https://rotary.de/gesellschaft/frei-aber-nicht-fair-a-19832.html
Forum

Frei, aber nicht fair

Forum - Frei, aber nicht fair
Viktor Orbán greift nach der vierten Amtszeit: Teil seines Wahlkampfs ist eine Preisbremse für Milch, Zucker, Sonnenblumenöl, Mehl, Schweinekeulen und Hühnerbrüste. © Philipp Horak/Anzenberger

Orbáns Ungarn ist nur scheinbar demokratisch. Justiz, Polizei, Verwaltung und Banken werden immer lückenloser von Vertretern der Fidesz-Partei kontrolliert.

Paul Lendvai01.04.2022

Seit Viktor Orbán drei Mal – 2010, 2014 und 2018 – in Ungarn jeweils eine Zweidrittelmehrheit der Parlamentssitze bei scheinbar freien Wahlen gewonnen hat, wurde ich im Ausland, vor allem seit der Herausgabe meiner Orbán-Biografie, oft gefragt: Wie schafft er das, der Orbán? Die Ursachen für die Wahlerfolge liegen auf der Hand. Die Wahlen waren frei, aber nicht fair. Die Medien sind fast zur Gänze von der Regierungspartei Fidesz oder von Orbán-freundlichen Oligarchen kontrolliert. Orbáns Ungarn ist nicht mehr eine lupenreine Demokratie, weil auch die Justiz, die Polizei, die Ver waltung und das Bankenwesen immer lückenloser von der Fidesz-Partei kontrolliert werden. Das Land ist schrittweise in eine von dem „starken Mann“ kontrollierte Kleptokratie besonderer Art verwandelt worden.

Der Schock des Trianon-Diktats

Trotzdem sind die Fragen nach dem War um völlig berechtigt. Orbáns Ungarn ist nämlich nicht – oder noch nicht – eine offene Diktatur wie Putins Russland oder Alijews Aserbaidschan. Die Grenzen sind offen, Ein- und Ausreise werden nicht kontrolliert, die angemeldeten Demonstrationen werden ohne polizeiliche Stör ung zugelassen. Im Parlament finden Sitzungen statt, bei denen die Opposition Anfragen an die Regier ung und an den Ministerpräsidenten stellen darf. Ebenso wie zum Beispiel unter dem Horthy-Regime von 1920 bis 1944 gibt es einen trügerischen Schein parlamentarischer Demokratie. Die Philosophin Ágnes Heller (1929–2019) sprach von einer „postmodernen Tyrannei“ mit selektiven, anfänglich weich scheinenden, aber ständig festeren For men der Unterdrückung.


Hören Sie hier den Artikel als Audio!

Einfach anklicken, auswählen und anhören!


Wer nach den Ursachen fragt, muss berücksichtigen, dass die Magyaren, abgesehen von den Albanern, das einsamste Volk in Europa sind, mit einer einzigartigen Sprache und Geschichte. Die Angst um den langsamen Tod einer kleinen Nation und um das Aussterben des Ungartums bildet den Hintergrund zur Dominanz der Todesbilder in Dichtung und Prosa. Wenn man heute manche Reden Viktor Orbáns, gehalten in Kasachstan oder Aserbaidschan, über die asiatische Verwandtschaft liest oder seine Aufrufe zur Steigerung der Geburtenrate hört, wird der berühmte und viel zitierte Artikel des Chefredakteurs der einflussreichen Tageszeitung Budapesti Hírlap, Jenó Rákosi, aus dem Jahr 1899 in Erinnerung gerufen: „Was wir brauchen, sind 30 Millionen Ungarn! Dann würden wir den Osten Europas haben …“ Ungarn brauche nur eine zahlenmäßige Überlegenheit, so argumentierte Rákosi, um zur Führungsmacht für Österreich, Tschechien, Rumänien, Serbien, Bosnien und Dalmatien zu werden.

Nur vor diesem Hintergrund kann man den profunden Schock des Trianon-Diktats vom 4. Juni 1920 und die bis heute spürbare Wunde dieser größten Tragödie der ungar ischen Geschichte verstehen. Die herrschende Nation und ihr tausendjähr iges Stephansreich wurden erbarmungslos amputiert und die Beute – rund zwei Drittel des Staatsgebietes und der Bevölkerung – unter den drei Nachbarstaaten Rumänien, Tschechoslowakei und Jugoslawien aufgeteilt. Fast 3,3 Millionen Ungarn lebten fortan unter fremder Oberhoheit, obwohl die Hälfte von ihnen an den Grenzen der drei Nachfolgestaaten ihre geschlossenen Siedlungsgebiete behielten. Die Schuldtragenden waren schnell gefunden: die Verräter der alten Ordnung, allen voran Graf Mihály Károlyi, der erste Präsident der Republik . Als Sündenböcke wurden seine jüdischen Handlanger ausgemacht. Die Juden, und sie allein, hätten Trianon und die ungarische Tragödie zu verantworten.

