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Titelthema Nordkorea

„Lasst uns alle zusammen sterben“

Titelthema Nordkorea - „Lasst uns alle zusammen sterben“
Einspurige Bahnstrecke von der Hauptstadt Pjöngjang in Richtung Nordosten nach Ranson © davide monteleone/laif

Eunju Kims Geschichte einer gescheiterten Flucht und wie sie es doch noch nach Südkorea schaffte. Heutzutage ist es schwerer denn je aus Nordkorea zu fliehen.

Kim Eunju01.09.2023

Es regnet heftig. Auf den Straßen ist niemand unterwegs. Es ist mucksmäuschenstill. Mein Vater macht, ohne ein Wort zu sagen, ein Feuer in der Küche. Die Nachrichtensprecherin Ri Chun-hee verkündet die Nachricht von Kim Il Sungs Tod im Fernsehen und unterdrückt dabei ihre Tränen. Als meine Mutter später von der Arbeit nach Hause kommt, sind ihre Augen bereits geschwollen und ihr Gesicht ist voller Tränen. Die gesamte nordkoreanische Gesellschaft trauert um den Tod. In den Bergen und auf den Feldern gibt es keine Blumen mehr und sogar auf dem Zaun gepflanzte Kürbisblumen werden gepflückt und zur Gedenkstätte gebracht. Ich selbst kann mit meinen acht Jahren keine Traurigkeit empfinden, aber die Stimmung bringt uns alle zum Weinen

Bevor ich die Geburtsjahre und Geburtstage meiner Eltern in Nordkorea kannte, kannte ich die Geburtsjahre und Geburtstage unserer großen Führer Kim Il Sung, Kim Jong Il und Kim Jong Suk, und bevor ich meinen Eltern „Danke“ sagte, verneigte ich mich zuerst vor dem Porträt von Kim-Vater und -Sohn, um meinen Dank auszudrücken. 90 Prozent der Lieder, die ich gehört und gesungen habe, waren Lobgesänge, und ich wuchs mit der Propaganda auf, dass ihre großartigen Persönlichkeiten und Fähigkeiten dazu beigetragen haben, Nordkorea zu einem der besten Länder der Welt zu machen.

Mit dem Tod von Kim Il Sung begann der wirtschaftliche Niedergang Nordkoreas und zugleich verschärfte sich die Nahrungsmittelkrise. Die Folge: Alle Arten von Verbrechen breiteten sich in der Gesellschaft aus, und unter der Führung von Kim Jong-ils verwandelten sich die schrecklichen öffentlichen Hinrichtungsstätten in „Bildungsstätten“. Was das bedeutete, erlebte ich hautnah: Unser Klassenlehrer teilte uns eines Tages mit, dass wir anstelle des Unterrichts einer öffentlichen Hinrichtung beiwohnen würden. Der Lehrer führte uns zu einer Brücke. Da war ich neun Jahre alt. Der Körper des Verurteilten, der insgesamt neun Kugeln abbekam, explodierte. Der blutige Geruch gelangte bis auf die Brücke. Ich war noch nicht alt genug, um zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, aber als Mensch hatte ich ein grundlegendes Unbehagen. Aber die Anordnungen der Partei und ihrer Führer waren bedingungslos richtig und mussten bedingungslos befolgt werden. Und wir wurden dazu erzogen, „Ja“ zu sagen, anstatt Fragen zu stellen oder mit „Nein“ zu antworten. Also akzeptierten wir einfach alle schrecklichen Szenen und nahmen das Grauen hin.

