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Können Europas Demokratien Europa retten?

Titelthema - Können Europas Demokratien Europa retten?
Auch wenn Britannien die EU verlässt, bleibt es für viele Europäer ein beliebtes Ziel. Eine Insel mit rauen Landschaften (im Bild St. Michael‘s Mount in Cornwall) und Menschen, die ihre Eigenarten bewahren © Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus

Gedanken über den Gegensatz zwischen dem europäischen Establishment und den Kräften des Populismus

John O'Sullivan01.03.2019

Der Brexit ist noch nicht erfolgt. Doch schon jetzt ist er eines von zwei Ereignissen in diesem Frühjahr, die sehr wahrscheinlich Europas Weg in ein unruhigeres Fahrwasser vorantreiben werden. Bis zuletzt (Stand Mitte Februar 2019) versuchen einflussreiche Gruppen in Europa wie in Großbritannien, den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union auf irgendeine Weise doch noch zu verhindern. Vor einem solchen Szenario kann freilich nur gewarnt werden. Denn falls das Land tatsächlich entgegen dem auf demokratische Weise geäußerten Willen seiner Bürger entweder offen oder durch unklare Abkommen in den EU-Strukturen bliebe, würde dieser „Verrat des Brexits“ die Stimmung in der britischen Gesellschaft auf lange Zeit belasten. Und zwar nicht nur gegenüber Brüssel, sondern auch gegenüber allen einheimischen Politikern, die sich daran beteiligten.

Furcht vor dem Populismus
Das zweite Schicksalsdatum Europas in diesem Jahr ist die Wahl zum Europäischen Parlament im Mai. In Brüssel und unter den „Mainstream“-Politikern in den europäischen Hauptstädten gibt es derzeit eine starke Angst davor, dass aufstrebende „populistische Parteien“ in der gesamten EU die „liberale Demokratie“ bedrohen. So zumindest beschreiben die etablierten Parteien und die politischen Eliten den Konflikt.

 Die populistischen Parteien und ihre Wähler sehen ihn jedoch deutlich anders. Sie argumentieren, dass die regierenden Parteien seit vielen Jahren die Meinungen der Bürger zu so wichtigen Themen wie Einwanderung oder den Euro ignoriert haben. Sie unterstellen den etablierten Kräften sogar, verabredet zu haben, solch kritische Themen aus der Politik herauszuhalten und all diejenigen zu dämonisieren, die sie aufgebracht haben. Die unzufriedenen Wähler würden nun rebellieren und lediglich fordern, dass ihre Ansichten endlich gehört werden und auf sie reagiert wird. Weit davon entfernt, ein Angriff auf die liberale Demokratie zu sein, verstehen sie ihren Populismus als demokratische Reaktion auf eine „oligarchische“ Politik.

Nachdem sie bereits auf nationaler Ebene in zahlreiche Parlamente eingezogen und zum Teil sogar in einige Regierungen quer durch Europa gelangt sind, sehen die „Populisten“ nun die Aussicht, künftig auch auf europäischer Ebene Macht auszuüben. Sie hoffen auf genau das, was die etablierten Parteien von den Wahlen fürchten – nämlich einen beträchtlichen Anstieg der Zahl der populistischen Abgeordneten (verschiedener Couleur) im Europaparlamentes, die vielleicht sogar eine Mehrheit erringen, wenn auch eine unorganisierte.

Gedankenspiele
Eine extreme, vollständige Umkehrung der bisherigen Machtverhältnisse ist sicherlich unwahrscheinlich. Dennoch lohnt es sich, die Frage zu stellen, was passieren würde, wenn die Mehrheitsverhältnisse im Europaparlament nach der Wahl im Mai so wären, dass das zentrale „Duopol“ aus Sozialdemokraten und Christdemokraten (EVP) weniger als fünfzig Prozent der Abgeordnetenmandate erzielen würde. Als ich diese Frage Anfang Februar einem Abgeordneten in Brüssel stellte, versicherte er mir, dass sich kaum etwas ändern würde. Denn die wahrscheinliche Reaktion des Duopols würde darin bestehen, die Gruppe der Liberalen einzubinden. Diese teilen ohnehin mit den beiden Hauptparteien eine progressive Auffassung zu den meisten Themen und plädieren für eine Vertiefung der europäischen Integration hin zu einer Föderation.

