Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und der Errichtung eines geeinten Nationalstaates war in Europa eine neue Großmacht entstanden, die sich erst ein Bild davon schaffen musste, welche historischen Kräfte zu ihrer Entstehung geführt haben, und wohin sie ihre Energien zu richten gedachte. Martin Luther und der Protestantismus spielten dabei eine Schlüsselrolle. Im Gründungsjahr 1871 besaß das Deutsche Reich 41 Millionen Einwohner, im Jahre 1910 waren es 64 Millionen. Davon waren jeweils zwei Drittel Protestanten, ein Drittel Katholiken und etwa ein Prozent jüdischen Glaubens.
In welchen Symbolen und Gedenkfeiern sich die Deutschen fortan ihrer Zusammengehörigkeit versichern sollten, darüber beanspruchte der Protestantismus die absolute Deutungshoheit. Der Historiker Dieter Langewiesche bringt es auf eine knappe Formel: „Wenn die Nation feierte, sang man protestantische Lieder, verehrte Luther und stilisierte die Reformation zur deutschen Revolution, man überhöhte den Sieg der deutschen Truppen 1870 über die französische Armee religiös zum Sieg des protestantischen Gottes auf deutscher Seite über den katholischen Gott, der den Franzosen und zuvor den Österreichern nicht helfen konnte.“
Das zielt weniger auf Luther, die Person, als auf Luther, die Ikone. Seit den Glaubenskämpfen des 16. Jahrhunderts eignete sich jede Epoche „ihren Luther“ aktiv an und versah ihn mit Attributen, die der Rechtfertigung ihrer eigenen politischen Ordnung und kulturellen Orientierung diente. Wie geschah dies im neuen Nationalstaat, dem Kaiserreich, das 1918 unterging? Hier gilt es zu differenzieren zwischen einem Nationalprotestantismus, der breit in der Bevölkerung verankert war, und einem Kulturprotestantismus, wie ihn die bürgerlichen Bildungseliten pflegten. Und es ist ein Blick zu werfen auf das große und sorgfältig inszenierte Lutherjahr von 1917, auf das Reformationsjubiläum mitten im Krieg und an einer welthistorischen Wendemarke.
Deutscher Glaube und deutsche Macht: Die Nationalprotestanten
Zum höchsten deutschen Nationalfeiertag entwickelte sich der „Sedanstag“, das Gedenken an den Sieg über Frankreich am 2. September 1870, der den späteren Kaiser Wilhelm I. danken ließ: „Welche Wendung durch Gottes Fügung“. „Welche Wendung durch Gottes Führung“ machten daraus die nationalprotestantischen Vereine und dekorierten mit dieser aktivistischen Losung zum Jahrestag von Sedan das Brandenburger Tor.
Tonangebend und massenwirksam durch ein verzweigtes lokales Vereinsnetz agierte der „Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen“. Seine Gründung fiel nicht zufällig auf 1886, auf das Jahr, in dem der Kulturkampf offiziell beigelegt wurde und das katholische Zentrum in Bismarcks Herrschaftssystem vom „Reichsfeind“ zum Koalitionspartner avancierte. Mit dem „deutschen Glaubenshelden“ Luther ernannte sich der „Evangelische Bund“ zum Wächter eines nationalprotestantischen Wertekanons und trug den Kulturkampf ins 20. Jahrhundert. Unzählige Traktate und Pamphlete zirkulierten. Aber einprägsamer wirkte das „Bild für jeden Deutschen“, das er im Zeitalter der technischen Massenreproduzierbarkeit in unterschiedlichen Formaten drucken ließ. Erklärt wird die ohnehin schon eingängige Bildsymbolik: „Luther und Bismarck erscheinen auf diesem soeben zur Ausgabe gelangten Kunstblatt unter einer knorrigen Eiche als Streiter für deutsche Ehre, deutschen Glauben, deutsche Macht. Der Gedanke einer gemeinsamen Darstellung der beiden größten Deutschen ist in diesem Kunstblatte so einheitlich und glücklich zur Ausführung gekommen, daß es wohl als eine Festgabe für das deutsche Volk bezeichnet werden darf.“ Wirkungsvoll im nationalen „Wir-Ton“ des deutschen Volkes wurde hier mit den Mitteln der religiös-politischen Ikonographie eine Mentalität erzeugt, in der sich die Nationalisierung christlicher Glaubensbestände und die Sakralisierung der Nation wechselseitig verstärkten.