Mein Vater arbeitete treu ergeben in einem Job, der ihm nicht einmal ein Kilogramm Mais am Tag einbrachte. Und obwohl er unter der Nahrungsmittelknappheit litt, stahl er niemandem eine einzige Kartoffel oder Mais. Er hatte einen anderen Weg gewählt, um an Essen zu gelangen. Im März 1997, am ersten Tag der Mittelschule, konnte ich wegen meiner fehlenden Schultasche nicht zur Schule gehen und erfuhr, dass mein Vater sie am Tag zuvor auf den Markt gebracht und gegen Essen eingetauscht hatte. Als meine Mutter wenige Tage später von der Arbeit nach Hause zurückkehrte, stand sie vor einem leeren Haus. Es gab nicht einmal mehr Decken und sie erfuhr von den Nachbarn, dass ihr eigener Ehemann dafür verantwortlich war. Mein Vater wurde von meiner Mutter auf dem Markt erwischt und wieder nach Hause gebracht. Seit diesem Moment habe ich meinen Vater gehasst. Erst als ich erwachsen wurde, nach Südkorea kam und die Welt richtig wahrnehmen konnte, legte ich meinen Hass auf meinen Vater ab. Ich erkannte, dass auch mein Vater ein Opfer der großen Hungersnot war, die mehr als zwei Millionen Menschen das Leben kostete. Mein Vater starb an verschiedenen Krankheiten, die durch Unterernährung verursacht wurden. Wenn er in Südkorea geboren worden wäre, wäre er ein loyaler und vorbildlicher Bürger und ein anständiger Familienvater gewesen, aber in Nordkorea geboren, beendete er sein Leben als unfähiger Ehemann und Vater.

Nach dem Tod meines Vaters verließ meine Mutter mit meiner Schwester das Haus, um etwas zu essen zu holen. „Eunju, deine Schwester und ich werden frühestens in einem Tag oder spätestens in drei Tagen zurück sein, also behalte dies hier.“ Meine Mutter drückte mir 15 Won in die Hand. Nachdem meine Mutter weggegangen war, ging ich sofort auf den Markt, um Tofu zu kaufen, das ich immer noch liebe, und kehrte nach Hause zurück. Ich dachte: „Ich hebe es auf, bis meine Mutter nach Hause kommt.“ Aber ich hatte die ganze Zeit Hunger, also aß ich einen Löffel, aß einen weiteren Löffel, und in weniger als einer Stunde hatte ich den ganzen Tofu aufgegessen. Von diesem Zeitpunkt an wartete ich nur noch auf meine Mutter.

Nach dem ersten Tag machte ich jeden Tag einen zweistündigen Rundgang, um meine Mutter auf dem Weg zu treffen und abzuholen. Ich musterte jeden genau, der vorbeiging, aus Angst, meine Mutter zu verpassen. Ein Tag, zwei Tage, drei Tage vergingen so. Der Tag, an dem meine Mutter sagte, sie würde zurückkommen, war vorbei.

Ich beruhigte mich selbst: „Wenn ich noch einen Tag warte, wird meine Mutter kommen.” In der Dunkelheit der Nacht schloss ich meine Augen und zählte. „Wenn ich von eins bis zehn zähle, kommt Mama. Eins, zwei, drei... zehn.“ „Dieses Mal könnte sie kommen, wenn ich von zehn bis eins zähle. Zehn, neun, acht ...“. „Es war zu kurz. Sie kommt, wenn ich bis hundert zähle. Eins, zwei, drei... hundert.“ So bin ich immer eingeschlafen, während ich auf diese Weise wiederholt gezählt habe.

Vier Tage vergingen, fünf Tage vergingen und am sechsten Tag, auf dem Heimweg, nachdem ich zwei Stunden umhergeirrt war, um meine Mutter zu suchen, kam mir der Gedanke in den Sinn: „Ich werde meine Mutter morgen nicht suchen können.“ Das lag daran, dass ich keine Kraft mehr zum Gehen hatte, weil ich am ersten Tag nur ein Stück Tofu gegessen hatte. Zu Hause angekommen legte ich mich auf den harten Zementboden. Ich verlor die Kraft, meinen Körper zu stützen, sodass ich das Gefühl hatte, der Boden würde mich einsaugen. Es überkam mich die traurige Gewissheit: „Jetzt bin ich an der Reihe zu sterben.“ Ich war nicht traurig, weil ich Angst vor dem Tod hatte, sondern weil meine Mutter nur meine Schwester mitgenommen hatte und jetzt nicht zurückkam, um mich zu holen. Ich fühlte bei dem Gedanken, von meiner Mutter verlassen worden zu sein, unendliche Traurigkeit. Ich vermisste sie, obwohl ich zugleich wütend auf sie war. Ich wollte meiner Mutter mitteilen, wie sehnsüchtig ich auf sie wartete, wenn sie mich jemals nach meinem Tod besuchen würde. Daher habe ich im Alter von elf Jahren mein Testament geschrieben. Das Papier, auf das ich ein paar Worte schrieb, war vor lauter Traurigkeit und unkontrollierbaren Tränen voller Flecken. Aber ich richtete es gerade und legte mich wieder hin. Jetzt war ich mir sicher, dass es kein Morgen geben wird.

