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Arroganz und Ignoranz

Die gescheiterte Ost-Politik der Europäischen Union

Der Anschluss der Krim an Russland hat gezeigt, dass die Europäische Union gegenwärtig kaum in der Lage ist, auf eine ernste äußere Krise entschieden zu reagieren. Gleiches gilt für die Flüchtlingswelle aus Afrika oder den Bürgerkrieg in Syrien. Die Beiträge auf den folgenden Seiten widmen sich der Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik. Sie erörtern, wie diese aussehen könnte und welche Voraussetzungen dabei eine Rolle spielen. Nicht zuletzt hinterfragen sie, ob Deutschland, von dem in jüngster Zeit immer wieder Führung verlangt wird, dazu bereit ist, seine Aufgaben zu erfüllen.

Paul Lendvai14.04.2014

Wladimir Putins aggressive Konfrontationstaktik auf der Krim und in der Ukraine hat zweifellos eine Wende in den oft inhaltleeren und für die normalen Bürger abgehobenen Debatten über die Gestaltung der komplizierten Struktur der EU im Dreieck Parlament–Kommission–Rat bewirkt. Der ungarisch-amerikanische Milliardär und Philanthrop George Soros sprach kürzlich in Berlin bei der Präsentation seines neuen Buches vielen Europäern aus der Seele, als er feststellte, die Krise um die Ukraine sei für Europa ein Weckruf, sich endlich wieder der Gründungskultur der Europäischen Union zu vergewissern und politisch vereint dem russischen Präsidenten entgegenzutreten.

Während aber Soros im gleichen Atemzug auch Deutschland Selbstgerechtigkeit, Heuchelei und Führungsschwäche vorwarf, feierten manche deutsche Journalisten (zum Beispiel in der Zeit vom 20. März) die ersten Beschlüsse der 28 Mitgliedsländer zur Krim-Krise als einen Beweis für „Europas neue Macht“: „Putin hat etwas Erstaunliches geschafft. Er hat den Westen in der Sanktionsfrage vereint, einschließlich der zögernden Deutschen.“ Ob und wie lange freilich dieser Weckruf in der Praxis wirken wird, muss angesichts der ebenso massiven wie gegensätzlichen Interessen der westlichen Geschäftswelt und der Abhängigkeit unterschiedlichen Grades vom russischen Gas und Erdöl völlig offen bleiben.

Voreilige Loblieder

Darüber hinaus könnten Loblieder auf Brüssel wegen der Sanktionsbeschlüsse voreilig, ja sogar kontraproduktiv sein, weil sie die außenpolitische Handlungsschwäche der EU verschleiern. Die Krim-Krise hat nämlich mit aller wünschenswerten Klarheit gezeigt, dass das vielberühmte Konzept der Ostpartnerschaft, angeboten für die ehemaligen Sowjetrepubliken, auf falsche Prämissen eines Wunschdenkens gegründet war. Eine Mischung aus Arroganz und Ignoranz hat oft die Ostpolitik der EU und der wichtigsten Mitgliedsstaaten seit dem Zusammenbruch des Ostblocks gegenüber Russland, aber auch in den Beziehungen zu manchen Reformstaaten geprägt. In diesen Rahmen fügte sich übrigens bereits in den neunziger Jahren das Trauerspiel vor dem Zerfall Jugoslawiens und während der von dem großserbischen Nationalismus ausgelösten Jugoslawienkriege.

Die EU hat aus der Vorgeschichte und den Folgen des Georgienkriegs 2008 und der durch Waffengewalt erzwungenen Ausgliederung Abchasiens und Südossetiens keine Konsequenzen gezogen. Politologisches Wunschdenken und die zwar notwendige, aber alle anderen Problemfelder ausschließende Konzentration auf die Durchsetzung menschenrechtlicher Normen standen im Vordergrund. Niemand in Brüssel oder Berlin oder Paris war anscheinend auf Putins „imperiale Strategie“ unter dem Deckmantel der Bestrebungen zur Schaffung einer „Eurasischen Union“ vorbereitet. Man hatte seinen bekannten Ausspruch vergessen: Die Sowjetunion sei „Russland, nur unter einem anderen Namen“ gewesen. Zu Recht wies der russische Ökonom Wladislaw Inosemzew in der Zeitschrift Internationale Politik (März/April 2014) kürzlich darauf hin, dass die „Integration“ des postsowjetischen Raumes ein politischer Prozess bleibt, hinter dem sich der Versuch der Wiederherstellung einer relativ autoritären Union zwischen Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken verbirgt: „Das Beispiel Ukraine hat noch einmal nachdrücklich gezeigt, dass Moskau entschlossen ist, die Politik seiner Nachbarn durch Geld oder durch Sanktionen zu kontrollieren.“

Es ist fraglich, ob die Krimkrise einen heilsamen Effekt haben wird. Bisher hat nur der schwedische Außenminister Carl Bildt den Mut gehabt, rückwirkend schwere Fehler bei der Einschätzung der russischen Politik zuzugeben. Man hätte den Anspruch des Kremls auf den Schutz der rund 25 Millionen Russen außerhalb Russlands ebenso wenig akzeptieren dürfen, wie die Sperre der Einfuhr von ukrainischen Waren, bzw. die nach der Verschärfung der Lage ausgesprochenen Drohungen gegen die Ukraine. Auch der litauische Außenminister Linas Linkevi?ius geißelte die schwache und inkonsequente westliche Haltung gegenüber Russland (New York Times vom 21. März 2014). Im Gegensatz zu jenen im Westen, die aus welchem Grund auch immer der Gewaltpolitik Putins mit Hinweis auf angebliche „Provokationen“ der NATO oder der EU eine gewisse Legitimität zugestehen würden, lehnen die vielgeprüften Opfer Stalins, vor allem die Polen und die Letten, die Litauer und die Esten, die Moldawier und Georgier die Tendenz zur Wiederherstellung des „historischen Russland“ lautstark und vorbehaltlos ab. Außenminister Rados?aw Sikorski erklärte die Gründe für die weitverbreiteten Besorgnisse der Polen: „Wir wissen, dass das Raubtier durch das Fressen noch mehr Appetit bekommt.“ Der frühere tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg und der bekannte Bürgerrechtskämpfer und heutige Chefredakteur der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, AdamMichnik, verglichen Putins Traum von Größe sogar mit den Rechtfertigungen Hitlers 1938/39 und Breschnjews 1968 für ihre Aggressionen.

