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Standpunkt

Die Stärke schwacher Bindungen

Standpunkt - Die Stärke schwacher Bindungen
Rainer Hank © Lucas Bäuml

Wie Rotary der „Loyalitätsfalle“ entkommt

Rainer Hank01.07.2021

Loyalität ist ein starkes Band der Zugehörigkeit. Ohne Loyalität gäbe es kein Zusammenleben. Eine Gesellschaft, der das Gefühl verpflichtender Zugehörigkeit abgeht, müsste zerfallen. Dazugehören zu wollen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Der Lohn für die Aufnahme in die Gruppe heißt Geborgenheit und Angstfreiheit. Wenn man will, könnte man darin ein Erbe unserer Gattung sehen: Am Anfang der Menschheit steht nicht das isolierte Individuum, sondern die Gruppe, der Clan, der Stamm, die Horde.

Gruppendruck kann gefährlich werden. Wir erleben gerade viel „Re-Vergemeinschaftung“ innerhalb unserer Gesellschaft, die sich zellteilt in Kleingruppen, welche sich gegeneinander mit feindlicher Intoleranz abkapseln und Eindeutigkeit verlangen, wo Toleranz angesagt wäre. Allenthalben wird Fan-Treue erwartet; sie ist eifernd und macht blind. Ob Cancel-Culture an den Universitäten, Political Correctness bei den Umweltaktivisten (Fridays for Future, Extinction Rebellion) oder Korpsgeist bei den Rechten (Pegida, Querdenker): Überall gibt es wieder Freund-Feind-Denken. Und viel Hass.

Starke Bindungen sind gefährlich. Rotary taugt zum Gegenmodell. Die rotarische Freundschaft ist ein Vorbild schwacher Bindungen. Wir müssen uns von der Vorstellung frei machen, schwache Bindungen seien eine mindere Form der Zugehörigkeit. Das Gegenteil ist richtig, wie der amerikanische Soziologe Mark Granovetter in einem berühmten Aufsatz nachgewiesen hat. Es geht um Begegnung mit Menschen außerhalb unserer Peergroup, die uns dazu bringen, fremde Meinungen ernst zu nehmen, ohne sie zu bekämpfen und ohne uns mit ihnen gemeinmachen zu müssen.

Bitte kein Konformitätsdruck

In den langen Phasen des Lockdowns während der Corona-Pandemie ist uns der Wert schwacher Bindungen bewusst geworden. Corona hat die Gesellschaft auf starke Bindungen reduziert und isoliert: die Familie und die Firma. Flüchtige Kontakte blieben auf der Strecke. Es fehlt jene zufällige Erfahrung, die uns etwas oder jemanden finden lässt, den oder die wir gar nicht gesucht haben. Es fehlen die Begegnungen mit lieben Bekannten: die Verabredung über Mittag, der Trip an den Bodensee oder ans Meer, das abendliche Zusammensein. Das sind wichtige Bindungen, aber keine starken Bindungen.

Für mich ist Rotary eine tolle Gemeinschaft schwacher Bindungen. Das meine ich positiv, nicht als Mangel. Es soll und darf bei Rotary keinen Konformitätsdruck geben, sondern die Anerkennung von Diversität in einer Haltung der Toleranz. Entscheidend hängt das damit zusammen, dass Rotary nichts will, allem Freundschafts-Pathos aus Evanston zum Trotz. Rotary ist weder rechts noch links, weder männlich noch weiblich, nicht alt, nicht jung – am ehesten ein bisschen elitär und mit der Betonung auf Vielfalt.

Die bereichernde Freude an schwachen Bindungen erleben solche Clubs, die sich ständig erneuern und kontinuierlich Mitglieder aufnehmen. Clubs, die meinen, sich selbst zu genügen, schmoren im eigenen Saft. Wichtig wäre, dass der Aufnahmeausschuss sich dem unbewusst wirkenden Konformitätsdruck widersetzt. Mutmaßliche Anpasser sollten keine Chance bekommen. Es lohnt sich, Freunde mit „Dissidenz-Potenzial“ aufzunehmen, die der „herrschenden“ Meinung Widerwort geben. Und: Den Vorträgen und Diskussionen bei Meetings täte ein bisschen intellektuelle Schärfe allemal gut. Auf Affirmation jenseits bürgerlicher Höflichkeit darf getrost verzichtet werden.

Rotary-Meeting versus Stammtisch

Schwache Bindungen haben ihre eigene Verbindlichkeit. Man nimmt sich im Club ernst, ist neugierig aufeinander. Dazu zählt auch die Verpflichtung, regelmäßig Präsenz zu zeigen und sich über die passive Teilnahme an den Meetings hinaus aktiv für rotarische Aufgaben zu engagieren. Doch nach neunzig Minuten ist Schluss, noch ein Vorteil der schwachen Bindung: Das strenge Setting des Meetings ist das Gegenmodell zum Stammtisch, von dem man Stunden nicht mehr wegkommt.

Schwache Bindungen heißt bei Rotary: den anderen anders sein zu lassen und seine Andersartigkeit als bereichernd erfahren. Das damit verbundene Risiko wollen heute viele Menschen nicht mehr eingehen. Sie folgen dem „Ruf der Horde“ (Karl Popper). Rotary hält dagegen. Hier könnte es gelingen, eine neue soziale Balance herzustellen: zwischen der unbändigen Neugier, die Welt mit anderen teilen zu können, und der selbstverständlichen Nähe zu uns vertrauten Menschen, die wir Freunde nennen, weil wir einander frei sein lassen.

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Rainer Hank
Rainer Hank, RC Frankfurt am Main-Städel, ist Publizist und Kolumnist bei der FAZ. 2021 erschien von ihm Die Loyalitätsfalle. Warum wir dem Ruf der Horde widerstehen müssen beim Penguin Verlag, München.