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Jubiläum mit Fragezeichen

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In diesem Jahr jährt sich die Revolte von 1968 zum fünfzigsten Mal. © Interfoto/Friedrich Rauch, bpk/klaus lehnartz, akg-images/ap, privat (beide Fotos)

In diesem Jahr jährt sich die Revolte von 1968 zum fünfzigsten Mal. Ein Versuch einer nüchternen Bilanz aus der Perspektive der Hochschulen – die damals im Mittelpunkt der Ereignisse standen

George Turner01.04.2018

In vielen verklärenden und verklärten Berichten erscheint die Jahreszahl 1968 als einschneidende Zäsur für gesellschaftliche Reformen in der alten Bundesrepublik. Für viele ist die Revolte längst ein Mythos: Was nicht alles den sogenannten „68ern“ zu verdanken sei! Vom Aufbruch aus der vermeintlich verstaubten Adenauer-Zeit bis zur (angeblich bis dato unterbliebenen) Aufarbeitung der NS-Verbrechen feiern die Beteiligten von einst bis heute ihre „Heldentaten“.

Viele Betroffene, die als Unbeteiligte die späten sechziger und frühen siebziger Jahre über sich ergehen lassen mussten, sehen die „68er“ deutlich weniger begeistert. Für sie sind die Ereignisse von vor einem halben Jahrhundert schuld an allen möglichen Entwicklungen, die seitdem unsere Gesellschaft verändert haben.

Die Anti-Bewegung
Zunächst einmal ist die Vorstellung, es habe seinerzeit ein theoretisch geschlossenes Selbstverständnis oder gar klare Ziele „der 68er“ gegeben, irreführend. Vielmehr war es eine nicht an bestimmten Bereichen orientierte Suche, die um 1968 zu Innovationen, Differenzierungen, aber auch Radikalisierungen führte. Theorien hatten innerhalb der Bewegung nur eine kurze Lebensdauer. Sie wurden aufgegriffen, hin und her gewendet und wieder verworfen. Es gibt also keine fest umrissenen „68er Ideen“.

Eher bestand eine nicht näher definierte Sehnsucht, ohne dass klar wurde, was konkret gemeint war. Man sprach zwar von „konkreten Utopien“; doch was darunter verstanden wurde, blieb nebulös. Dies wird deutlich, wenn man sich erinnert, dass z.B. Rudi Dutschke es mit Nachdruck ablehnte, eine konkrete Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft zu formulieren. Die Möglichkeiten der Gesellschaftsveränderung sollten offen bleiben. Allenfalls orientierte man sich an marxistischen Vorstellungen.

Personelle Leitfiguren waren u.a. Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas. Die damalige „Bewegung“ äußerte sich in erster Linie in einer Kritik an den bestehenden Verhältnissen, und zwar in jeder denkbaren Hinsicht. Sie war somit nicht konstruktiv, sondern destruktiv. Alles wurde in Frage gestellt: Religion, Weltanschauung, wissenschaftliche Erkenntnisse, Pflichten der Bürger, sämtliche als Tugenden bezeichneten Einstellungs- und Verhaltensweisen. Die Haltung, „gegen“ etwas zu sein, kam in den drei Grundüberzeugungen zum Ausdruck: Antifaschismus, Antikapitalismus und Antiimperialismus. Die erste richtete sich gegen die angeblich bislang nicht stattgefundene Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die zweite gegen die bestehende Wirtschaftsordnung, die als ausbeuterisch und sozial ungerecht empfunden wurde, und die dritte gegen die angebliche Unterjochung der Länder der Dritten Welt. Diese Gegnerschaft bildete gewissermaßen den Hauptnenner aller Gruppierungen.

Bühnen der Revolte
Als Ausgangsstätten für die erstrebte Revolution hatten die Protagonisten die Universitäten auserkoren. Und das anfangs durchaus mit Erfolg. Die explodierenden Studentenzahlen, die als mangelhaft empfundene Betreuung und die als „Herrschaft der Ordinarien“ gegeißelte Organisationsstruktur führten zu Solidarisierungen unter dem Beifall der Kommilitonen, die sich an Protestveranstaltungen mannigfacher Art beteiligten. Doch schon bald steigerte sich die Situation zu Meinungsterror und zur Bedrohung wissenschaftlicher Freiheit. Vorlesungsstörungen, die Androhung und auch die Verwirklichung von Gewalt gegen Sachen und Personen waren keine Einzelerscheinungen.

