Titelthema
Wenn es ernst wird
Die Corona-Krise ist nur eine Krise, keine Katastrophe. Sie lehrt uns, wer und was in schweren Zeiten wirklich wichtig für uns ist.
Gibt es etwas, dass sich aus der Corona-Krise lernen lässt? Zwischen dem Tag, an dem dieser Text geschrieben wurde, und dem Moment, in dem Sie begonnen haben, ihn zu lesen, liegen einige Wochen. Dieser Autor ist also dümmer als Sie, er kann nicht wissen, wie es mit dieser Pandemie in der Zwischenzeit weitergegangen ist. Im Moment räumen die Leute panisch die Regale leer, es gibt in manchen Läden weder Nudeln noch Klopapier. Die Kanzlerin hat Corona mit dem Zweiten Weltkrieg verglichen. Das Gegenstück zu den Panikern sind die Ignoranten, sie feiern Corona-Partys, gehen mit ihren Kindern auf den Spielplatz und kaufen in Läden ein, die eigentlich geschlossen sein müssten, aber in Berlin, wo Verbote gern ignoriert werden, immer noch geöffnet sind.
Beide Reaktionen, Panik und Ignoranz, sind natürlich falsch, das ist eigentlich allen klar, vermutlich auch denen, die so reagieren. Ignoranz ist asozial, man macht sich zur Virenschleuder, Panik ist unsolidarisch. Aber beide Reaktionen sind auch zutiefst menschlich und tief in uns verankert, deshalb sind sie so verbreitet. Unsere Vorfahren waren es gewohnt, um ihr Leben zu kämpfen. Das bedeutete, schneller und rücksichtsloser zu sein als die Konkurrenz. Das, was zählte, waren das eigene Überleben und das Überleben der Sippe. Eine darüber hinausreichende Idee wie Solidarität mit sämtlichen Mitbürgern, auch denen, die sie gar nicht kennen, wäre unseren Ahnen nicht in den Kopf gekommen. Wenn Leute im Kino sitzen und eine Horrorszene kommt, schließen viele die Augen, wie Kinder. Was ich nicht sehe, ist nicht da. Vor allem Männer ignorieren es gern, wenn sie krank sind. Es ist nicht da, wenn ich so tue, als wäre es nicht da. Daneben gibt es auch die Angstlust, deshalb sind Bungeejumping, Thriller und Horrorfilme ja auch bei vielen beliebt. Angstlust kann Menschen sogar dazu bringen, sich freiwillig Gefahren auszusetzen, weil sie glauben, diese Gefahr überstehen zu können. Ihr Sieg über die Angst gibt ihnen einen Kick, der dem Orgasmus angeblich nicht unähnlich ist. In der Evolution ist die Angstlust wohl deshalb entstanden, weil sie mutig oder sogar tollkühn macht, manchmal sichert genau dies das Überleben, bei einer Epidemie eher nicht.
Die Angst vergangener Tage
Bei Ereignissen wie der Corona-Krise schauen wir also in den Spiegel, wir ahnen wieder, wer wir sind, wenn uns die dünne Decke der Zivilisation weggezogen wird. Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner. Das war einer der Lieblingssätze meiner Großmutter, die vier Katastrophen überlebt hatte, einen Krieg als Kind, den zweiten als junge Frau, dazu Chaos und Hungerkrisen nach beiden Kriegen. Ich dachte an diesen Satz, als ich die leeren Regale in den Geschäften sah, leer geräumt von den Hamsterern. Rette sich, wer kann! Sicher, es gab auf der „Titanic“ Menschen, die ihren Platz im Rettungsboot anderen anboten. Der Normalfall ist das nicht. Egoismus ist der Normalfall. Auch meine Großmutter hat gehamstert. Sie hatte Hunger. Der Hunger anderer Leute war ihr nicht egal, aber erst mal ging es um ihren. Sogar die meisten Moralprediger dürften anders reden und anders handeln, wenn sie und ihre Kinder Hunger haben.
Um Hunger geht es heute gar nicht, stimmt. Corona ist ein müder Witz, verglichen mit dem, was die Generation unserer Großeltern erlebt hat, als es Bomben auf die einen regnete oder die anderen in Lagern auf den Tod warteten. Viele Berichte schildern, dass es auch damals Solidarität und Mitmenschlichkeit gab, aber sie waren eher die Ausnahme als die Regel. Rette sich, wer kann! Es gab Verrat, Kollaboration, das letzte Stück Brot musste man gut verstecken. Wir haben verlernt, wie es ist, wenn es ernst wird. Jetzt bekommen wir eine Ahnung davon.
