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„Alt Berlin“: Die Kneipe, die 1893 eröffnet wurde, war die älteste Kneipe der deutschen Hauptstadt. Im Jahr 2014 musste sie schließen. © Adam Berry/Getty Images

Seit Monaten dürfen die Deutschen nicht in ihre Kneipen, dabei sind sie ein wichtiger Teil der deutschen Kultur und ganz besondere Soziotope. Werden sie wieder öffnen? Eine Liebeserklärung von Harald Martenstein

Harald Martenstein01.03.2021

In jeder Stadt, in der ich lebte, und in jedem Viertel, in das ich zog, hatte ich nach einer Weile meine Lieblingskneipe. Wenn der Wirt oder die Wirtin deinen Vornamen kennt und dein Lieblingsgetränk, bist du angekommen und von diesem Moment an darf alles so bleiben, wie es ist.

Bei uns in Berlin waren die echten Kneipen schon vor Corona seltener geworden. Eine echte Kneipe erkenne ich am Tresen, dort stehen Leute verschiedenster Art. Viele Tresensteher trinken Bier, aber das ist nicht Vorschrift. Bis auf ein paar Basics, so was wie „keine Gewalt“ oder „bleib halbwegs zurechnungsfähig“ ist hier nämlich fast nichts Vorschrift. Gesetz ist das, was der Wirt sagt oder die Wirtin.

Das Andere sind die Klubs und die Bars. In den Klubs wird nur eine bestimmte Sorte von Leuten hereingelassen. Klubs sind exklusiv. Die Fragmentierung der Gesellschaft in verfeindete oder einander ignorierende Stämme hat auch damit angefangen, dass es irgendwann immer mehr Klubs gab. In den Bars gibt es feine Drinks, die von einer Fachkraft, die oft ein Jackett trägt, aus vielen Zutaten gemixt werden. Der Cocktail spiegelt das Ideal der multikulturellen Gesellschaft, alle Zutaten harmonisieren miteinander und ergeben zusammen etwas Neues. Nicht jeder kann sich den Cocktail leisten, er kostet so viel mehr als ein Bier.

Salzstangen, Nüsse, Buletten

Eine echte Kneipe, eine, die ich mögen könnte, ist nicht exklusiv, sondern egalitär. Jeder darf hinein, so lange es noch Platz gibt. Die meisten Kneipen haben ein Stammpublikum, und wenn du zum Stammpublikum gehörst, wirst du wohl bekannte Gesichter sehen. Du kannst in deiner Kneipe aber auch neue Leute kennenlernen, Leute aus einem anderen Milieu, mit ganz anderen Berufen, anderer Herkunft, sie verdienen mehr oder weniger Geld, als du es hast. Manchmal haben sie auch ganz andere Ansichten. Vielleicht findest du einen Freund für einen Abend, oder aber du lernst ein unglaubliches Arschloch kennen. Auch das kann passieren. Es gibt in der Regel nichts Besonderes zu trinken, das Übliche halt, und es gibt auch nichts zu essen, für das der Weg zur Kneipe sich lohnen würde. Salzstangen, Nüsse, vielleicht Buletten. Eine Suppe, hausgemacht, wäre schon Luxus. Die gibt es nur, falls die Wirtin zufällig Zeit und Lust gehabt hat.

Eine Kneipe wird besser, je älter sie wird. Gebrauchsspuren sind wichtig, die erzählen vom Leben. Stammt dieser Brandfleck da auf dem Tresen vielleicht von dir? Könnte sein. Heute darf nicht mehr geraucht werden, aber der alte Geruch liegt immer noch in der Luft. Wer lange durchhält, in Berlin heißt das, bis lange nach Mitternacht, wird belohnt. Die Wirtin macht dann die Außenreklame und das Licht aus, nur die gelbliche Funzel überm Tresen bleibt an. Dann zieht sie die Vorhänge zu oder lässt die Rollläden runter. Anschließend holt sie aus einer Schublade die alten Aschenbecher und sagt: „Ab jetzt isses ne Privatveranstaltung, klar, Manfred?“ Und Manfred, oder Ossi, oder Birthe, oder wie die Person auch heißt – jedenfalls arbeitet sie beim Ordnungsamt oder der Polizei, etwas in der Richtung – Manfred also sagt „ick sage nüscht“ und „haste nochn Persico?“ Persico, ein Kirschlikör, oder Futschi, also Cola mit Asbach, auch sie sind nichts Besonderes, typische Absacker, aber doch selten geworden – man trinkt sie nur in der Kneipe. Heute will jeder was Besonderes sein.