Meine Mutter und meine Schwester kehrten mit leeren Händen in dieser Nacht zurück. Trotzdem war ich glücklich. Ich sterbe sowieso, aber meine Mutter verlässt mich nicht. Ich bin glücklich, tot oder lebendig bei ihr zu sein. Die ersten Worte meiner Mutter, nachdem sie mein Testament gelesen hatte, waren: „Lasst uns alle zusammen sterben“.

Es kam anders: Wir verließen unser Haus und lebten über ein Jahr lang als Wanderer. Wir bettelten, stahlen, aßen, schliefen unter einer Brücke oder auf der Treppe eines Wohnhauses oder in den Bergen. Trotzdem habe ich in keiner der bitterkalten Winternächte gefroren, da meine Mutter jede Nacht ihre Arme und Beine um mich schlang und mich fest an sich drückte.

Am 18. Februar 1999 fassten wir den Entschluss, einen lebensgefährlichen Fluchtversuch zu unternehmen. „Anstatt hier zu verhungern, überqueren wir den Tumen-Fluss und lassen uns erschießen“, beschloss meine Mutter. Sie hielt meine Schwester und mich an der Hand und betrat den zugefrorenen Fluss. Es war dunkel, kalt und still. Meine Mutter hatte in China kein Ziel, verstand nicht einmal die Sprache, und doch riskierte sie ihres und unser Leben. Es war die pure Verzweiflung. Als wir das andere Ufer erreicht hatten und die dortige Straße am Ufer entlang gingen, durchbrach das Motorengeräusch eines Autos die Stille. Es öffnete sich eine Tür, jemand packte meine Schwester und zog sie ins Auto. Meine Mutter und ich erkannten, dass etwas nicht stimmte. Wir griffen nach der Autotür und versuchten, meine Schwester herauszuziehen. Zu spät.

Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie sich meine Mutter damals gefühlt hat, als sie sofort rief: „Was soll ich tun?“ Meine Schwester wurde misshandelt und dann am Straßenrand zurückgelassen. Damals war sie 14 Jahre alt. Sie war nur ein kleines, unterentwickeltes Mädchen.

Wir haben an diesem Tag und auch die Jahre danach nie darüber gesprochen. Ich wollte, dass dieses Erlebnis aus meinem Gedächtnis gelöscht wird. Ich hatte nicht den Mut, den Schmerz zu teilen. Doch plötzlich fing meine Schwester eines Tages beim Essen in einem Restaurant an zu weinen. Es wäre so ungerecht, wenn sie bis zu ihrem Tod nicht darüber sprechen würde, was ihr widerfahren sei, erklärte sie. Sie wollte alles aussprechen, bevor sie irgendwann stirbt. Mehr als ein Jahrzehnt später erzähle ich nun diese Geschichte, die ich nicht einmal in mein 2012 erschienenes Buch "Das Testament eines elfjährigen Kindes", so lautet der übersetzte koreanischer Buchtitel, aufnehmen konnte. Die Angst, mich meiner schmerzhaften Vergangenheit zu stellen, war zu groß.

