Titelthema
Genug der Ehre?
Die trennende Vergangenheit: Litauische Narrative des Widerstands gegen die Sowjets und der Schatten des Holocausts
Der 80. Jahrestag des Krieges Deutschlands mit der Sowjetunion, der im Juni 1941 begann, erschütterte die litauische Gesellschaft erneut. Einmal mehr wurden gewisse Erinnerungswidersprüche zwischen den großen Erzählungen, die sich auf die Geschichte des Widerstands gegen die sowjetischen Invasoren konzentrierten, und der moralischen Verantwortung der Litauer für den Holocaust, der auf litauischem Boden stattfand, deutlich.
Der Krieg zwischen der UdSSR und Deutschland markierte auch den Beginn eines qualitativ anderen, viel brutaleren Konflikts mit rassistischen Elementen der Massengewalt. Auf litauischem Boden begann diese Gewalt schon vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Es ist bekannt, dass das Schicksal Litauens, wie auch das einiger anderer Länder in der Region, durch den Hitler-Stalin-Pakt und seine geheimen Protokolle bestimmt wurde, die bereits 1939 unterzeichnet wurden. In Umsetzung dieses Abkommens rückte die Rote Armee am 15. Juni 1940 in Litauen ein und besetzte dieses unabhängige Land. Das brutale Gesicht der neuen Besatzer zeigte sich in vollem Umfang nur gut eine Woche vor der Aggression des nationalsozialistischen Deutschlands gegen die stalinistische Sowjetunion. Die Sowjets organisierten die ersten Massendeportationen der litauischen Bevölkerung nach Sibirien. Über 17.000 Menschen waren davon betroffen. Die Deportierten waren nicht nur ethnische Litauer, sondern auch Vertreter anderer Nationalitäten aus Litauen. Unter den Deportierten befanden sich auch etwa 3000 litauische Juden.
Die Wehrmacht als Befreier begrüßt
Diese Welle der Gewalt provozierte den litauischen Aufstand, der auf den deutschen Einmarsch in die UdSSR folgte, und erklärt, warum vielerorts Wehrmachtssoldaten als Befreier begrüßt wurden.
Das Volk eines besetzten Landes sollte nicht dafür verurteilt werden, dass es sich gegen die sowjetischen Invasoren erhebt und den deutschen Überfall auf die Sowjetunion ausnutzt. Der Kampf für die Freiheit ist eine würdige Sache. In dieser Geschichte sind jedoch einige antisemitische Äußerungen der offiziellen Führung dieses Aufstandes, die zweifellos dazu beitrugen, dass einige der Aufständischen nicht nur gegen die sowjetischen Invasoren kämpften, sondern sich auch am Massaker an jüdischen Mitbürgern beteiligten, sicherlich unerträglich.
Obwohl der Aufstand gegen die Sowjets nicht direkt mit dem Beginn des Holocausts in Litauen in Verbindung gebracht wird, ist es klar, dass der Massenmord an den Juden in Litauen unmittelbar nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion begann. Die Zahl der Opfer des Holocausts in Litauen wird auf etwa 200.000 geschätzt. Es ist anzunehmen, dass diese Tragödie ohne den deutschen Krieg gegen die UdSSR nicht geschehen wäre, aber das rechtfertigt nicht die Tatsache, dass einige Litauer am Holocaust teilgenommen haben.
Der Krieg in Litauen endete nicht am 8. Mai 1945. Die Gewalt vom Vorabend des deutsch-sowjetischen Krieges war nicht vergessen, und sobald die Rote Armee in Litauen einrückte, trat die Bevölkerung in eine andere Phase des Partisanenkrieges ein. Er dauerte länger als der Zweite Weltkrieg. Dazu ein paar Fakten: Der Krieg nach dem Krieg dauerte bis 1953, also fast zehn Jahre. Am bewaffneten Widerstand gegen die Sowjets waren etwa 40.000 Menschen beteiligt. Fast die Hälfte des bewaffneten Widerstandes (etwa 17.000 bis 18.000) starb in diesem Krieg. Zu dieser Zeit betrug die Bevölkerung Litauens etwa 2,5 Millionen.