Das Bild von den Studenten änderte sich dadurch außerhalb der Universitäten radikal. Veränderte Lebensgewohnheiten, die demonstrative Geringschätzung konventioneller Formen, „Kommunen“ genannte Wohngemeinschaften, Rücksichtslosigkeit gegenüber Vermietern, die bewusste Vernachlässigung von Äußerlichkeiten wie Kleidung und Frisur machten den „linken“ Studenten für weite Bevölkerungskreise zu einem Bürgerschreck. Studentische Funktionäre forderten ein „Studentengehalt“ für alle, weil es im Interesse des Staates sei, dass die Studenten ihre Zeit in Form des Studiums für dessen Interessen durch spätere Verwertung ihres Wissens einsetzten. Die andersartigen Formen des Auftretens und Verhaltens haben andauernde Wirkungen entfaltet, weil viele bis dahin gültige Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens fortan unbeachtet blieben.

Als Ausgangsstätten für die erstrebte Revolution hatten die Protagonisten die Universitäten auserkoren. Und das anfangs durchaus mit Erfolg. 

Dabei sind gewiss auch manche „alte Zöpfe“ abgeschnitten worden, um die es nicht schade ist. Auf der Strecke blieben aber auch Regeln und Usancen, die man als Voraussetzung für ein zivilisiertes Zusammenleben rechnen darf. Eindeutig kriminell waren „Aktionen“ wie Besetzungen von Hörsälen, Verwüstungen von Bibliotheken bis hin zu Bombenanschlägen auf politisch missliebige Professoren. So konnten einige Hochschullehrer ohne Gefahr für Leib und Leben die Universität nicht mehr betreten.

Zu den Wahrheiten über „68“ gehört auch, dass die Zahl der Aktivisten gering war. An den Demonstrationen nahmen je nach Zielsetzung zwischen 8 bis 35 Prozent der Studierenden teil, die wenigsten an denen gegen die Ordinarienuniversität, die meisten an den großen „Demos“ gegen die Notstandsgesetze. Zwar konnte der Sozialistische Deutsche Studenbund (SDS), der eine Speerspitze der Bewegung war, in der Hochzeit der Unruhen seine Mitgliederzahl verdoppeln, doch lag sie zu keinem Zeitpunkt bei mehr als 2.500.

Die Durchdringung der Gesellschaft
Das Ziel, den liberalen Staat als angeblichen Interessenvertreter des Kapitals und der Repression zu zerschlagen, haben die „68er“ bekanntermaßen nicht erreicht. Gelungen war es ihnen indessen, einen mannigfachen politischen und sozialen Wandel von nicht geringem Ausmaß in Gang zu bringen, der zu weitgehenden Veränderungen im öffentlichen und individuellen Bewusstsein führte. Dieser Vorgang wurde von einem erstaunlich anpassungsfähigen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen System angenommen. Ein großes Problem stellte jedoch das Sympathisantentum mit dem Terrorismus dar. Zahlreiche Intellektuelle inner- und außerhalb der Hochschulen duldeten oder befürworteten sogar mehr oder weniger offen die Terroristen der Baader-Meinhof-Gruppe, aus der schon bald die Rote-Armee-Fraktion (RAF) wurde. Die Linksterroristen nahmen für sich in Anspruch, dass es bei der Gewaltanwendung auf die Motive ankomme. Da politisch motivierte Taten zum Besten der Gesellschaft geschähen, seien sie gerechtfertigt.

Wer eine „normale“ Straftat begehe, sei schuldig, wer dies aus politischen Beweggründen tue, verdiene eine andere Beurteilung. Der Staat reagierte auf die Gefahr der Unterwanderung durch verfassungsfeindliche Personen u.a. in einem gemeinsamen Runderlass der Regierungschefs von Bund und Ländern aus dem Jahre 1972. Dieser sollte verhindern, dass Verfassungsfeinde von rechts und links im öffentlichen Dienst Karriere machen können. Insbesondere die als Nachfolger der 68er entstandenen K-Gruppen verfolgten das Ziel, einen „Marsch durch die Institutionen“ anzutreten. „K-Gruppen“ war ein Sammelbegriff für die zahlreichen linksradikalen Gruppierungen, die sich im Gefolge der Studentenbewegung der späten sechziger Jahre gebildet hatten und deren Name meist mit einem „K“ (für kommunistisch) begann.