Als wir ziellos umhergingen, sprach uns eine freundliche Frau an und brachte uns zu ihr nach Hause. Sie hatte meine Mutter davon überzeugt, dass die einzige Möglichkeit, mit ihren beiden Töchtern hier zu leben, darin bestand, einen Chinesen zu heiraten. Meine Mutter akzeptierte die Ehe mit einem Han-Chinesen, ohne zu ahnen, dass die freundliche Frau nur eine Menschenhändlerin war. Tage später stand plötzlich ein Mann vor uns, der uns drei für 2000 Yuan gekauft hatte.

Gut zwei Jahre später, in der Nacht des 31. März 2002, dann die erneute Wende. Chinesische Polizisten standen vor der Tür. Wir hatten keine Chance zu entkommen. „Dreckshure“, „Abschaum“, ihre Beschimpfungen sind in den Arbeitslagern Nordkoreas nicht einmal eine schlimme Beleidigung. Meine Mutter, meine Schwester und ich wurden sofort zwangsweise nach Nordkorea zurückgeschickt.

Das Sonderbare ist, Nordkorea ist unsere Heimat, die wir in China manchmal vermisst haben. Aber es war nie ein Ort, an dem wir leben konnten. So war mir schon während meiner Zwangsrückkehr klar, dass ich erneut nach China fliehen werden. Ich werde irgendwann so frei sein, wie ich es nur kann.

Im Jahr 2006 erzählte mir ein Bekannter in Nordkorea, wie ich nach Südkorea komme, und ich traf ohne zu zögern eine Entscheidung. Ich floh erneut über die Grenze zu China aus Nordkorea, um mein Leben zu retten, und entschied mich, nach Südkorea zu gehen, weil ich ein menschenwürdiges Leben und Freiheit wollte. Es war jedoch klar, dass ich mit einer anderen Situation konfrontiert sein würde als zuvor, wenn ich bei dem Versuch, nach Südkorea zu kommen, von der chinesischen Polizei gefasst und nach Nordkorea zurückgeschickt würde. Denn nach einem missglückten Versuch nach Südkorea zu gelangen, wird man zu einem politischen Gefangenen. Die Ermittlungen und Lager würden anders aussehen, und dann ist klar, dass man entweder den Rest seines Lebens in einem politischen Gefangenenlager verbringen oder in ein paar Jahren sterben würde. Möglicherweise hätte man die Folter während des Ermittlungsverfahrens nicht überlebt, bevor man ins politische Gefangenenlager gekommen wäre. Doch ebenso, wie ich mein Leben riskieren mussten, um aus Nordkorea zu fliehen, musste ich es erneut tun, um nach Südkorea zu gelangen und Freiheit zu finden, die kostbarer ist als unser Leben.

Nach langem Warten und Schwierigkeiten schaffte ich es dank Hilfe von Mittelsmännern in ein Flugzeug nach Südkorea. Im Flugzeug herrschte nur Totenstille. In der hinteren Reihe befanden sich nordkoreanische Überläufer, die unter dem Schutz der südkoreanischen Regierung aus der Mongolei an Bord kamen, und bis zur Grenze zu Korea konnte niemand unvorsichtig werden. Unser Leben war schon immer ein unvorhersehbarer und steiniger Weg.

Ich erinnere mich noch an das erste Mal, es war der 1. September 2006, als ich im Flugzeug den koreanischen Himmel und das Meer vor Incheon sah. Der Himmel war blau, genau wie im Herbst, und die gelegentlichen Quellwolken sahen wie Zuckerwatte aus. Die grünen kleinen Inseln, die das Meer prägten, und die Menschen, die mit dem Boot zwischen ihnen hin- und herfuhren und Wassersport genossen, verliehen den weißen Wasserstraßen Farbe. Wenn es ein Paradies gäbe, wäre es hier. Ich verliebte mich in den wunderschönen Märchenmoment, entspannte mich und freute mich auf ein neues Leben in Korea. Ich verabschiedete mich von allen Gefahren und Ängsten. Mein neues Leben in Freiheit, es hatte begonnen.