Obwohl dieses Vorgehen den ganz normalen Gepflogenheiten einer Koalitionsbildung entspräche, dürfte ein solches Manöver auf seiten der Populisten die Wut auf das „Establishment“ und das Gefühl, betrogen worden zu sein, vergrößern. Auch wenn sie aufgrund ihrer rechnerischen Mehrheit eine demokratische Legitimation beanspruchen können, könnte der Vorwurf erschallen, dass die regierenden politischen Eliten den Wählern einen Satz Karten ausgeteilt und danach den Kartenstapel einfach neu gemischt hätten, weil ihnen das Ergebnis nicht gepasst hat. Und zukünftige nationale Wahlen könnten die erwachte Entrüstung der betrogenen Wähler widerspiegeln.

Derlei Szenarien sind keineswegs abstrakt. Schon heute werden zahlreiche nationale Parlamente von „Großen Koalitionen“ dominiert; und zwar nicht, um einen nationalen Notstand zu handhaben (für den sie evtl. ein seltener notwendiger Ausweg sein können), sondern als Mittel gegen Wahlergebnisse, die in unerwarteter Weise zugunsten der aufrührerischen populistischen Parteien ausgegangen sind. Das extremste Beispiel hierfür ist Schweden. Hier haben die etablierten Parteien ein Abkommen geschmiedet, dass die angeschlagenen Sozialdemokraten im Amt gehalten hat, um die Schwedendemokraten trotz ihrer 25 Prozent direkter Stimmen dauerhaft außen vor zu halten. Ähnliche Situationen gibt es in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich, Spanien und im Entstehen auch in Großbritannien, wo Premierministerin Theresa May versucht, ihren EU-Großbritannien-Deal mit den Stimmen der Labour-Partei auf Kosten der Spaltung ihrer eigenen Partei durch das Parlament zu bringen.

Die große Koalition der Mitte
Überlegen wir einmal genauer, welche Art von Politik hier Gestalt annimmt. Sie kombiniert drei Elemente: Ihr erstes und offensichtlichstes Merkmal ist, dass sie de facto eine Einheitspartei der Mitte schafft, die aus den etablierten Parteien von Mitte-Links bis Mitte-Rechts besteht. Diese konkurrieren zwar bei den Wahlen noch unter ihren ursprünglichen Namen, arbeiten jedoch bei nahezu allen Themen im politischen Alltag zusammen. Diese permanente Koalition der Mitte genießt zudem die Unterstützung der großen kulturellen und wirtschaftlichen Eliten in der Gesellschaft. Und sie geht zuversichtlich davon aus, für immer an der Macht zu sein – zumindest hat sie bisher immer so gedacht. Das zweite Merkmal dieser Art von Politik ist der feste Glaube an „Mehr Europa“, der die Berücksichtigung eines jeglichen Politikansatzes ausschließt, wenn er zu diesem strategischen Ziel in ernsthaftem Widerspruch steht. Diese Haltung wirkt sich auch auf das Verständnis anderer großer Themen aus. Und drittens praktiziert dieser Politikansatz eine Strategie des Ausschlusses: Da offensichtlich alle intelligenten und verantwortungsvollen Menschen die Koalition unterstützen, ist es undenkbar, dass das Sammelsurium aus Populisten, Nationalisten, Fanatikern und anderen „Extremisten“ jemals an die Macht gelangen sollte. Und falls diese dennoch versehentlich Wahlen gewinnen sollten, müssten sie von den Gesetzen und Institutionen eingeschränkt werden, die von liberalen Technokraten betrieben werden.

Pierre Manent ist einer jener angesehenen Sozialkritiker, die das Narrativ vom Populismus, der die liberale Demokratie bedroht, in Frage stellen. Er beschreibt das Ergebnis der drei vorgenannten Elemente dahingehend, dass hierdurch ein politischer Wettstreit zwischen einem unseriösen Nationalpopulismus und einem arroganten kosmopolitischen Zentrismus erzeugt wird – oder mit seinen eigenen Worten, zwischen „populistischer Demagogie“ und dem „Fanatismus der Mitte.“ Entgegen dem konventionellen Narrativ geht er davon aus, dass der Fanatismus der Mitte die größere Bedrohung darstellt.