Autoritäre Versuchungen

Viele Osteuropäer wollten in die Union und in die NATO, weil die beiden Institutionen eine Art Versicherung, ja Schutz vor autoritären Rückfällen im Inneren und vor der Gefahr russischer Interventionsversuche boten. Allerdings bewies die im Grunde erfolglose Konfrontation mit dem zunehmend illiberalen Regime Viktor Orbáns in Ungarn, dass, wenn einmal ein Kandidat EU-Mitgliedsstaat geworden ist, Brüssel auch im Ernstfall die politische Praxis nicht wirklich beeinflussen kann. Dass die Gefahr der autoritären Versuchung auch mit dem EU-Beitritt nicht gebannt ist, zeigt übrigens auch das Beispiel Rumäniens und Bulgariens. Das Fehlen einer gemeinsamen Politik bei der Stärkung von Demokratie und Menschenrechten und bei der Bekämpfung von Korruptionspraktiken und Tendenzen zur Untergrabung des Rechtsstaates hängt auch mit den parteipolitischen Trennungslinien im Europäischen Parlament und mit den oft gegensätzlichen wirtschaftlichen Interessen der „reichen“ EU-Mitgliedsländer zusammen.

Dass die Erfolge der EU nationalisiert und die Misserfolge europäisiert werden, hat man im Laufe des Vierteljahrhunderts seit dem Fall des Eisernen Vorhangs oft erlebt. Auch in diesem Zusammenhang darf die Bedeutung der Personenauswahl an der Spitze der EU-Hochbürokratie nicht ignoriert werden. Immer wieder werden gescheiterte Politiker oder potentielle Rivalen von den nationalen Regierungen zu EU-Kommissaren ernannt. Gerade der Ablauf der Krim-Krise lieferte den Beweis dafür, wie wichtig das Gefühl für Maß und für die Proportionen ist. Manche westlichen Politiker haben die berechtigte Angst der Osteuropäer, vor allem der Polen und der Menschen in den baltischen Staaten vor einem unberechenbaren mächtigen Nachbarn unterschätzt. Zugleich kann aber in einer gefährlichen Situation der glühende Erweiterungseifer auch kontraproduktiv wirken. Das gilt zum Beispiel für den EU-Kommissar Stefan Füle, der sich inmitten des Nervenkrieges mit Russland öffentlich für die langfristige Aufnahme der Ukraine als Vollmitglied in die EU und für die Erweiterung „als eine beispiellos verändernde und stabilisierende Kraft“ ausgesprochen hat.

Vor vielen Jahren stellte ein polnischer Journalist nach Besuchen bei Think Tanks auf einer ausgedehnten US-Reise fest, „sie wissen so viel und verstehen so wenig“. An dieses Gespräch erinnerte ich mich bei der Lektüre des Leitartikels von Thomas Schmid über „Europas Ahnungslose“ (Die Welt vom 20. März 2014), dass trotz vieler Think Tanks und Geheimdienste noch vor wenigen Wochen niemand ahnte oder auszusprechen wagte, dass Russland zu einem Krim-Coup bereit sein könnte. Am Vorabend der Europawahlen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit infolge der Euro-Krise und der Angst vor Masseneinwanderung einen Aufstieg der populistischen, nationalistischen, ja sogar rechtsradikalen Parteien in vielen EU-Staaten bringen werden, kann man die Rolle der Persönlichkeiten sowohl in nationalem Rahmen wie auch auf der europäischen Bühne nicht hoch genug einschätzen.

Man braucht heute, mehr denn je, herausragende, kenntnisreiche Persönlichkeiten als Architekten der europäischen Einigung und Verteidiger der europäischen Grundwerte im Ringen mit den imperialen Ambitionen eines autoritären russischen Regimes. Ob Putins „Weckruf“ wirken wird, hängt auch von dem künftigen Stellenwert der EU-Ostpolitik ab. Dafür braucht Europa – um einige Beispiele zu nennen – solche Persönlichkeiten wie den ehemaligen österreichischen Vizekanzler Erhard Busek, der zwischen 2001 und 2008 als erfolgreicher EU-Sonderkoordinator des Stabilitätspaktes für Südosteuropa gewirkt hat, wie den sprachkundigen polnischen Außenminister Rados?aw Sikorski oder wie den früheren rumänischen Außenminister Andrei Ple?u.

Europas Weg zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik:
1992
Mit dem Vertrag von Maastricht wird die EPZ in Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) umbenannt und als zweite der drei Säulen der Europäischen Union in das rechtliche Rahmenwerk der EU eingebunden. Die Entscheidungsmechanismen wurden nun formalisiert: Zwar war zur Festlegung eines gemeinsamen Standpunkts weiterhin die Einstimmigkeit der Regierungen notwendig, anders als zuvor galten solche beschlossenen Standpunkte nun jedoch für alle Mitgliedstaaten als verbindlich.