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Identität, die wir brauchen

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Blick in die Halle. Links: die Providentia vom gleichnamigen Brunnen am Neuen Markt © Wien Museum/Lisa Rastl

Für die Ausstellung „Wien – meine Geschichte“ sollte man genügend Zeit mitbringen. Ein Rundgang durch das neu eröffnete Wien Museum am Karlsplatz.

01.01.2024

Als Anfang Dezember nach vierjähriger Umbauzeit das Wien Museum öffnete, stand eine gewaltige Schlange vor dem Eingang. Vorsorglich gab es Absperrungen, und es wurden Extra-Garderoben eingerichtet. Durch die Räume wuselten unzählige Hilfskräfte, um die Fragen der Besucher zu beantworten. Neben mir, vor mir und hinter mir hörte ich Staunen: „Interessant!“ Eltern waren mit ihren Kindern gekommen. Großväter schoben Buggys mit den Enkeln. Alte Damen, von ihren Freundinnen begleitet, sahen sich jünger werden, als die Zeit ihrer Jugend aufschien. – Wien stellt in einer neuen Dauerausstellung seine Geschichte von der Jungsteinzeit bis in die Gegenwart vor.


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Überstand Jahrhunderte: Skulptur Herzog Albrechts II. vom Hohen Turm von St. Stephan © Wien Museum/Birgit und Peter Kainz

In der untersten Etage spannt sich der Geschichtsbogen bis zur zweiten osmanischen Belagerung 1683, in der ersten Etage geht’s von 1700 bis 1900 durch Wiens Aufbruch zur Weltstadt mit mehr Einwohnern als heute, und in der zweiten geht’s durch das Ende der Monarchie und die unselige Kollaboration mit dem Faschismus bis zum Zusammenleben der Wiener mit den Migranten von heute. Ich, der zwischen zwei Städten seinen Wohnsitz teilt, wurde ganz Wiener, und ja, ich erlebte auch meine Geschichte. So ist die neue Dauerausstellung benannt: „Wien – meine Geschichte“. Direktor Matti Bunzl klärte mich über die Gründe der Titelgebung auf: „Wir wollen vermitteln, dass die Geschichte der Stadt als die Geschichte ihrer Menschen erfahren wird.“

Plötzlich stand ich mit der Frage nach der Rolle von stadtgeschichtlichen Museen im Trubel um mich herum da. Der Direktor erlöste mich fürs Erste: „Museen wie unseres sind der Ort, das Erbe der Stadt zu sammeln, zu bewahren, zu erforschen und auszustellen.“ So sieht es der Direktor, und wie sehe ich es? Zunächst fällt mir auf, dass nur bei einer knappen Recherche gleich drei große Stadtmuseen in Deutschland ihren Umbau melden. München hat seit Januar dieses Jahres geschlossen, Köln eröffnet neu im März, und Hamburg baut noch bis 2025 um. Offensichtlich wird auf die Präsentation von Stadtgeschichte größerer Wert gelegt als noch vor Jahren. Je weiter wir uns in ein gemeinsames Europa vorwagen, desto mehr brauchen wir für unseren festen Stand sicheren Boden unter den Füßen. Den verschafft uns nicht zuletzt das Wissen über die Geschichte unserer Stadt, die meist selbst schon tief nach Europa hineinführt. Bei einer Stadt ist es die Hanse, bei der anderen wechselnde Herrscher, oder es schiebt sich zusammen mit der Stadtgeschichte die halbe europäische Kirchengeschichte ins Bild.

Mehr Luft auf Etage eins

Jetzt nehme ich Sie erst einmal mit ins neue Wien Museum. Kein leichtes Unterfangen, denn ich führe Sie über drei Etagen der neuen Dauerausstellung und bin froh, dass es in der Aufstockung im Moment noch keine Sonderausstellung gibt. Im Erdgeschoss, wo die Geschichte aus der Altsteinzeit vor 35.000 Jahren geholt wird, erschlägt mich die Fülle des Angebots, es riecht ein wenig nach Naturkundemuseum. Vier Jahre Umbauzeit scheinen offensichtlich alle Mitarbeiter des Hauses zum Wettbewerb getrieben zu haben, keine historische Facette ihres Sammlungsgebiets auszulassen. Ab dem Jahr 950 ist meine Wahrnehmung dann mit der Angebotsfülle halbwegs synchronisiert, und ich bin auf dem Weg zur Stadt Wien. Ich sehe einen lustigen Comic über die zweite osmanische Belagerung 1683. Man erklärt mir, wie dieses Datum später in der Stadtgeschichte benutzt wurde. Bei der Heldenverehrung wurde das Datum schnell für den aktuellen Gebrauch „umgewidmet“. Etwa vom Kanzler Dollfuß, der 1933 das Jubiläum nutzte, um die Österreicher im Geist der Türkenabwehr gegen Nazis und Sowjets einzuschwören.

