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Warum der liberalismus weiterhin not tut

Eine schöne, geistreiche und halsbrecherische Sache

Wolfgang Kersting03.06.2011

Die Deutschen lieben den Liberalismus nicht, ziehen die Gleichheit der Freiheit vor und sträuben sich nicht im mindesten dagegen, dass der Staat immer tiefer in immer mehr ihrer Lebensbereiche eindringt. Sie hatten aufgrund ihrer jüngsten Geschichte auch nicht allzuviel Chancen, sich mit dem Liberalismus anzufreunden. Wenn man vom obrigkeitlichen Wilhelminismus in den Totalitarismus stürzt, der in einigen Landesteilen mehr als ein halbes Jahrhundert die Mentalitäten prägen konnte, und dann mitten in einem immer weiter ausufernden Sozialstaat aufwacht, kann man wirklich kein Talent für die Freiheit entwickeln. Daher ist eine Verteidigung des Liberalismus vonnöten, eine Verteidigung, die vor allem eine Erinnerung an die freiheitlichen Überzeugungen ist, die das große bürgerliche Befreiungsunternehmen, das Abenteuer der Moderne und der Aufklärung getragen haben.  Man verwechsle bitte den Liberalismus nicht mit der FDP. Der Liberalismus hat nie in einer geistig-politischen Krise gesteckt. Er ist das freiheitliche, menschenrechtlich begründete Überzeugungssystem des bürgerlichen Individualismus. Es hat uns mit seinen Ordnungssystemen des Rechtsstaates, der Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft Frieden und Wohlstand gebracht. Es war nicht der Liberalismus, der die Massengräber und Konzentrationslager gefüllt hat, sondern das waren die illiberalen, antibürgerlichen und totalitären Ideologien sozialistischer und faschistischer Menschheitsbeglückung.

Mehr als ein Plädoyer für die Marktwirtschaft

Der Liberalismus ist wesentlich ein moralisches Überzeugungssystem. In seinem Mittelpunkt steht das Individuum, dem zugleich das Recht zugestanden aber auch die Zumutung abverlangt wird, ein eigenverantwortliches Leben zu führen. Da Eigenverantwortung, ökonomische und intellektuelle Selbständigkeit nicht in den Genen liegt, sondern erworben und entwickelt werden muss, bedarf es eines entwicklungsfreundlichen gesellschaftlichen und institutionellen Umfeldes. Und dieses zur Selbstverantwortung erziehende Umfeld zu ermöglichen verlangt der Liberalismus vom Staat. Genau darin sieht er die politische Verantwortung. Es wäre fatal zu meinen, dass sich der Liberalismus in einem Plädoyer für die Marktwirtschaft erschöpfen würde. Solch Reduktion des Liberalismus auf marktwirtschaftliche Effizienzsicherung ist von jedem Freiheitsfreund zurückzuweisen. Fraglos ist die Wettbewerbswirtschaft die dem freiheitlichen Individualismus angemessene Wirtschaftsform, doch ist die Wirtschaft nur ein soziales System neben anderen, nur eine Region neben anderen innerhalb der umfassenden Freiheitsordnung. Und es gilt, diese unterschiedlichen Regionen in eine fruchtbare, freiheitsförderliche Balance zu bringen. Alles der Wirtschaft unterzuordnen, ist eine Form von sozialer Dummheit. Alles nach Maßgabe ökonomischer Rationalität zu behandeln, führt zur kulturellen Verarmung: Man schaue sich etwa an, was der gegenwärtige Ökonomismus aus unserer Universitätslandschaft gemacht hat. Die Freiheit ist unteilbar, sie muss an allen Fronten verteidigt werden, nicht nur auf dem Markt, sondern ebenso gegen flachsinniges Output-Denken in Bildung, Kultur, Rundfunk und Fernsehen, und auch gegen alle freiheitsfeindlichen fundamentalistischen Ideologien.

Aufgaben des Sozialstaats

Aus liberaler Perspektive hat der Sozialstaat zwei Aufgaben: Zum einen muss er Daseinsfürsorge leisten, das heißt dafür sorgen, dass all diejenigen, die sich nicht auf dem Markt selbst mit den erforderlichen Subsistenzmitteln versorgen können, mit einem entsprechenden, das jeweilige Wohlstandsniveau angemessen spiegelnden Ersatzeinkommen ausgestattet werden. Zum anderen hat der Sozialstaat für Chancengleichheit zu sorgen: das heißt, er hat für ein institutionelles Umfeld zu sorgen, das durch allgemein zugängliche und hinreichend ausdifferenzierte Ausbildungs- und Bildungseinrichtungen jedem die Chance eröffnet, sich nach Maßgabe seiner Talente und Begabungen entwickeln zu können. Das verlangt den Einsatz beträchtlicher Ressourcen. Nicht darum muss sozialdemokratische Verteilungsgerechtigkeit durch liberale Chancengerechtigkeit abgelöst werden, weil die Finanzierungslast verringert werden muss: Der Sozialstaat muss sich um liberale Chancengerechtigkeit bemühen, weil allein diese moralische Orientierung mit den freiheitsrechtlichen Grundlagen unseres Überzeugungssystem in Übereinstimmung steht. Der monetaristische Automatismus einer stetigen Erhöhung der Transferleistungen ist phantasielos. Er verwandelt den Sozialstaat in eine Kriegskasse zur Finanzierung parteipolitischer Wiederwahlkampagnen. Es tut not, den Sozialstaat endlich auf ein liberales, freiheitsrechtliches Fundament zu stellen. Und dazu gehört vor allem, alles zu tun, was das Beschäftigungsniveau erhöht. Denn für den Anhänger der Chancengerechtigkeit ist Arbeitslosigkeit ein gerechtigkeitsethischer Skandal. Alles, was Arbeit schafft, muss unternommen werden. Alle Barrieren, die den Übertritt in Beschäftigungsverhältnisse erschweren, müssen abgebaut werden.

