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Divided we fall

Titelthema - Divided we fall
US-Präsident Donald Trump © Alex Brandon/AP Photo/DPA Picture-Alliance

Wie viel Polarisierung verträgt eine Demokratie? Ein Blick auf ein hochnervöses Land, in dem eine Währung besonders knapp geworden ist: politische Legitimität.

Torben Lütjen01.04.2020

Die USA galten lange als uneinnehmbare Bastion der liberalen Demokratie: mit unideologischen Parteien, einer pragmatischen politischen Klasse und seinem stabilen Institutionensystem schien das Land gefeit vor jenen radikalen Ideologien, durch die in den 1920er und 1930er Jahren zahlreiche Demokratien in Europa in einem Bürgerkrieg der Weltanschauungen zerrieben wurden.

Heute hingegen scheint Amerika eher an der Spitze einer neuen globalen Welle politischer Polarisierung zu stehen, die längst auch andere westliche Demokratien erfasst hat. Die Gründe dieser Polarisierung – die mittlerweile Züge angenommen hat, die die Substanz der Demokratie bedrohen – sind mannigfaltig; aber allesamt haben sie wenig mit Trump zu tun, der eher Symptom denn Ursache der Spaltung ist, sondern reichen historisch weit zurück.

In den 1960er und 1970er Jahren wurden die USA von einer Reihe sozialer Dynamiken erfasst, die den Grundkonsens des Landes infrage stellen, und die im Grunde bis heute die politische Debatte bestimmen: die „Rassenkonflikte“ im Land im Nachgang der Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings; die „Kulturkriege“ ab den 1970er Jahren, die zum Zusammenstoß zwischen dem liberasäkularen einerseits und dem weiterhin sehr religiös-konservativen Teil des Landes sorgten; dann schließlich die sowohl ökonomische als auch kulturelle Auseinanderentwicklung von Stadt und Land.

In der Konsequenz stehen sich heute zwei Wählerkoalitionen gegenüber, die sich fundamental unterscheiden: ethnisch divers, säkular und urban jene der Demokraten; weiß, christlich und ländlich die der Republikaner. Und Amerikas Konservative leben in dem (sie keineswegs trügenden) Bewusstsein, dass alle großen gesellschaftlichen und demografischen Entwicklungen gegen sie laufen. Soziale Gruppen jedoch, die einen kollektiven Statusverlust durchlaufen, haben darauf schon immer mit besonderer Aggression reagiert. Viele der extremen Reaktionen der Republikanischen Partei und ihrer Wähler, die Bereitschaft, die Grenzen des politischen Diskurses ebenso wie jene der Verfassung zu testen, hängen mit eben jenem Gefühl zusammen, eine letzte Abwehrschlacht zu kämpfen, in der Donald Trump so etwas wie die finale Rückzugslinie darstellt, die um keinen Preis aufgegeben werden darf.

Doch Teile des Konfliktes tragen eben auch zutiefst irrationale und geradezu pathologische Züge, die allein mit objektiven Konfliktlagen nicht zu erklären sind. Die Paranoia und der Verschwörungsglaube, der schrille Ton auch bei Themen, die nicht unbedingt über Wohl und Wehe der Nation entscheiden, eine Hysterie, die dem politischen Gegner alles, aber auch wirklich alles zutraut – all dies geht über die tatsächlichen politischen Unterschiede weit hinaus. Verantwortlich hierfür sind eher Entwicklungen, die in den USA nur früher und radikaler aufgetreten sind – deren Grundzüge aber andere moderne Gesellschaften bereits ebenfalls zu spüren bekommen haben: die Aufgabe eines gemeinsamen politischen Diskursraumes etwa durch zunächst neue klar parteiische Medienformate wie den konservativen Nachrichtensender „Fox News“, dann durch die Zersplitterung der Meinungsbildung im Internet. Aber auch jenseits virtueller Räume haben sich Demokraten und Republikaner weit auseinanderentwickelt. Sie wohnen immer weniger in den gleichen Nachbarschaften, gestalten ihre Freizeit anders, schicken ihre Kinder auf unterschiedliche Schulen. Darin steckt eine ebenso paradoxe wie durchaus deprimierende Einsicht: Je mehr die persönliche Autonomie wächst, je größer die Wahlfreiheit der Menschen – desto stärker offensichtlich die Tendenz, all die Freiheit einzusetzen, sich von anderen abzuschotten.

Es ist dieser Teil der inneramerikanischen Entfremdung, der einem vielleicht die größten Sorgen bereiten sollte. Denn während soziale Konfliktlinien sich abschleifen können, dürfte die Ausbreitung von Echokammern voller Gleichgesinnter ganz einfach den allgemeinen Desintegrationsprozess moderner Gesellschaften spiegeln. Aus zahllosen Studien aber wissen wir: Gruppen von Gleichgesinnten neigen nicht nur zur Radikalisierung. Ohne Korrektiv sind sie ebenfalls der perfekte Ort für die Entstehung von Verschwörungstheorien. Die maximale Verkörperung dieser Entwicklung ist, natürlich, in der Tat Donald Trump. Der Aufstieg eines pathologischen Lügners und Verschwörungstheoretikers bis ins Weiße Haus ist überhaupt nur denkbar unter den Bedingungen einer bereits extrem segmentierten Öffentlichkeit, die es ihm ermöglicht hat, auch mit den tolldreistesten Verdrehungen der Wahrheit durchzukommen.

