Interview
"Hört auf, Auto zu fahren!"
Wenn das Meer uns allen gehört, sind wir auch alle für seinen Schutz verantwortlich. Björn Lange sprach mit Mare-Gründer Nikolaus Gelpke über die wahren Probleme des Meeres.
Herr Gelpke, Sie waren dem Meer früh verbunden, denn schon vor dem Abitur hatten Sie alle Tauchscheine. Und dann lernten Sie Elisabeth Mann Borgese kennen, die Lady of the Oceans, und verbrachten viel Zeit mit ihr. Als junger Erwachsener mussten Sie einmal ihr umgekipptes Bücherregal neu ordnen und wieder einsortieren. Fast all diese Bücher handelten vom Meer. Hat Sie dieses Ereignis bestärkt in Ihrem Wunsch, sich dem Meer zu widmen?
Das hat ihn sogar ausgelöst. Ihre Arbeit mit dem Meer hat mich dazu gebracht, das Meer anders zu sehen als bisher. Bis dahin hatte ich es eher aus wissenschaftlicher und sportlicher Sicht betrachtet, es ging ums Tauchen und Segeln. Das war der Blick, den die meisten Menschen aufs Meer haben. Sie hat mir den Blick eröffnet auf die wirtschaftliche, politische und kulturelle Dimension des Meeres.
1975 erschien Elisabeth Mann Borgeses Buch "Das Drama der Meere", und von ihr stammt der Satz: "Unsere eigene Freiheit spiegelt sich in der Freiheit der See". Was meinte sie damit?
Als sie das schrieb, gehörte das Meer jenseits der Hoheitsgewässer, jenseits der Zwölf-Meilen-Zone, niemandem. Es galt das Recht des Stärkeren. Für sie war ein entscheidender Satz: "The common heritage of mankind", also dass das Meer das gemeinsame Erbe der Menschheit ist. Es ging ihr darum, dass man das Meer gemeinsam verwaltet, wie es heute auch im Seerecht festgelegt ist. Es ging ihr darum, dass alle Länder, die ans Meer Grenzen, vom Meer partizipieren, dass alle diese Freiheit bekommen, nicht nur die starken Länder. Bis dahin galt das Recht des Stärkeren, also Russlands, der USA und einiger europäischer Länder.
Sie hat die politische Dimension des Meeres neu definiert. Das Seerecht ist das umfangreichste Recht der Welt.
Unbedingt. Es inkludiert alle Länder, auch Länder wie die Schweiz und Österreich, deren Flüsse ins Meer münden, und es regelt wissenschaftlich, militärisch, wirtschaftlich fast jeden Bereich des Lebens ganz umfassend. Es ist schon erstaunlich, dass etwa drei Viertel der Welt darin sehr klar und sehr modern geregelt sind.
Sie haben 1997 Ihre Zeitschrift Mare ins Leben gerufen. Welches sind Ihre Lieblingsthemen und wie viel Einfluss nehmen Sie auf den Inhalt?
Ich mache alle Bereiche gern. Mit der Zeitschrift haben wir angefangen, aber irgendwann gemerkt, dass man manche Geschichten nicht in der Zeitschrift erzählen kann, also kam der Buchverlag hinzu. Dann, als wir eine Fotoreportage vor uns sahen, dachte ich: Mensch, eigentlich will ich diesen Jungen jetzt auch reden hören und sehen, wie er geht. Dann hat es fast vier Jahre gebraucht, bis wir auch im Fernsehen waren, zwei Jahre RTL und dann beim NDR. Aber das Heft ist mir immer noch am nächsten. Ich finde es immer noch am spannendsten, ein Heft zu entwickeln, denn beim Heft hat man eine ganz tolle Möglichkeit. Man muss ein greifbares Titelthema wählen und sicher auch immer Themen drin haben, von denen man überzeugt ist, dass die Kernzielgruppe sie packt. Man kann aber in jeder Ausgabe ein oder zwei Geschichten reinschmuggeln, von denen man ahnt, dass sie nur eine kleine Gruppe interessieren, die einem selbst aber sehr wichtig sind. Das geht beim Fernsehen nicht, wir haben es versucht. Wenn Sie im Fernsehen ein Ringelnatz-Gedicht über Seepferdchen von Otto Sander vortragen lassen, schalten drei Viertel der Leute weg. Bei einem Buch entscheidet man sich für ein Gesamtwerk, da ist keine Mischung möglich. Im Magazin hat man aber eine ganz andere Vielfalt. Mit den Kollegen gemeinsam eine Magazinmelodie zu entwickeln – das ist schon toll. Und da kenne ich natürlich jeden Satz, jedes Bild und jede Bildunterschrift.
Und alles geht über Ihren Schreibtisch, bevor es rausgeht?
Nicht nur einmal. Jedes Manuskript, bevor es überhaupt angenommen wird, geht über meinen Schreibtisch, jeder Fotoauftrag und jeder Textauftrag. Natürlich bin ich derjenige, der die Heftabnahme macht und den letzten Blick draufwirft. Das tue ich nicht wegen meines Kontrollwahns, sondern um die Kollegen in ihrer Verantwortung zu entlasten. Denn wenn dann wieder mal etwas schiefgelaufen ist, muss ich mich an meinem eigenen Schopf packen.
Nach Mare TV und Mare Radio kam 2017 das Mare Künstlerhaus. Und Ihr jüngster Coup ist die MS Cape Race. Was wollen Sie mit einem Expeditionsschiff?
