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Titelthema

Die Rückkehr der Heimat

Titelthema - Die Rückkehr der Heimat
Carl Malchin Windmühle bei Ahrenshoop, 1891 (Öl auf Leinwand) Malchin gilt als wichtigster Vertreter der realistischen Landschaftsmalerei Mecklenburgs Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. 1882 entdeckte er das Fischerdorf Ahrenshoop, wo später eine Künstlerkolonie entstand. Auch die Orte Gothmund und Boltenhagen faszinierten ihn. © Painting/Alamy Stock Photo

Amrum statt Phuket, Sächsische Schweiz statt Madonie: Moderne Kosmopoliten meiden massentouristische Ziele in der Ferne und genießen die Wiederentdeckung des eigenen Landes.

Thomas Steinfeld01.08.2021

Die meisten Urlaubsreisen führen nicht nur in ferne Gegenden, sondern auch in die Vergangenheit. So war es schon, als die jungen Adligen und reichen Bürger des 18. und frühen 19. Jahrhunderts der Bildung wegen unterwegs waren: Was es in Rom oder Neapel, in Griechenland oder Ägypten zu sehen gab, war jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendealt. So blieb es, als man begann, der Sonne, des Wassers oder der sinnlichen Genüsse wegen zu reisen. Im Arrangement eines Urlaubs am Strand, im Badehandtuch, im Sonnenschirm und im mittäglichen Gang zum Grill spiegelte sich das Leben von Nomaden auf Zeit. Die Ferien im Wohnmobil oder auf dem Segelboot wurden zu spielerischen Wiederholungen eines Weltzustands, in dem der Mensch sein Überleben noch der Natur abringen musste. So tief hinein in die Geschichte und darüber hinaus sollte es gehen, dass sich die Idee der Ferien mit einem Traum von der Rückkehr in ein Paradies verband, in dem sich mehr oder minder unbekleidete Menschen an unberührten Stränden der Muße hingaben, während fast unsichtbare Geister für die Mahlzeiten sorgten.

Die Krise des großen Reisens

Im Jahr 2018, so hat die Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) errechnet, besuchten knapp 1,5 Milliarden Menschen ein anderes Land – zu persönlichen Zwecken. Zwei Jahre darauf nahm das große Reisen ein abruptes Ende, einer Seuche wegen. Während es nun aus diesem Grund alles andere als gewiss ist, ob man in absehbarer Zeit wieder so wird reisen können, wie man es vor der Pandemie tat, wird offenbar, dass der befristete Ortswechsel aus persönlichen Motiven schon zuvor in eine Krise geraten war. Die Gründe sind vielfältig, doch sticht eine Ursache heraus: Das große Reisen setzt offene Landschaften voraus, Orte, die sich dem Besucher öffnen und sich erschließen lassen. Je mehr Menschen reisen, desto weniger, kleiner und unerreichbarer aber werden diese Landschaften. Oder anders gesagt: Das große Reisen stößt irgendwann auf das eigene, harte Material, in Gestalt der Staus und der übervollen Wartehallen und Landebahnen, der Betonwüsten am Strand oder der Menschenmassen auf dem Markusplatz. Reiseziele gibt es mittlerweile, die sich zu gewissen Zeiten nicht mehr besuchen lassen, weil die Reisenden sie bedecken wie die Wespen ein Marmeladenbrot im August. Venedig ist ein solcher Ort. Ich weiß es, weil ich jahrelang dort gelebt habe.

Reiseziele als idealisierte Seelenzustände

Darüber hinaus gilt dem Reisen, vor allem, wenn es um ferne Ziele geht, ein schlechtes Gewissen. Es rechnet in Tonnen Kohlendioxid und kommt schnell zu dem Ergebnis, dass ein Flug für eine Person von Deutschland auf die Kanarischen Inseln die Umwelt mehr belastet, als wenn derselbe Mensch ein ganzes Jahr lang mit dem Auto, der Bahn und dem Bus unterwegs wäre. Das schlechte Gewissen ist, wenn es um Urlaubsreisen geht, besonders wirksam, weil sich „die schönsten Wochen des Jahres“ (so ein alter Slogan von Neckermann Reisen) ohnehin mit idealisierten Selbstbildern verbinden: Wer glaubt, der Urlaub sei die Zeit, in der man der Mensch sein kann, der man eigentlich ist oder sein will, möchte sein Ideal vermutlich nicht von dessen katastrophalen Folgen befleckt sehen. Reisen, behauptet Remo Masala, vormals Marketingchef des Reiseunternehmens Thomas Cook, sei die zukünftige Erinnerung an uns selbst. Ich traf ihn einmal in Venedig, im Hotel Danieli. Reiseziele seien idealisierte Seelenzustände, sagte er. Sie vertragen sich schlecht mit steigenden Wasserspiegeln und verdorrenden Wäldern.