Es war Deutschlands führende historische Autorität, die den protestantischen Anspruch beglaubigte, die Maßstäbe einer hegemonialen Leitkultur zu setzen. Heinrich von Treitschke, Praeceptor Germaniae und Star der Berliner Gesellschaft, hielt 1883 einen Vortrag über „Luther und die deutsche Nation“. „Luthers Tat“ habe eine „Revolution“ von welthistorischer Wirkungskraft ausgelöst, „darum beginnt die Geschichte der modernen Menschheit nicht mit Petrarca, nicht mit den Künstlern des Quattrocento, sondern mit Martin Luther.“
Wege in die Moderne: die Kulturprotestanten
Viel umfänglicher auf die „Geschichte der modernen Menschheit“ richteten sich die Fragen, von denen sich die „Kulturprotestanten“ leiten ließen. Auch sie wollten die politische Kultur des Reiches aus dem Geist eines „freien“ Protestantismus formen. Ihre liberalen Protagonisten zählten sogar zu den Anstiftern des Kulturkampfes, bevor Bismarck die Regie übernahm. Aber dringlicher als deutsche Macht und das martialische „Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf dieser Welt“ war für sie die Frage nach Deutschlands Weg in die Moderne im historischen Vergleich mit dem westlichen Europa. Hierfür benötigten sie Luther als epochale Gestalt, verlagerten aber die Gewichte gegenüber den nationalprotestantischen Großerzählungen „von Luther über Bismarck zu Wilhelm II“.
Eine sechzehnteilige Berliner Vorlesung von 1899/1900, offen für Hörer aller Fakultäten, und als Buch in viele Sprachen übersetzt, setzte in der Luther-Renaissance dieser Zeit einen eigenen Akzent: Adolf von Harnacks „Wesen des Christentums“, ein Bestseller. Die fünfzehnte und vorletzte Vorlesung war dem Reformator gewidmet. Ins Zentrum rückte Harnack weniger das „sola gratia“ oder das „sola fide“. Auf alltägliche Lebensführung kam es ihm an. Luther habe „die Menschheit von dem Banne der Askese befreit. Er hat dadurch recht eigentlich das Leben einer neuen Zeit begründet; er hat ihr die Unbefangenheit gegeben in Bezug auf die Welt und ein gutes Gewissen bei aller irdischen Arbeit.“
Aufmerksame Harnack-Leser wie Max Weber, der als Nationalökonom selbst über die sozialgeschichtliche Bedeutung religiöser Gemeinschaften forschte, war das zu einseitig. Oft zitiert ist ein Brief Webers an Harnack vom Februar 1906: „So turmhoch Luther über allen Anderen steht, - das Luthertum ist für mich, ich leugne es nicht, in seinen historischen Erscheinungsformen der schrecklichste der Schrecken“. Ein „Schrecken“ deshalb, weil „unsere Nation die Schule des harten Asketismus niemals, in keiner Form durchgemacht hat,“ so wie die calvinistischen Denominationen der angelsächsischen Welt, zum Vorteil einer demokratischen Gesinnung gegenüber der deutschen Obrigkeitsmentalität.
