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Kleines Land ganz groß

Titelthema - Kleines Land ganz groß
Abschlussschau von Studenten der Modeschule La Cambre © filip de smet/afp/getty images

Wohl nur die wenigsten Europäer dürften wissen, dass Brüssel und Belgien ein Hotspot der internationalen Modewelt sind

Godfrey Deeny01.04.2019

Mit der Mode ist es genau wie mit der Kunst, der Literatur, der Architektur und ja, auch wie mit dem Fußball: Manche scheinbar kleine Nationen übertrumpfen die deutlich größeren Nationen. Dies trifft insbesondere zu, wenn es im Falle der Mode und des Luxus um Belgien seine Hauptstadt Brüssel geht.

Kein anderes so kleines Land hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren so viele talentierte Designer hervorgebracht wie Belgien; sie stammen von den beiden großen Modeschulen La Cambre in Brüssel und von der Royal Academy in Antwerpen. Dies ist ein einzigartiger Erfolg, der die untypische politische und kulturelle Geschichte dieses kleinen Landes widerspiegelt. Tatsächlich ist belgische Mode eine prämierte Mischung aus Klassik, Avant-Garde und Surrealismus – ein Zusammentreffen von Rubens und Magritte. Hier findet die Opulenz von Flandern ihren Ausdruck in der besonders hervorragenden Fähigkeit der flämischen Designer, sagenhafte Shows auf die Bühne zu bringen.

Von Brüssel in die Welt
Der Einfluss dieser Kreativen reicht bis auf die Laufstege von Paris und New York. Mehr als ein Dutzend belgischer Designer zeigen auf den Laufstegen jede Saison in Paris ihre Shows – Olivier Theyskens, Kris Van Assche, Dries Van Noten, Maison Margiela, Anne Demeulemeester, Raf Simons und Anthony Vaccarello, seines Zeichens Creative Director von Saint Laurent, um nur einige zu nennen.

In den vergangenen Saisons hat Vaccarello die weltweit größten Outdoor-Modeshows initiiert – riesige Installationen an den Ufern der Seine mit 100-Meter-langen Laufstegen für 1.500 Gäste, bei denen die Supermodels vor einem illuminierten Eiffelturm liefen.

Vaccarello erhielt erstmalig im Alter von 23 Jahren internationale Aufmerksamkeit, als er das Modefestival von Hyères in Frankreich gewann – der renommierteste europäische Preis für junge Talente. Er wurde dann vom römischen Luxus-Pelzhaus Fendi eingestellt, wo er unter Karl Lagerfeld arbeitete. Der vor kurzem verstorbene deutsche Designer hatte eine Vorliebe für belgische Modeschöpfer, kombinierte er doch sein typisches Äußeres aus gestärktem Hemd, Krawatte, Jeans und Stiefeln mit Blockabsatz mit Avant Garde-Jackets von Les Hommes, des belgischen Designer-Duos Ben Notte und Bart Vandebosch, sowie von Dior Homme, vor über einem Jahrzehnt von Van Assche designt.

Kris inszenierte Mammut-Shows für Dior, insbesondere im Inneren der Ställe von Frankreichs edelstem Kavallerieregiment oder auch im Garten des Pariser Observatoriums. Van Assches Arbeiten waren ein Hauptbeitrag Belgiens zu zeitgenössischer Kleidung, bei der aktive Sportbekleidung, Street Style und elegant geschneiderter Stil vermischt werden. Er hat u.a. A$AP Rocky, Rami Malek, Lewis Hamilton und Christian Slater eingekleidet.

Im Gegenzug fuhr Vaccarello damit fort, hyperdynamische sexy Kleider und Anzüge mit betonten Schultern zu kreieren, die ihm die Gunst der Kunden wie Jennifer Lopez, Miley Cyrus und Gwyneth Paltrow einbrachte. Donatella Versace stellte Anthony sogar für die Junior-Kollektion Versus ihres Hauses ein. Vaccarello, Absolvent von La Cambre, schloss seine eigene Marke, als er 2016 zu Saint Laurent ging, während La Cambre-Kollege und Starabsolvent Theyskens immer noch seine eigene Markenshow zeigt.