Die echte Kneipe sieht billig aus, auf Style hat bei der Einrichtung keiner geachtet. Plastikblumen, Regale voller Bierseidel aus Zinn, gefakete Plakate vom Stierkampf an der Costa Brava mit dem Namen des Wirts als Matador, ein ausgestopfter Biber, alles keine Tabus. Richtig teuer war nur der Tresen, im Idealfall aus Eiche. Alles andere wäre kontraproduktiv. Niemand soll sich hier eingeschüchtert fühlen. Niemand ist hier etwas Besseres, es gibt kein oben und kein unten, so lautet der ungeschriebene Vertrag. Wenn junge Pächter eines Tages die Kneipe übernehmen, lassen sie diese Einrichtung oft drin, entweder finden sie den ausgestopften Biber tatsächlich cool oder sie machen auf Ironie. Im besten Fall kommen einige der alten Gäste immer noch her und vermischen sich mit den Neuen, obwohl sie die Ironie der Jungen nicht ganz verstehen.

Stirbt die Kneipenkultur?

Manchmal, nicht allzu oft zum Glück, gibt es in der Kneipe Streit. Das liegt am Alkohol. Es soll sogar vorkommen, dass Freunde sich zu später Stunde anbrüllen, am nächsten Morgen erinnern sie sich nicht mehr an den Grund, und an einem der nächsten Abende arrangiert die Wirtin eine schnelle, verlegene Versöhnung. Manchmal muss die Wirtin auch hart sein, dann fliegt jemand raus, sie ist eine Autorität und weiß genau, wann es nötig ist. Es gab Zeiten, in denen die Wirtin manchmal die einzige Frau in der Kneipe war, aber die sind lange vorbei. Die Frauen, die in die Kneipe kommen, sind meistens ein bisschen wie sie, die können sich wehren und wissen genau, wer ein harmloses Großmaul ist, wer ein lieber Kerl und wer ein Arschloch ist.

Alles, wofür die Kneipe steht, ist fragwürdig geworden, auch die Idee, dass niemand etwas Besonderes ist, sondern alle irgendwie gleich, Menschen halt. „Man muss immer Mensch bleiben“, sagen sie in der Kneipe gern, wenn nach Mitternacht das gelbe Funzellicht brennt, sie sich zum letzten Futschi die erste Zigarette anzünden und ihnen kein Argument mehr einfällt. Dann werfen sie einen Euro in das Schiff mit dem Schlitz, das Spenden für die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger sammelt und schon immer hier stand, zuletzt geleert wurde es vor Jahren.

Manche Kneipen haben sich in den vergangenen Jahren mit Fußball über Wasser gehalten, Sky, Public Viewing. Aber Sky ist teuer geworden. Und seit manche Spiele auf „Dazn“ laufen oder noch woanders, blicken viele nicht mehr durch. Wie das mit der nächsten WM und der nächsten EM genau läuft, weiß wegen Corona auch noch niemand. Vielleicht ist einfach Schluss. Vielleicht wird das Wort „Kneipe“ in hundert Jahren in den Ohren so fern klingen wie heute das Wort „Postkutsche“. Um sich zu treffen, gibt es ja schon heute Apps. Die riechen nach nichts und schmecken nach nichts, sie sind clean, in jeder Hinsicht. Du suchst dir aus, mit wem du reden willst, Zufälle gibt es nicht mehr. Wer nervt, wird abgeschaltet. Die Wirtin von damals soll ja jetzt, wie man hört, Pakete ausliefern. Für Amazon.

Harald Martenstein

Harald Martenstein ist Kolumnist und Autor. Seine Kolumnen erscheinen regelmäßig in der Wochenzeitung Die Zeit, im Berliner Tagesspiegel sowie bei Radioeins und dem Radio des NDR.

harald-martenstein.de

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