Sie bekannten sich überwiegend zum Marxismus-Leninismus in maoistischer Ausprägung und wandten sich nicht nur gegen die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch gegen das damals in der UdSSR verwirklichte Herrschaftsmodell. Zu ihnen zählten etwa der KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschlands), die KPD (Kommunistische Partei Deutschlands), die KPD/ML (KPD/Marxisten-Leninisten), die MLD (Marxisten-Leninisten Deutschlands) oder der KABD (Kommunistischer Arbeiterbund Deutschlands). Bewerber um Positionen im öffentlichen Dienst mit einschlägigen Biographien wurden durch die Anwendung des sogenannten Radikalen-Erlasses daran gehindert, eine Unterwanderung des Systems zu erreichen. In Überzeichnung und Verdrehung der Situation sprach man in diesen Fällen von „Berufsverboten“. Tatsächlich ging es jedoch um das Merkmal der Verfassungstreue, das eine grundlegende Voraussetzung für eine Einstellung sein sollte. Gleichwohl ist der „Marsch durch die Institutionen“ über den Journalismus, aber auch die Lehrerschaft, die Kirchen, Justiz und Verwaltung bis hin zu einflussreichen Positionen in der Politik zum Teil durchaus geglückt.

Die rot-grüne Bundesregierung von 1998 bis 2005 ist ein markantes Beispiel: Hier waren Joschka Fischer, zwar nicht ehemaliger Student, aber der Bewegung zugerechnet, und Jürgen Trittin, früher Student in Göttingen und Mitglied des Kommunistischen Bundes (KB), die auffälligsten Vertreter. Mit leichtem Zynismus könnte man sagen, dass die Universität eine Art Übungsstätte für künftige Politiker darstellte, die oft gar keinen „bürgerlichen“ Beruf ausgeübt haben und außer Schule, Hochschule und Parlament beruflich keinen anderen Lebensraum kennen.

Auswirkungen auf die Hochschulen
Wenn der Eindruck erweckt wird, die 68er-Bewegung hätte eine positiv zu bewertende Reform der Universitäten in Gang gesetzt, bedarf das der deutlichen Relativierung. Nicht wenige Experten meinten schon damals, dass die Hochschulrevolte „nicht hätte kommen müssen“, wenn die Chance einer Hochschulreform nach 1945 nicht vertan worden wäre. Es ist oft spekuliert worden, dass die Umsetzung der Positionen des Verbands Deutscher Studentenschaften (VDS) Ende der fünfziger Jahre dazu hätte beitragen können, später erhobene extensive Forderungen und deren Verwirklichung zu verhindern.

Allerdings trifft wohl zu, dass es des Umwegs über massive Proteste bedurfte, weil sonst verkrustete Strukturen nicht hätten aufgebrochen werden können. Für die Entwicklung der studentischen Subkultur war die Studentenrevolte von entscheidender Bedeutung, da die konventionelle bürgerliche Lebensart in Frage gestellt und neue, antiautoritäre Lebensstilkonzepte entwickelt wurden, die, anders als die damals vertretenen politischen Utopien, inzwischen in vielen Bereichen Eingang in die Gesellschaft gefunden haben. Ein wichtiges Resultat jener zum Teil dramatischen Entwicklung war, dass die alte Universität als europäische Bildungsanstalt auf der Strecke blieb und unter dem konzentrierten Zugriff von Revolutionären und Bürokraten zerbrach.

Die außerparlamentarische Opposition hatte ein Machtvakuum an der Universität aufgedeckt, das nun die Staatsverwaltung mit ihren Mitteln füllte. Die traditionelle Wissenschaftsuniversität, sachlich einseitig, aber politisch wirksam als „Ordinarienuniversität“ angeklagt, und ihre Exponenten reagierten verunsichert und mit einer gewissen Hilflosigkeit. Die Auseinandersetzungen zeigten auch in erschreckendem Maße die Distanz zwischen Universität und Öffentlichkeit. Es ist nicht zu verkennen, dass die Funktion der Hochschule in der Gesellschaft sich ebenso verändert hatte wie diese Gesellschaft selbst. Sieger blieb in dieser Entwicklung die Bürokratie, deren überproportionale Stärke die durch Regulierungen verordnete Schwäche der reformierten Universitäten noch erheblich vervielfachte. Die Hochschule wurde unmittelbar und distanzlos eine Einrichtung des Staates.

Der Text ist ein leicht überarbeiteter Auszug aus George Turner: „Hochschulreformen. Eine unendliche Geschichte seit den 1950er Jahren“, Verlag Duncker & Humblot 2018.

George Turner

Prof. Dr. George Turner (RC Berlin) war u.a. von 1986 bis 1989 Senator für Wissenschaft und Forschung in Berlin und bekleidete von 1989 bis 2000 einen Lehrstuhl für Rechtswissenschaft an der Universität Hohenheim. Zuletzt veröffentlichte er  „Hochschulreformen.: Eine unendliche Geschichte seit den 1950er Jahren“ (Duncker & Humblot Verlag, 2018).

 

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