Die Elite half beim Morden

Die ungarische „Dolchstoßlegende“ war von ungeheurer Bedeutung für die Dynamik des ungarischen Antisemitismus der Zwischenk riegszeit. Obwohl rund 10.000 ungarische Juden im Ersten Weltk rieg an der Front gefallen waren, wurde der Jude zum Todfeind der ungarischen Nation schlechthin erklärt. Mehr als sieben Jahrzehnte nach dem Holocaust in Ungarn hat das brisante Thema der mangelhaften Verarbeitung der eigenen Schuld unerwartet einen internationalen Skandal ausgelöst. Dieser überschattete nicht nur die von der Orbán-Regierung geplanten Feiern zum Holocaust-Gedenk jahr 2014. Eine ganze Reihe gravierender symbolischer Provokationen entlarvte damals schon die doppelgesichtige Regier ungspolitik der heim lichen Rehabilitier ung der Horthy-Ära und der Relativier ung der ungarischen Mitschuld an der Ermordung von zwei Dritteln der ungarischen Juden.

Zwei grundsätzliche Werke (Christian Gerlach/Götz Aly: Das letzte Kapitel. Realpolitik, Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden, Stuttgart 2002; und Krisztián Ungváry: Die Bilanz des Horthy-Regimes, Pécs 2012, auf Ungarisch) beschreiben und beweisen, gestützt auf zahlreiche Daten und Dokumente, die aktive Mitwirkung der politischen Elite Ungarns und die breite gesellschaftliche Kollaboration bei der Erfassung, Ghettoisierung, Plünderung und Deportation der ungarischen Juden. Es waren rund 200.000 ungarische Polizisten, Gendarmen, Beamte und Freiwillige, und nicht die etwa 100 Personen des deutschen Besatzungskommandos, die diese groß angelegte Operation effizient und gnadenlos abgewickelt haben.

Wo Ungarn ganz weit vorn ist

Es lohnt auch ein Blick auf Ungarns Beziehung zur EU: Auf der einen Seite sind die Ungarn, wie übrigens auch die Polen, gegenüber der EU deutlich positiver eingestellt als etwa die Italiener oder die Franzosen. Rund 44 Prozent der Ungarn gaben bei der Eurobarometer-Umfrage im März 2018 an, sie würden der Europäischen Union vertrauen. Auf der anderen Seite hat bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung zumindest bisher dank der regierungsfreundlichen Medienübermacht die Verschwörungstheorie gewirkt, wonach der amerikanische Investmentbanker und Philanthrop George Soros im Geheimen den Plan verfolge, mithilfe seiner Stiftungen durch Förderung der muslimischen Massenmigration die politische Ordnung in Ungarn zu destabilisieren. Die Fidesz-Mannschaft mit ihrem Propaganda-Apparat, allen voran Viktor Orbán selbst, unterstellt in schöner Regelmäßigkeit allen zivilgesellschaftlichen Organisationen und einzelnen Regierungsgegnern, als „Agenten von Soros“ mit einem Komplott den Willen des Volkes zu verfälschen.

Auf zwei Gebieten gilt Orbáns Ungarn als Listenführer: bei den EU-Förderungen, die 2017 fast fünf Prozent des Bruttoinlandsproduk tes ausmachten, und bei der Korruption. Laut des Korr uptionsindex von Transparency International ist im europäischen Vergleich nur Bulgarien noch korrupter als Ungarn. Unzweifelhafte Statistiken und Dokumente der EU-Betrugsbehörde „Olaf“ beweisen, dass Familienangehörige und enge persönliche Freunde Orbáns zu jener Clique gehören, die sich ungehindert und zügellos am öffentlichen Geld bereicher t. Kein Wunder, dass die Regierung es trotz entsprechender Forderungen bei den Protestdemonstrationen eisern ablehnt, der Europäischen Staatsanwaltschaft beizutreten. 

Paul Lendvai
Prof. Paul Lendvai ist Publizist, Moderator und Osteuropa-Experte. Seit 1973 war er Mitherausgeber und Chefredakteur der Vierteljahreszeitschrift Europäische Rundschau. Lendvai ist Autor von 16 Büchern über Osteuropa. lendvai.at