Quellen des Verdrusses
Dies klingt zunächst wie eine absonderliche Beurteilung. Man bedenke jedoch die unbesonnenen Projekte, die in den letzten Jahren ohne eine gründliche Analyse der Risiken, jedoch mit einer überwältigenden Zustimmung der Elite eingebracht wurden: die Einführung des Euro, ohne die erforderlichen steuerlichen und monetären Strukturen; die Einführung der „offenen Grenzen“ im Schengen-Raum, ohne zuvor Europas Außengrenzen zu sichern; die Einladung Kanzlerin Merkels an die syrischen Flüchtlinge, nach Europa zu kommen, ohne zuvor effiziente Verfahren für eine Sicherheitsüberprüfung oder eine Abschiebung abgelehnter Flüchtlinge einzurichten; und schließlich das schrittweise Eingreifen der europäischen Institutionen in die nationalen, demokratischen Vorrechte der Mitgliedsstaaten. Jede dieser überambitionierten Initiativen produzierte ihre eigene Krisen, beginnend bei dem (inzwischen mehrjährigen) Griechenland-Drama bis hin zur Flüchtlingskrise. Keiner dieser Fälle entstammte einer populistischen Politik, sondern allesamt der Mitte.

Die gemäßigte liberale Technokratie neigt dazu, die Opposition von Parteien und Menschen, die sich außerhalb des entrückten Kreises der Hochgebildeten und üblicherweise Erfolgreichen bewegen, als ignorant oder vorurteilsbeladen abzutun. So werden eine angeschlagene Politik und kostspielige Projekte, die von den Eliten bevorzugt werden, gegen vernünftige Kritik geschützt. Wenn Oppositionsparteien als „unwählbar“ oder „völlig inakzeptabel“ gelten, können die gewöhnlichen Mechanismen der demokratischen Debatte nicht gut funktionieren. Dies führt jedoch in eine Legitimitätskrise der europäischen Demokratie, wenn die Wähler feststellen müssen, dass sie mit ihrer Stimme im Grunde keinen Einfluss auf wichtige politische Projekte haben.

Natürlich möchte ich nicht behaupten, dass ein einfaches Durchwinken des Brexits und das Begrüßen der 57 Sorten populistischer Politik in Brüssel und Straßburg eine Zeit der Ruhe und Stabilität in der britischen oder europäischen Politik einleiten würde. Dies wäre genauso utopisch wie manche der Visionen von „Mehr Europa“. Geringstenfalls würde ein „No-Deal-Brexit“ eine Zeit der Störungen im Handel und in anderen Beziehungen über den Ärmelkanal hinweg erzeugen, während das Eintreffen deutlich zahlreicherer rebellischer Abgeordneter in der Europapolitik Streitigkeiten und Herausforderungen bei den bestehenden Praktiken und vertrauten Ideologien hervorrufen würde. Diese Spannungen wären jedoch geringer und biederer im Vergleich zu den wütenden und sogar zerstörerischen Reaktionen, die bei großen Teilen der Wähler in Europa wahrscheinlich wären, wenn man ihnen sagte, dass ihre Ansichten nicht gewünscht sind.

Es scheint also geraten, dass diejenigen Parteien, die den Status quo vertreten, in vernünftiger Weise den neuen populistischen Parteien mit größerem Respekt und politischen Kompromissen begegnen sollten. Meine eigenen Instinkte würden die Rückkehr von Befugnissen von Brüssel in die nationalen Hauptstädte bevorzugen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, solche Strukturen zu reformieren, die den Menschen Schaden zufügen, wie z.B. der Euro. Bezogen auf mein Heimatland würde ich gern erleben, dass Großbritannien die EU unmissverständlich verlässt. Es liegt dann an den Neuankömmlingen im Europaparlament zu bestimmen, was sie ohne die Briten hoffen gewinnen zu können. Und diejenigen liberalen Politiker der Mitte, die einen weniger komfortablen Status quo als zuvor genießen, sollten sich an eine Äußerung von John Maynard Keynes erinnern: „Das Unerwartete tritt immer ein; das Unvermeidliche nie.“

John O'Sullivan
John O’Sullivan war in den 1980er Jahren Redenschreiber von Margaret Thatcher und 2008–2012 Chefredakteur von Radio Free Europe/Radio Liberty. Er ist Präsident des Danube Institute in Budapest. danubeinstitute.hu

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