herausforderungen der Zukunft. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Einigung Europas es den Staaten des Alten Kontinents abverlangt, über die Schatten ihrer Vergangenheit zu springen. Heute kommt zu diesem weiterhin gültigen Imperativ ein zweiter hinzu. Und der bereitet vielleicht noch mehr Schwierigkeiten: Sozialsysteme und Nationen, die sich nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet, sondern auch auf kultureller Ebene stark voneinander unterscheiden, miteinander vereinbar zu machen.

Die einzige Überlebenschance und die einzige Möglichkeit, ihre sozialen und gesetzlichen Errungenschaften zu wahren, besteht für die europäische Gesellschaft in der Einigung; darin, „ein Großraum“ zu werden, der auf globaler Ebene gegenüber den anderen heute weltweit agierenden „Staaten kontinentalen Ausmaßes“ wettbewerbsfähig ist. Keine europäische Nation, nicht einmal das „große Deutschland“ hat die geringste Chance, es allein zu schaffen. Doch werden die Zentrifugalkräfte überwiegen – frei nach dem Motto „Rette sich, wer kann“? Oder wird die Solidarität zwischen Europäern, die sich dessen bewusst sind, dass die einzelnen Länder des Alten Kontinents außerhalb des gemeinsamen europäischen Hauses keine Zukunft haben, stärker sein als die Versuchungen „heiliger nationaler Egoismen“.

Bedrohungen für Europa

Während und aufgrund der Euro-Krise hat sich Europa auf der Nord-Süd-Achse zweigeteilt in „verschuldete“ Staaten einerseits und „tugendhafte“ Staaten andererseits. Die von Putins Russland gewollte Herausforderung eines Neuen Kalten Krieges hat auf der Ost-West-Achse eine geopolitische Verwerfung zur Folge. Auf der einen Seite die unmittelbar bedrohten Länder, die für ein halbes Jahrzehnt nur in begrenztem Maß souverän waren, und auf der anderen Seite die Länder in Süd- und Westeuropa, die geographisch von der russischen Bedrohung weiter entfernt sind. Die Flüchtlingskrise schließlich hat eine Isolierung Deutschlands mit sich gebracht, das aufgrund des lautstarken Schweigens Frankreichs und der feindseligen Haltung Polens nur auf die Unterstützung durch Italien und Griechenland hoffen kann; zweier Länder, für die das Ende von „Schengen“ katastrophale Folgen hätte.

Es liegt an Deutschland, als dem Land, das maßgeblicher Grund für die historischen europäischen Tragödien war, die schwierige und riskante Aufgabe zu übernehmen, Europa zu führen und zu überzeugen, aber nicht zu kommandieren, hin zu seinem großen Ziel der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Einheit. Einem Deutschland, das kulturell sowie politisch in der Lage ist, auf dem Alten Kontinent die schwierige und riskante Aufgabe einer Hegemonie (im Sinne Gramscis) zu übernehmen. Aufgrund seiner Demographie, seiner geopolitisch zentralen Lage und seiner wirtschaftlichen Stärke ist das Land objektiv gesehen dazu „verdammt“. Auf der anderen Seite ist es notwendig, dass die anderen Europäer gewahr werden, dass es kein Europa ohne oder gegen Deutschland gibt, und wie anmaßend alle Hypothesen einer wie auch immer gestalteten Allianz des Mittelmeerraumes gegen Deutschland sind.

Das ist die neue „deutsche Frage“, nicht die aus der Vergangenheit, über die wir in den Geschichtsbüchern lesen. Das heutige „post-deutsche“ Deutschland, das am Ende seines „langen Weges gen Westen“ (Heinrich A. Winkler) in Bezug auf das Deutschland der Vergangenheit aus einer radikalen Lösung geopolitischer und kultureller Kontinuität entstanden ist und heute in dieser Welt der „Unordnung“ und „Apolarität“ berechtigterweise diejenige Macht ist, die den europäischen Einigungsprozess anführt. Deshalb ist es sinnlos geworden, ein deutsches Europa einem europäischen Deutschland gegenüberzustellen. Ganz im Gegenteil: Wenn wir uns die gegenwärtigen Entwicklungen in Europa anschauen, sollten wir beunruhigt sein bei dem Gedanken, dass wir in naher Zukunft einer weiteren und der paradoxesten aller Umkehrungen der Rollen in Europa beiwohnen könnten: ein Europa mit einem pro-europäischen Deutschland im Zentrum, dem genau aus dem Grund von den anderen Ländern mit Feindseligkeit und Misstrauen begegnet wird. 


 Angelo Bolaffi Deutsches Herz - Das Modell Deutschland und die europäische Krise Klett-Cotta, 2014, 288 Seiten, 21,95 Euro

Als profunder Kenner der deutschen Geschehnisse unternimmt Angelo Bolaffi in diesem Buch eine Reise durch die Geschichte des Landes, das als Herzstück Europas gilt und mit dem die Idee eines neuen Europas untrennbar verbunden ist. Dabei würdigt er das moderne, kreative und besonnene Deutschland als Vorbild für den restlichen Kontinent. Die Europäer, so der Autor, müssen Deutschland endlich mit anderen Augen betrachten als noch im 20. Jahrhundert.

 

Angelo Bolaffi
Prof. Dr. Angelo Bolaffi ist em. Professor für Politische Philosophie an der Universität La Sapienza in Rom. Von 2007 bis 2011 war er Direktor des Italienischen Kulturinstitutes zu Berlin. Zu seinen Werken gehören u.a. „Die schrecklichen Deutschen. Eine Liebeserklärung“ (Siedler 1995) und zuletzt „Deutsches Herz. Das Modell Deutschland und die europäische Krise“ (Klett-Cotta 2014).
Bild: Laurent Burst www.klett-cotta.de