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Nichts als Reinheitsfantasien

Titelthema - Nichts als Reinheitsfantasien
Hoffentlich nur ein Strohfeuer: Pappalardos Anhänger auf einer Demonstration in Mailand. © Gettyimages / Alessandro Bremec / nurphoto

Immer wieder flackern in Italien Bewegungen wie die „arancioni“ auf. Kurzfristig haben sie großen Zulauf, sind zumeist aber nur kurzlebig.

Thomas Steinfeld01.07.2020

Antonio Pappalardo ist eine schillernde Gestalt. Sein Berufsleben hatte er den Carabinieri gewidmet, der italienischen Staatspolizei, die, was man im Ausland selten versteht, eine militärische Organisation darstellt – womit einiges über den inneren Zusammenhalt der Nation gesagt ist. Aus Palermo stammend, war er stellvertretender Kommandeur der Carabinieri in Umbrien gewesen, als er im März 2000 kurz mit einem Militärputsch kokettierte, was seine Karriere aber nur wenig behinderte.

Als er im Juni 2006, am Abend vor der Pensionierung, zum Brigadegeneral befördert wurde, war er Stabschef der Carabinieri in Rom. In den Neunzigerjahren war Antonio Pappalardo Parlamentsabgeordneter der Sozialdemokraten („PSDI“). Er hat nicht nur Gedichte veröffentlicht, sondern auch einen Roman, dessen Text ihm, wie er behauptet, von Bewohnern des Planeten Ummo übergeben worden sei. Er ist als Komponist sakraler Werke für Chor und Orchester hervorgetreten. Seit März dieses Jahres ist er nun Anführer einer populistischen Initiative, die in orangefarbenen Westen auftritt, die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus für eine Verschwörung wider das Volk hält und gelegentlich mit ausgestreckten rechten Armen demonstriert.

Erinnert sich noch jemand an die „Sardinen“?

Einige Zehntausend Anhänger können die „arancioni“ mobilisieren. In Mailand vermochten sie den Platz vor dem Dom zu füllen, in Rom durchbrachen sie, unterstützt von der faschistischen Bewegung „Casa Pound“, die Cordons der Polizei, und überhaupt sind sie in ihren leuchtenden Westen überaus sichtbar. Ob die Initiative tatsächlich rechtsradikal ist und mehr noch: ob sie größere Teile der Bevölkerung erreichen kann, ist allerdings zweifelhaft.

Zu sehr erinnern die „arancioni“ an die radikaldemokratischen Anfänge der Bewegung „5 Stelle“, als aus dem Geist des Internets und der allgemeinen Unzufriedenheit eine neue Volksgemeinschaft hervorgehen sollte, wider die professionelle Politik, die Institutionen der Macht und die Korruption in jeder nur möglichen Gestalt. Ähnlich hatten in den Neunzigerjahren auch die Anhänger der damaligen „Lega Nord“ begonnen, indem sie den römischen Zentralismus zum eigentlichen Hindernis einer Wiedererweckung eines Italiens der Regionen erklärten. Alle paar Jahre bringt Italien, so scheint es, politische Reinheitsfantasien hervor, die für eine Weile großen Zulauf haben, bevor sie dann entweder selber zu Institutionen werden oder sich verlaufen. Erinnert sich noch jemand an die „Sardinen“, die im vergangenen Winter die großen Plätze Italiens füllten, als dezidiert unpolitische Bewegung gegen den Erfolg der Rechtspopulisten, bevor die einen wie die anderen angesichts der Seuche (vorläufig) von der Bildfläche verschwanden?

Die Macht der Lokalen

Italien macht es solchen Bewegungen leicht, und jede Region findet ihren Pappalardo, solange sich eine Idee von Reinheit mit einem politischen Thema verbinden lässt, wie es bei den „arancioni“ etwa im Widerstand gegen „5G“, die fünfte Generation des Mobilfunks, gegeben ist. Das liegt zum einen daran, dass das Land nach wie vor in kleinteiligen, oft klientelistischen Strukturen verhaftet ist, in denen jedes „Außen“ als ein potenzieller Angriff auf ein reines „Innen“ begriffen wird. Große, abstrakt begründete Institutionen haben es unter solchen Bedingungen schwer, was selbst für die katholische Kirche gilt, die sich nie gegen die Macht der Lokalheiligen hat durchsetzen können und es wohl auch gar nicht wollte. Das heißt aber auch, dass keine dieser Bewegungen auf Dauer großen Zulauf hat. Sie bleiben partikular und im Zweifelsfall kurzlebig.

Thomas Steinfeld

Thomas Steinfeld ist Germanist und Musikwissenschaftler, lehrte in Schweden und Kanada und war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung. Von 2006 bis 2018 lehrte er als Professor für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern. Heute ist er Autor und Korrespondent der Süddeutschen Zeitung.

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