Theyskens erschien 1998 wie ein Blitz am Modehimmel, als er im Alter von nur 21 Jahren Madonna für die Oscars in ein schwarzes Satin-Mantelkleid kleidete. In seiner weiteren Karriere wurde er Creative Director so berühmter Häuser wie Nina Ricci und Rochas, und entwickelte einen sehr einflussreichen Stil, der große Weiblichkeit mit einem gewissen dunklen Glanz kombinierte. Seine Kreationen fangen die launenhafte Romantik Belgiens ein und wurden von Nicole Kidman, Cate Blanchett, Emma Watson und Jennifer Aniston getragen. 2006 erhielt Theyskens das Äquivalent des Oscars in der Modewelt, als der Council of Fashion Designers of America (CFDA) Theyskens mit seinem Preis „International Designer of the Year“ auszeichnete. Eine beträchtliche Leistung für einen Designer in seinen Zwanzigern.

Doch er ist nicht der einzige Belgier, der diese Auszeichnung errungen hat: Van Noten gewann den Preis 2008, und Simons hat in bemerkenswerter Weise gleich vier CFDA-Auszeichnungen errungen, letztere während seiner Zeit als Designer für Calvin Klein. Darüber hinaus ist seit zehn Jahren die berühmteste der in Brüssel geborenen Designer, Diane von Furstenberg, Präsidentin der CFDA; diejenige Dame, die das Wickelkleid erfunden hat, dessen Erfolg sie auf das Titelbild der Newsweek brachte.

Spektakuläre Inszenierungen
Die Shows von Simons und von Van Noten sind legendär: Raf mit seinen Anti-Globalisierungsinszenierungen in Paris, abgehalten in den Wissenschaftsmuseen von Oberschulen, und Van Noten, der einst eine Show auf einer 150 Meter langen Tafel im Inneren der Fabrik Pratt & Whitney inszenierte, direkt nachdem seine 300 VIP-Gäste ihr Cordon Bleu-Gericht an diesem Tisch verzehrt hatten. Reden wir über eine surrealistische Show!

Im Jahr 2003 kreierte Theyskens die Kostüme für Verdis Oper „I due Foscari“ für die Inszenierung im Théâtre Royal de la Monnaie, welches natürlich die Wiege Belgiens ist. Im Jahr 1830 nahm die belgische Revolution hier ihren Lauf, als die wohlhabenden Gäste das Theater verließen, patriotische Lieder singend in die Straßen strömten, um sich dem Proletariat anzuschließen und die Regierungsgebäude zu übernehmen. Dies führte zur Gründung des Staates Belgien in den südlichen, hauptsächlich katholischen, Provinzen der Niederlande.

Innerhalb Belgiens gibt es das westliche, Niederländisch sprechende Flandern, zu dem Antwerpen gehört, sowie das östliche, Französisch sprechende Wallonien, und das beides überspannende Brüssel. Auch heute noch sprechen in Brüssel geborene und ausgebildete Designer hauptsächlich Französisch, während ihre Kollegen in Antwerpen Niederländisch sprechen. Die belgische Mode vermischt ihre Kulturen; die religiöse Opulenz von Hans Memling, allegorische Malereien von Jordaens und der flämische Barock von Rubens, mit seinem dramatischen Gegen-Reformationsstil stehen im Wettbewerb mit dem unkonventionellen Surrealismus von Magritte und den Art Nouveau-Entwürfen des Meisterarchitekten Victor Horta. Diese Opulenz ist jede Saison bei Van Noten unübersehbar; dieser wahrscheinlich großartigste zeitgenössische Mode-Musterdruckhersteller der Welt, berühmt für seine computerisierten Neuzusammenstellungen riesiger Blüten, ethnischer Bilder und Batiken.

Zusammenflüsse zweier Kulturen
Vor vier Jahren zeigte die bemerkenswerte Ausstellung „Die Belgier. Eine unerwartete Geschichte der Mode“ die besten dieser Modebewegungen in Brüssels BOZAR Museum für zeitgenössische Kunst. „Wir sind die älteste Grenze in Europa seit Julius Cäsar. Ein Treffpunkt zwischen protestantischen und katholischen Kulturen. Das beeinflusst, wie wir uns verhalten, unsere Sprache und Kultur. Wir sind kein Volk des Kompromisses, aber dennoch bringen wir die Dinge in Einklang und führen Neuerungen ein,” meinte damals Paul Dujardin, CEO und Künstlerischer Direktor des Bozar. Doch obwohl die Ausstellung sich im ersten Stock des Hauses befand und somit nur wenige Besucher kamen; sollte die gezeigte Explosion von Farbe, Konzepten und coolen Ideen zu einem historischen Moment für die belgische Mode werden.