Viele zivile Opfer
Trotz des relativ großen Ausmaßes des Widerstandes gegen die sowjetische Herrschaft und der aktiven Beteiligung der lokalen Bevölkerung war das Ereignis im unabhängigen Litauen lange Zeit eine Quelle großer Emotionen. Die Schuld daran lag nicht nur bei der sowjetischen Propaganda, sondern auch bei den Zielen des Partisanenkrieges selbst. Die litauische Partisanenführung erkannte, dass ihre eigenen Kräfte allein nicht ausreichen würden, um dem sowjetischen Machtgefüge zu widerstehen. Sie glaubte an die Unvermeidlichkeit eines neuen Krieges zwischen der westlichen Welt und der Sowjetunion und sah daher die Abschreckung der litauischen Bevölkerung vor einer Kollaboration mit den Sowjets als ihr Hauptziel an. Die Folgen einer solchen Taktik zeigen sich in den nackten Zahlen. Forscher schätzen, dass etwa 12.000 Menschen durch die Partisanen starben, darunter etwa 9000 Zivilisten.
Die unangenehme Wahrheit
Partisanen wurden in Litauen erst nach der Besetzung der Krim durch Russland 2014 und dem militärischen Einmarsch in der Ostukraine zu Nationalhelden. Die zunehmende Angst vor einer möglichen russischen Besatzung in der litauischen Gesellschaft hat sie gezwungen, auf die Geschichte des bewaffneten Widerstands gegen die Sowjets zurückzublicken.
Bis dahin hatten sich die großen Erzählungen im bereits unabhängigen Litauen auf die unschuldigen Opfer konzentriert und sie vor allem mit dem vom Sowjetregime begangenen Unrecht in Verbindung gebracht. Die Tragödie der Juden war für die litauische Gesellschaft kein Thema, das Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte.
Versuche der Politik, hier Abhilfe zu schaffen, waren nicht erfolgreich. Die offizielle Legalisierung des jüdischen Völkermordtages kurz nach der Unabhängigkeitserklärung wurde von den Litauern lange Zeit ignoriert, und die öffentliche Entschuldigung des Präsidenten der Republik Litauen, Algirdas Brazauskas, vor der israelischen Knesset für die Beteiligung eines Teils der Litauer am Holocaust im Jahr 1996 wurde von Litauen sehr missbilligend aufgenommen. Erst 2016, während der Debatte über Rūta Vanagaitės Buch Mūsiškiai, in dem sie die Fakten der litauischen Beteiligung am Holocaust schonungslos darlegte, wurde deutlich, dass ein großer Teil der Gesellschaft nun bereit war, diese unangenehme Wahrheit zu akzeptieren.
Die Suche nach einem Kompromiss
Die Widersprüche in der Bewertung der Vergangenheit, die im heutigen Litauen zu beobachten sind, sind nicht nur eine litauische Besonderheit. Nach der Debatte in Polen im Jahr 2001 über die polnische Beteiligung am Massaker an den Juden in Jedwabne reagierte der polnische Historiker Paweł Machcewicz auf die Forderung nach einer genaueren Betrachtung der polnischen Heldengeschichte mit einem Plädoyer für die Koexistenz der beiden Narrative, die sich zum Teil gegenseitig negieren. Sein Vorschlag von „Westerplatte und Jedwabne“ könnte für die litauische Öffentlichkeit akzeptabel sein. Auch die Litauer sollten aus den Fehlern der Polen lernen. Die Dämonisierung eines Narrativs ist oft kontraproduktiv. Deshalb wird man in Litauen viel Zeit für Diskussionen aufwenden müssen, um Wege für eine friedliche Koexistenz der beiden Erzählungen zu finden, ohne die moralische Verantwortung der Litauer für den Holocaust zu leugnen und unter Wahrung der Erinnerung an die Freiheitskämpfer.
Alvydas Nikžentaitis ist Direktor des Instituts für litauische Geschichte in Vilnius. Er ist Historiker, Kulturwissenschaftler und Mitherausgeber der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung. Als Autor ist er auch Mitglied im litauischen Autorenverband PEN.