Streitkultur ist unerlässlich

Und das ist eben die Crux der amerikanischen Politik – und damit vielleicht auch bald das Problem anderer Demokratien. Denn Polarisierung an sich muss schließlich noch keine Katastrophe sein. In gewisser Weise trifft sogar eher das Gegenteil zu: Demokratien sind explizit dafür da, dass in ihnen gestritten wird, bisweilen eben auch sehr erbittert. Gäbe es keinen Streit und würde in einer Gesellschaft immer nur Harmonie herrschen, dann bräuchte man diese Staatsform als noch immer bestes System der geregelten und friedlichen Konfliktaustragung gar nicht, aber es gehört zu den Binsenweisheiten, dass solche Vorstellungen der Abwesenheit von Streit in die Vorstellungswelt totalitären Denkens gehört.

Doch die Polarisierung der amerikanischen Demokratie handelt eben nicht alleine von einem legitimen Wettstreit zwischen verschiedenen politischen Ideen. Sie handelt eben auch von entgrenztem Misstrauen, von Verschwörungstheorien, der sprachlichen Entmenschlichung des politischen Gegners, dem man alles zutraut, weswegen man im Zweifelsfall selbst Grenzen überschreiten muss. Die USA sind daher seit Langem ein hochnervöses Land, in dem vor allem eine Währung sehr knapp geworden ist: politische Legitimität. Legitimität ist das, was eine Opposition ihrer Regierung – auch wenn sie politisch alles ablehnen mag – zugesteht; sie ist aber auch vonnöten seitens der Regierung gegenüber der Opposition. Doch wo sich beide Seiten so fremd geworden sind, wird diese Legitimität immer weiter aufgezehrt.

Das ist dann der Punkt, von dem an es gefährlich wird: wenn gar nicht mehr politische Inhalte zur Debatte stehen, sondern der politische Prozess in den Mittelpunkt rückt – wenn es etwa darum geht, wer rechtmäßig im Amt ist, und ob es bei den letzten Wahlen mit rechten Dingen zugegangen ist; welche Rechte Regierung und Opposition besitzen; wenn die Autorität anderer Verfassungsorgane angezweifelt wird (etwa wenn die Exekutive die Gültigkeit der Urteile unabhängiger Richter infrage stellt). Von dort an werden schließlich jene fundamentalen Machtfragen gestellt, die in einer Demokratie eigentlich gar nicht auf der Agenda stehen sollten. Und drei Jahrzehnte der Hyperpolarisierung haben die USA tatsächlich zumindest sehr nah an diesen Punkt gebracht – und dem Land einen Präsidenten beschert, der genau all diese Knöpfe drückt.

Depolarisierung in Deutschland

Nun ist Polarisierung derzeit global die Chiffre zum Verständnis der politischen Konstellation – eben auch in Deutschland. Aber der Vergleich mit den USA macht deutlich, dass zwar „amerikanische Verhältnisse“ drohen könnten, es aber noch lange nicht so weit ist. In den USA stehen sich tatsächlich zwei etwa gleich große politische Lager gegenüber, die um Dominanz ringen. Die Parteiaktivisten beider Seiten haben sich ideologisch von der Mitte wegbewegt. In Deutschland aber sind die Tendenzen da – noch – sehr viel widersprüchlicher. Gewiss, dort hat sich mit der AfD eine Partei ganz rechts etabliert, die sich in nur sieben Jahren von einer liberal-konservativen zu einer rechtspopulistischen bis hin zu einer heute in weiten Teilen rechtsextremen Partei entwickelt hat. Aber jenseits der AfD müsste im Parteiensystem wohl statt von Polarisierung eher von Depolarisierung die Rede sein: Die Unterschiede zwischen der CDU einerseits und den Grünen und der Linkspartei andererseits dürften heute wohl eher kleiner sein als noch vor zehn, 20 oder gar 30 Jahren.

Ein Grund, sich beruhigt zurückzulehnen, sollte das freilich nicht sein. Bedenkt man, welche grundsätzlichen gesellschaftlichen und sozialen Zentrifugalkräfte derzeit in den USA wirken, gilt wohl eher: Was nicht ist, kann noch werden.


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Torben Lütjen

Amerika im kalten Bürgerkrieg. Wie ein Land seine Mitte verliert
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Torben Lütjen

Dr. Torben Lütjen ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. Von 2015 bis 2016 war er in Vertretung von Prof. Franz Walter Direktor des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur deutschen und amerikanischen Politik.

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