Den Badeurlaub an einer fernen Küste wird es vermutlich auch in Zukunft geben, mitsamt kollektivem Loslassen in der Strandbar. Es hängen zu viele Interessen daran, nicht zuletzt ökonomische. Und doch verschieben sich die Vorstellungen vom Urlaub: Was sich bereits verändert hat, schon vor der Seuche, ist der soziale und kulturelle Status der Bräune. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war der möglichst dunkle Teint ein Zeichen dafür, dem Kunstlicht der Fabrikhallen und Büros glücklich entronnen zu sein. Das ist nicht mehr so, und das liegt nicht nur daran, dass man mehr über die Entstehung von Hautkrebs weiß. Vielmehr hat die Bräune an Prestige verloren. Sie lockt nicht mehr im selben Maß wie zu früheren Zeiten, ebenso wie die Aussicht immer weniger reizt, sich neben Tausende von anderen Menschen an einen Strand zu legen und zwischen spielenden Kindern und brüllenden Eisverkäufern dahinzudämmern. Möglicherweise sind viele Menschen in den vergangenen Jahren, vor Corona, so viel gereist, dass ihnen solche Erwartungen zumindest schal, wenn nicht gar zweifelhaft geworden sind. Dass die weiten Reisen zu Zwecken des Urlaubs problematisch geworden sind, schon vor der Pandemie, mag auch daran liegen, dass immer mehr Menschen auch im Beruf immer häufiger reisten. Und ist es nicht ohnehin so, dass sich die zuletzt so beliebten Städtereisen von Geschäftsreisen hauptsächlich durch eine geringere Zahl von Terminen unterscheiden, dass sie also das Erwerbsleben in verschärfter Form nachahmen und einem Rhythmus und einer Intensität unterworfen sind, die dem Druck eines Arbeitstages nahekommen, sodass man am Abend erschlagen im Hotelzimmer zusammensinkt? Genauso wie sich das obere Management vom mittleren Management zunehmend dadurch unterscheidet, kein eigenes Mobiltelefon zu besitzen, kann es für viele zum Privileg werden, nicht mehr reisen zu müssen. Fernreisen erscheinen schon heute, seit sie so billig geworden sind, im Wert vermindert, und wenn schon gleich gar kein gebildeter Mensch mehr in die Dominikanische Republik fahren will, so erscheinen doch auch schon die Malediven als beschädigt.

Auf den Urlaub will niemand verzichten. Es mag aber sein, dass sich viele Menschen bei ihren Reisen nunmehr anders orientieren, während die Seuche möglicherweise einem langsamen Ende entgegengeht. Auf den Straßen unübersehbar ist zum Beispiel eine stärkere Individualisierung des Reisens, in der das Wohnmobil, das früher den Pionieren des Urlaubs als Fahrzeug für die Eroberung noch unerschlossener Strände dienen sollte, zum Schutz vor der Begegnung mit allzu vielen anderen Reisenden eingesetzt wird. Eine Individualisierung scheint sich indessen auch in vielen anderen Bereichen zu vollziehen: etwa in einer digital gestützten Literarisierung des Reisens, in der Vorbereitung und Begleitung des Urlaubs durch eine umfassende Lektüre am Bildschirm. Damit kehrt zwar nicht der Bildungsreisende früherer Zeiten zurück. Doch sind die Urlauber wahrscheinlich kundiger, die Geschichte und die Möglichkeiten ihres Reiseziels betreffend, als sie es je zuvor waren. Und wenn sie es noch nicht sind, wenn sie an ihrem Urlaubsort eintreffen, so werden sie es dort innerhalb von wenigen Tagen.

Rückkehr zur Sommerfrische

Im Hinblick auf die Möglichkeiten der Individualisierung und Literarisierung wird es zunehmend gleichgültig, wie weit entfernt das Reiseziel liegt. Überhaupt hat die Fernreise, bedingt durch die Nivellierung der Reisekosten und die Standardisierung des Angebots, an Prestige verloren, wodurch ein Urlaub auf Amrum nicht mehr als verhinderte Reise nach Phuket erscheint und eine Wanderung durch die Sächsische Schweiz nicht mehr als ärmliche Variante einer Tour durch die Madonie. Und nimmt man hinzu, dass das große Reisen auf absehbare Zeit unter den Bedingungen von Ansteckungsgefahr und ökologischen Belastungen betrachtet werden wird, mag man von einer Rückkehr zur Sommerfrische sprechen. Nur dass diese Sommerfrische mittlerweile als ein Aufenthaltsort für Kosmopoliten erscheint. Man bemerkt es an sich selbst: In diesem Frühjahr dachte ich zum ersten Mal daran, für einen Urlaub ins Weserbergland zurückzukehren, in eine Landschaft der Kindheit, die ich vor Jahrzehnten verließ und danach vergaß. Plötzlich erinnere ich mich: an den Palmengarten in Bad Pyrmont, an das Rattenfängerhaus in Hameln, an Radfahrten durch eine Parklandschaft mit alten Bäumen und grasenden Kühen. Die Erinnerungen sind glücklich.

Thomas Steinfeld

Thomas Steinfeld ist Germanist und Musikwissenschaftler, lehrte in Schweden und Kanada und war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung. Von 2006 bis 2018 lehrte er als Professor für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern. Heute ist er Autor und Korrespondent der Süddeutschen Zeitung.