In der ersten Etage, in der wir durch das 18. und 19. Jahrhundert Wiens flanieren, wird alles sowieso übersichtlicher und anschaulicher. Hier bekommt der Besucher mehr Luft, scheint mir, und merkwürdigerweise auch mehr Licht. Jetzt darf die Kunst miterzählen. Auf einem Ölgemälde, das die „wilde Börse“ in Wien darstellt, zeigt der offenbar antisemitisch eingestellte Maler vor allem jüdische Menschen mit den schlimmsten Klischees. Dass an einer Ausstellungswand links die Entwicklung einer neuen jüdischen Gemeinde in Wien gezeigt wird und gleich rechts daneben die Ausbreitung der Pest über Wien vorgeführt wird, sollte wegen des unguten Framings geändert werden, meine ich. Aber ansonsten schaffen die Gemälde eine wunderbare Anschaulichkeit. Man weiß ja, wie Romantik und Biedermeier Familie, Wohnen und selbst die Lust an der Sommerfrische aufgewertet und eben auch in der Kunst vorgeführt haben. Nicht vergessen wurde die gleichzeitig wachsende Armut. Wahrscheinlich ist es bei dem großen Angebot an Fakten ungerecht, dass mir die eine oder andere Jahreszahl fehlte. Bei Joseph II., dem mitregierenden Sohn von Maria Theresia und großen Aufklärer, oder später auch bei Metternich. Wie lange hat der eigentlich seine verheerende Zensurpolitik bei den Habsburgern betrieben? Trotz der Fülle des Angebots werden immer Lücken bleiben müssen.

In der zweiten Etage enden dann 1918 das Habsburger Imperium und Wiens Rolle als Lenkungszentrale. Kurz sieht man noch die größte Ausdehnung und dann den „Rest“. Eine Schrumpfung nicht ohne historische Gerechtigkeit. Hunderttausende begeisterte Wiener stehen auf dem Heldenplatz und jubeln Hitler zu. Später lese ich, dass die Wiener bei der Übernahme jüdischen Eigentums eifriger waren als die Deutschen im Reich. Da platzt die Verteidigung von Österreich als erstem Opfer Hitlers. Und dass die Parteien nach der Gründung der Zweiten Republik 1955 die ehemaligen Nazis als Wähler gern auf ihre Seite gezogen haben, wird für Wien deutlich belegt und hat ja noch einen Herrn Waldheim 1986 Bundespräsident werden lassen. Apropos „belegt“: Gerade die sieben Jahre „Anschluss“ an Nazideutschland sind bestens dokumentiert, denn für Eichmanns Judenvernichtung war die Bürokratie ein scharfes Schwert. Melderegister spielten nicht selten eine tödliche Rolle. – In das von den vier Besatzungsmächten befreite Wien nach 1955 zog das Wirtschaftswunder ein, was ausgestellte Haushaltsgeräte zeigen. Besucher neben mir kommentieren eifrig: Hatten deine Eltern diese Kaffeemaschine nicht auch?

Zweieinhalb Stunden Heimat

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Frisch konserviert: Egon Schieles Meisterwerk „Junge Mutter“ von 1914 © Wien Museum/Birgit und Peter Kainz

Wien – meine Geschichte: Nach dem Wandel von 1989 wird der Titel der Ausstellung sogar noch stärker zum Konzept. Wie in einer Geschichtswerkstatt sprechen Wiener – Neu-Wiener und Alt-Wiener, von Amts wegen Berufene und Frauen und Männer „von der Straße“ – über ihre Stadt und wie man in ihr lebt. Überwiegend gut, natürlich. Schließlich war und ist Wien im Ranking der lebenswertesten Städte weit vorn. Aber es wird nicht nur gelobt. Stimmen derer, die von Billigjobs am Existenzminimum und darunter leben müssen, sind auch zu hören. Wir kommen tatsächlich in der Gegenwart an. Übrigens gibt es bereits zuvor bei bestimmten Themen Gedankensprünge in die Gegenwart: zum Beispiel bei den Themen Arbeit, Bildung, Demokratie. Historische Beschaulichkeit wird immer wieder durchkreuzt. Ich, als Besucher, werde ins Gespräch geholt.

Am Ausgang, wo die Schlange Wartender inzwischen nicht abgenommen hat, überlege ich, ob ich mich von dem Riesenangebot überfordert fühle? Immerhin war ich zweieinhalb Stunden auf 3200 Quadratmetern rund 1700 Objekten „ausgesetzt“. – Nein, keineswegs. Ich fühle mich angeregt.

Wenn ich zur Frage nach der heutigen Rolle von Stadtgeschichtsmuseen zurückkehre, dann steht sie für das neue Wien Museum obenan. Es befindet sich seit dem Erstbau 1959 kaum 200 Meter neben der Karlskirche und nahe der Ringstraße, also im Herzen Wiens. Warum ist die Geschichte in Wien so privilegiert, frage ich beim Verlassen seines Hauses Direktor Matti Bunzl. „In Wien“, sagt er, „spielt die Nostalgie für vergangene Größe eine starke Rolle. Dem eine in der kritischen Geschichtswissenschaft verankerte Erzählung der Stadtgeschichte entgegenzustellen, ist eine der Hauptaufgaben des Wien Museums.“ Jetzt sage mal ausnahmsweise ich: Interessant!

Stadtgeschichtliche Museen sind also keineswegs begrenzt auf einen Ort für die Sammlung historischer Zeugnisse. Deshalb sind sie oft in alten Rathäusern untergebracht, aus denen die Stadt herausgewachsen ist. Ich lerne stadtgeschichtliche Museen als unbegrenzte Orte für das Erfahrbarmachen der eigenen Identität zu begreifen. Wie sehr wir sie brauchen, wissen wir, die wir im Zug nach Europa sitzen. Manchmal braust er so schnell, dass wir die Landschaft draußen gar nicht mehr erkennen können. Dann tut für die Vergangenheit eine wissenschaftlich geprüfte und für die Gegenwart mit der Bürgerschaft der Stadt gemeinsam entwickelte Erzählung gut. Im neu eröffneten Wien Museum ist es so.