Beachtenswert ist, dass einige belgische Luxusmarken vor dem Nationalstaat geboren wurden. So wie das herausragende Luxus-Lederwaren-Label Delvaux, das 1829 in Brüssel eröffnete, einige Jahrzehnte vor Hermès oder Louis Vuitton. Delvaux war tatsächlich die erste Marke, die 1908 ein Patent für eine Handtasche anmeldete. Seit ihrer Übernahme durch die chinesische Investorengruppe Fung Capital im Jahre 2011 floriert Delvaux mit Flagships-Geschäften in London, Mailand und New York City. 

Delvaux‘ neueste Idee: eine Verbindung zur Magritte-Stiftung – um Super-Herren-Aktentaschen mit dem für den Maler typischen Schlüsselloch-Design oder chromatische Schwarz-Weiß-Brieftaschen mit einem Ausschnitt in der Form von Renés legendärer Melone zu entwerfen. „Belgien ist das Land radikaler Mode und einer großartigen Geschichte. Daher gibt es immer ein Maß an Heiß und Kalt in unseren Kollektionen; ernsthaft, jedoch mit einem Lächeln,” meint CEO Jean Marc Loubier.

Mode spiegelt auch die andere herausragende Kunstform Brüssels wider, den Comic – wie Tim und Struppi, Asterix oder Lucky Luke. Dies führt zum anderen großen Einfluss dieses Landes – Konzeptmode, geleitet von Martin Margiela. Nachdem er eine Weile für Jean-Paul Gaultier in Paris gearbeitet hatte, gründete Margiela 1989 sein eigenes Haus, einen Comic-Gegenstoß gegen hyperluxuriöse Mode: übergroße Kleidung, mit freiliegenden Nähten, Ärmelfuttern und Couture-Kleidungsstücken, die im wahrsten Sinn des Wortes aus alten Perücken, Einkaufstaschen, Zeltplanen und alten Schuhen gemacht waren. Und wie Magritte ist auch er ein Einsiedler. Es ist bemerkenswert für einen Designer, einem wahrlich kommunikativen Beruf, dass Margiela nie ein Interview gegeben hat.

Spiegelbild von Stadt und Land
Insgesamt ist die belgische Mode eine beachtenswerte Erfolgsgeschichte. Die zwei Hochschulen des Landes, La Cambre und die Royal Academy, haben die Schulen in weitaus berühmteren Städten wie Rom, Madrid und Los Angeles deutlich übertroffen. Doch was sind die Ursachen für diesen stilistisch unerwartet starken Auftritt? „Weshalb waren wir so erfolgreich? Weil wir händeringend aus Belgien herauskommen wollten! Unsere flämische Sprache und Medien konnten keine Grenzen überschreiten. Also wussten wir, dass wir weggehen mussten. Diese Verzweiflung und Ambition verlieh uns eine große Energie“, argumentiert Designer von Beirendonck.

Brüssel-Fans schätzen, dass die hyper-vielseitige Stilart der lokalen Modeszene genau wie die Brüsseler Architektur ist: eine bizarre Mischung aus Gothik, Neoklassizismus und Art Nouveau. Die breite Divergenz von Stil und Preis lässt sich durch den Besuch von zwei Brüsseler Orten verstehen: Die Saint Hubert Royal Galleries für Luxus der Spitzenklasse und die Antoine Dansaert-Straße, in der avantgardistische Boutiquen die Arbeiten anderer Stars herausstellen – wie die gewollt künstlerische Brillanz von A.F Vandervorst oder die Rockpoesie von Demuelemeester.

Brüssel wird oft als Hauptstadt Europas bezeichnet. Und auch wenn die Brüsseler ein streitlustiger Haufen sind – so konnten sie sich für mehr als ein Jahr nicht auf eine Regierung einigen – bewahren sie sich doch stets einen Glauben an die Zukunft. Was uns zurück zu Olivier Theyskens bringt. Seine jüngste Kollektion war ein Zusammentreffen von hochwertiger Mode und Motiven aus „Blade Runner“ – und das im Jahr 2019, dem Jahr, auf das der Kultfilm aus dem Jahre 1982 ausgerichtet war.