Das Schiff habe ich Ende 2017 gekauft, aber weil wir Asbest gefunden haben, musste es erst einmal zwei Jahre umgebaut werden. Das war der erste Niederschlag. Der zweite war die Pandemie. Dieses Jahr ist unsere erste richtige Saison, seit April sind wir unterwegs. Letztes Jahr waren wir erst ab August unterwegs. Es ist ein kleines Schiff für zwölf Personen. Die Idee ist, dass wir sehr wenigen Gästen, die von erfahrenen Expeditionsleitern intensiv betreut werden, die Arktis näherbringen. Wir wollen nicht nur Eisbären sehen oder Walfluken bestimmen, sondern ihnen die gesamte Ökologie des Eismeeres näherbringen. Wir können auch Wasserproben entnehmen und haben Mikroskope an Bord. Unsere Gäste lernen, was diese grandiose Natur, die sie gerade besuchen, so sehr bedroht. Der Klimawandel ist dort am offensichtlichsten und leider auch am schnellsten. Wir fahren mit einem speziellen Dieseltreibstoff, der keinen Schwefel emittiert, und haben eine Kläranlage an Bord, damit nichts über Bord geht, was da nicht hingehört.
Ist Tourismus in der Polarregion überhaupt zu verantworten?
Diese Art des Tourismus finde ich okay, weil es wichtig ist, dass Menschen für diese unglaublich schöne Natur sensibilisiert werden. Sie müssen etwas kennenlernen und erleben, um es zu schätzen und nicht zu zerstören. Aber man muss sich Gedanken machen, in welcher Dimension man das macht. Das ganze Schiff ist sehr charmant, es ist von 1963, mit Mahagoni-Salon und ohne Fernseher. Das hat mit diesem modernen Resopaltourismus der großen Kreuzfahrtschiffe nichts zu tun. Es ist gemütlich, cozy und wir haben es zwei Jahre auf modernste Sicherheits- und Umweltstandards bringen lassen. Es war ein verrücktes Unterfangen, aber es ist zum Glück gut angelaufen.
Sie haben einmal sinngemäß gesagt: Man muss das Meer kennenlernen, nur dann kann man es lieben. Nur was wir lieben, schützen wir. Da würden Ihnen viele Nordsee- oder Mittelmeerurlauber antworten: Was will der mir sagen, ich kenne das Meer doch seit vielen Jahren.
Ja, sie kennen das Meer als Urlauber, aber sie können nicht reingucken. Das Meer hat ein Riesenproblem, es hat keinen Anwalt. Wenn ein Wald in schlechtem Zustand ist, weil zum Beispiel Bäume vom Borkenkäfer befallen sind, dann sieht man es ihm an. Dem Meer sieht man seinen schlechten Zustand nur an, wenn man einen Müllteppich oder Ölteppich sieht. Vor allem ein Müllteppich ist gar kein so großes Problem. Die drei wirklich großen Probleme der Meere sind die Versauerung, die Erwärmung und die Überfischung. Vor allem die Erwärmung und die Versauerung töten nachhaltig die maritime Flora und Fauna. Das ist nicht umkehrbar und in allerhöchstem Maße dramatisch. Plastikmüll ist ein guter Door Opener, um fürs Meer zu sensibilisieren. Sammelt ruhig weiter Plastik, das ist in Ordnung, aber hört auf Auto zu fahren. Das ist viel wichtiger. Das CO2-Problem der Meere ist viel dramatischer, als die Menschen denken. In der Arktis kann man das feststellen und sehr klar nachweisen.
Das Meer hat nicht nur eine ökologische und politische Dimension, sondern auch eine wirtschaftliche. Als der Handel auf den Weltmeeren in großem Stil begann, ging die Macht vom Adel zu den Kaufleuten über.
Genau so ist es. Eigentlich hat der große gesellschaftliche Wandel im 16. Jahrhundert stattgefunden, als die Vorherrschaft des Adels durch mittelständische Händler abgelöst wurde. Das sieht man auch, wenn man in der Pinakothek in München von Saal zu Saal geht. Zuerst sieht man nur Bilder von Geistlichen, dann von Adligen, und plötzlich sieht man auch Bilder von Kaufleuten, die solche Arbeiten in Auftrag geben konnten. Das war in dem Moment, als die globale Schifffahrt einsetzte. Ohne das Meer wäre die Globalisierung nicht möglich gewesen, das Segel gibt es länger als das Rad.
Was braucht das Meer, was muss passieren?
Es braucht Lehre, Wandel und Zeit. Die Menschen müssen für die wirklichen Probleme sensibilisiert werden. Man muss verstehen, dass das CO2-Problem eine tickende Zeitbombe ist, die uns um die Ohren fliegen wird. Die Medien haben eine Verpflichtung, jenseits der aufsehenerregenden Plastikmüllsammlungen dieses CO2-Problem des Meeres in den Vordergrund zu stellen. Man braucht die Lehre für den Wandel, und Zeit, um handeln zu können. Die Menschen sind es nicht mehr gewohnt, komplexere Sachverhalte zu lesen und zu verstehen, denn die sozialen Medien liefern nur Schlagzeilen. Dann reicht es aber nicht. Auch die Bilder, die die sozialen Medien dominieren, zeigen nicht, wie schlecht es dem Meer geht. Das ist ein Dilemma. Leute, schafft eure Ölheizungen ab, lasst euren SUV stehen! Ich verbrauche seit 15 Jahren keinen Tropfen Öl oder Gas, keinen Tropfen. Das geht! Das ist auch gar nicht mehr so teuer, das ist nicht mehr nur etwas für Privilegierte.
Ein Interview mit dem bekannten Klimaforscher Mojib Latif lesen Sie unter rotary.de/a20264
Nikolaus Gelpke ist Journalist, Meeresbiologe und Verleger. Er ist Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift Mare. Gelpke ist engagierter Meeresschützer, Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute.
© Mathias Bothor