Auch muss der Sozialstaat seiner Pflicht Genüge tun, für eine entwicklungsfreundliche Infrastruktur, für ein leistungsfähiges und dem ethischen Ziel der Ermöglichung individueller Entwicklung gerecht werdendes Bildungs- und Ausbildungssystem, Förderungs- und Schulungssystem zu sorgen. Und da sind beträchtliche Investitionen notwendig. Es ist nicht zu leugnen, dass sich die Qualität unserer edukativen Binnenstruktur in den letzten Dekaden in allen Bereichen kontinuierlich verschlechtert hat. Es ist alarmierend, wenn Abgänger höherer Schulen nicht mehr studientauglich sind und Abgänger von Real- und Hauptschulen nicht mehr das Grundwissen besitzen, das für die Übernahme in Lehr- und Ausbildungsverhältnisse der Wirtschaft erforderlich ist. Das ist bedenklich angesichts des vielzitierten Umstandes, dass der einzige Rohstoff, den wir hierzulande haben, das menschliche Gehirn ist. Das ist aber nicht minder bedenklich vor dem Hintergrund des liberalen Ethos, dass jedermann durch die Gesellschaft und ihre Institutionen in seinem Weg zur selbstverantwortlichen Lebensführung nach besten Kräften und mit allen Mitteln zu unterstützen ist.

Bürger fallen nicht vom Himmel; und eine liberale Gesellschaft sollte die Ausbildung liberaler Bürgerlichkeit nicht dem Zufall überlassen. Selbst wenn es stimmen sollte, dass die moderne Gesellschaft ihren Integrationsbedarf bislang immer noch hat aus den ethischen Quellen längst verblichener Traditionswelten decken können, so hilft das nicht für die Zukunft. Traditionen sind wahrheitsdurchwirkt und können daher nicht künstlich wiederbelebt werden; diejenigen, die wieder Religion und Metaphysik wegen ihrer willkommenen integrativen Wirkungen einführen wollen, verachten beides, die Deutungssysteme der Tradition und die liberale Gesellschaft der Gegenwart. Der Liberalismus ist zweifellos ein überaus fragiles Projekt der politischen Moderne, aber es ist illusionär, es durch manipulativ eingesetzte Traditionsimitate instrumentalistisch stabilisieren zu können.

Freiheit als eigenes Gut

Es ist aber auch illusionär, den universalistischen Regeln des Rechts und der Moral motivationsbildende Kraft zuzusprechen; die Verfassung ist kein Vaterland. Wir sind Glücks- und Sinnsucher, aber keine Gerechtigkeitssucher; Glücksvorstellungen und Sinndeutungen können uns motivieren, jedoch die universalistischen Prozeduren demokratischer Willensbildung und die Rahmenordnung des menschenrechtlichen Egalitarismus entfalten keine handlungsleitende Wirksamkeit. Der Liberalismus ist aber eine anspruchsvolle Ordnung, die der Loyalität der Bürger, ihrer affektiven Bejahung und aktiven Mitarbeit bedarf. Gehen dem Liberalismus die Bürger aus, werden die Verhältnisse unbekömmlich, die politische Welt verödet, der moralische Opportunismus wuchert, und das Recht wird feige.

Der Liberalismus muss sich also selbst als ein Gut begreifen und nicht zögern, in ethischer Parteilichkeit und aus politischem Selbstinteresse durch couragierte politische Erziehung für seinen Fortbestand zu sorgen. Dazu ist aber erforderlich, dass ein liberales Ethos, ein Bürgerideal ausgebildet wird, dass der Liberalismus sein neutralistisches Selbstmissverständnis aufgibt und den Mut findet, nicht nur Schüler mit kognitiven Schlüsselqualifikationen und individuellen Karrierechancen zu versehen, sondern auch Bürgern zu erziehen, dass den Heranwachsenden in einer exzellenzorientierten politisch-ethischen Erziehung nahegebracht wird, dass der Liberalismus eine gute und gerechte, und eben darum auch, wie eins Ortega y Gasset formulierte, eine „schöne, geistreiche und halsbrecherische“ Sache ist. 

Wolfgang Kersting
Professor Dr. Wolfgang Kersting ist Direktor am Philosophischen Seminar der Universität Kiel. Zuletzt erschienen "Verteidigung des Liberalismus" (Murmann 2009) sowie "Macht und Moral, Studien zur praktischen Philosophie der Neuzeit" (Mentis 2010) www.uni-kiel.de