Corona ist gar keine echte Katastrophe, wie etwa die Pest es war, man kann es nicht oft genug sagen. Es geht ja nur, besser gesagt „nur“ darum, ob relativ viele sterben oder relativ wenige. Die weitaus meisten werden überleben. Die meisten Opfer werden Menschen wie ich sein, nicht mehr jung, nicht ganz gesund. Viel haben Leute wie ich nicht zu verlieren, kein Leben, nur ein paar Jahre. Was passieren wird, wenn ein echter Killervirus unterwegs ist, weiß man jetzt. Wir werden uns an die halten, die uns nahe sind, es wird Schluss sein mit der Liebe zur ganzen Menschheit, es wird Schluss sein mit der naiven Vorstellung, dass wir alle eins sind. Wenn jemand, der einen Killervirus trägt, unsTitelthema, 2020, er Kind anzufassen droht, könnten wir zu Mördern werden.
Natürlich ist es vernünftig, Gefahren für andere zu vermeiden, wo immer man kann, denn sie sollten es umgekehrt auch tun. Vernünftig ist es aber ebenfalls, nicht zu viele Illusionen zu haben. Vernünftige Maßnahmen, wie etwa eine Ausgangssperre, sind nur durchzusetzen, wenn auf den Straßen Polizei patrouilliert. Dass jeder sich selbst der Nächste ist, wenn es ernst wird, lässt sich in der Corona-Krise auch an den ersten Reaktionen unserer europäischen Partner erkennen. Regierungschefs wie Emmanuel Macron oder Sebastian Kurz dachten natürlich nicht im Traum daran abzuwarten, bis die Deutschen und Angela Merkel aus dem Phlegma in den Aktiv-Modus schalten. Sie taten, was sie für nötig und richtig hielten, im Interesse ihres Landes. Und das ist vernünftig. Vergesst die Europa-Romantik. Staatenbünde werden nicht von schönen Reden zusammengehalten, sondern vor allem von gemeinsamen Interessen und den Vorteilen, die man davon hat. Wenn die wegfallen, bleibt nicht viel übrig. Diese Erkenntnis spricht selbstverständlich nicht gegen die EU, wohl aber gegen die Idee, sie könnte haltbarer sein als eine Zweckehe, wenn der Zweck wegfällt.
Wirre Behauptungen
Zu den Lehren aus Corona gehört auch, dass viele eine solche Krise für sich auszunutzen versuchen und ihr Süppchen kochen. Trickbetrüger rufen Alte an und geben sich als Infizierte aus, die Geld brauchen, um ihr Leben zu retten. Von rechtsaußen und linksaußen hört man vor allem Verschwörungstheorien, die durch Corona angeblich bewiesen werden. Der Grünen-Chef Robert Habeck möchte, dass Hoteliers ihre Zwangspause dazu nutzen, Ölheizungen durch ökologischere Lösungen zu ersetzen. Dabei kämpfen viele Unternehmer gerade um ihre Existenz. In der Türkei wird im Fernsehen gesagt, die großartigen Türken seien immun gegen das Virus. Eine Politologin, Ulrike Guérot, eine Gegnerin der Nationaltaaten, spricht im Zusammenhang mit Corona von „Vernunftspanik“. Die Autorin Meike Lobo erklärt, der Tod alter Menschen sei einer „der gesündesten Vorgänge der Welt“. Wenn sie selber einmal alt ist und gern noch ein bisschen Zeit hätte, sollte man sie unbedingt daran erinnern.
Es gibt auch die Gegenbeispiele, die, die sich aufopfern, die versuchen, trotz allem gute Laune zu verbreiten, die ihre eigenen Interessen für eine Weile zurückstellen. Wenn es ernst wird, geraten sie schnell in die Minderheit. Dann, fürchte ich, ist vor allem auf die Verlass, die uns nahestehen, die Familie, enge Freunde. Es ist vernünftig, die Liebsten für wichtiger zu halten als alle anderen. Denn wer alle für gleich wichtig hält, der hält niemanden für wichtig.
Harald Martenstein ist Kolumnist und Autor. Seine Kolumnen erscheinen regelmäßig in der Wochenzeitung Die Zeit, im Berliner Tagesspiegel sowie bei Radioeins und dem Radio des NDR.
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