Exakt diesen Problemen versuchte Webers Heidelberger Freund Ernst Troeltsch, Theologe und weitsichtigster Zeitdiagnostiker unter den Kulturprotestanten, auf den Grund zu gehen und öffentlich zu diskutieren. Troeltsch rückte Luther vom nationalen in einen europäischen, gar „Welt- horizont“. Zwei seiner Vorträge, „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ von 1906 und ein Jahr später „Luther und die moderne Welt“, zogen gedruckt weite Kreise und etablierten das doppelte Lutherbild zwischen altprotestantischer Beharrung und neuprotestantischen Aufbrüchen. Troeltsch interessierte sich für das Neue. In vier weichenstellenden Ideen habe die „bohrende Genialität eines völlig außerdurchschnittlichen Menschen“ wie Luther „die Entstehung der modernen Welt oft großartig und entscheidend gefördert“. Die „vier großen Gedanken (…) der Glaubens- und Erkenntnisreligion, des religiösen Individualismus, der Gesinnungsethik und der Weltoffenheit“ haben, so Troeltsch, eine „Metaphysik des absoluten Personalismus“ begründet und spürbar auf die Lebensordnungen der Moderne eingewirkt. Historisch kenntnisreich spielt Troeltsch dies im einzelnen durch zu „Familie und Recht, dann Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, schließlich Wissenschaft und Kunst“.
Luther diente Troeltsch als Fixpunkt für eine Verlagerung von der nationalen Politikgeschichte zu einer europäisch-amerikanischen Kulturgeschichte. Darin lag eine Herausforderung nicht nur für das Lutherbild der Zeit, sondern für das historische Denken überhaupt. Noch stärker als Freund Max Weber insistierte Troeltsch darauf, in gegenwartskritischer Absicht zu erkunden, wie Ideen in der Geschichte wirksam werden. Die große Bewährungsprobe für solche Erkundungsgänge erfolgte im Ersten Weltkrieg.
Das welthistorische Jahr 1917 und die Lutherbilder
Das Epochenjahr 1917 bot ein Lehrstück, wie Ideen in der Geschichte wirksam werden können. Die militärischen Fronten waren erstarrt, die ideologischen Fronten kamen mit russischer Revolution und amerikanischem Kriegseintritt umso heftiger in Bewegung. „Lenin und Wilson“ heißt das vielleicht pointierteste Kapitel in Jörn Leonhards lesenswerter Geschichte des Ersten Weltkriegs. „Luther und Wilson“ könnte eine Geschichte der Vierhundertjahrfeiern zum Reformationsjubiläum von 1917 überschrieben werden, soweit es deren politische Stoßrichtungen angeht.
Aber welcher Luther? Der nationalprotestantische Historiker Erich Marcks zog mit einem Vortrag über „Luther und Deutschland. Eine Reformationsrede im Kriegsjahr 1917“ durch Süddeutschland und warb um die Katholiken. Auch sie würden in den Schützengräben das Lied von der „festen Burg“ singen. Und ein wahrer Führer in Deutschlands „Lebenskampf“ müsse „aus Luthers und Bismarcks deutschem Holze sein“. Wilsons Mission „to make the world safe for democracy“ wurde als imperialistischer Angriff auf die Idee von der „deutschen Freiheit“ strikt abgewiesen.
Im Themenheft einer beliebten Kulturzeitschrift „zum Gedenktage an die Reformation“ stellte Ernst Troeltsch die Weichen grundsätzlich anders. Bei Luther sei „nicht das Deutsche in seinem Wesen (…) die Hauptsache“, vielmehr die „religiöse Predigt in ihrer Bedeutung (…) für die Gemeinschaft der Seelen wo immer in aller Welt“. Auf das deutsche Luthertum kämen immense Aufgaben zu, wenn es sich in der modernen Welt nach 1918 „weltoffen“ bewähren wolle. Appelle an eine Selbstreformierung ziehen sich wie ein roter Faden durch Troeltschs politische Publizistik in der Gründungsphase der Weimarer Republik: Das Luthertum müsse seinen „besonderen autoritär-konservativen Zug“ abstreifen, sich dem „Horizont des Weltbürgertums“ öffnen und aufhören, Idee und Institutionen der Demokratie im Namen Luthers zu bekämpfen.
Im Kaiserreich wurden die Weichen für Deutschlands Weg in die Moderne gestellt. Die Lutherbilder wiesen in dieser weichenstellenden Epoche in gegensätzliche Richtungen. Die nationalprotestantische Ordnungsidee der Homogenisierung des deutschen Volkes stand quer zu den kulturprotestantischen Ideen eines „Pluralismus“ der politischen Gemeinschaften und religiösen Glaubenskreise, wie es Ernst Troeltsch sehr modern formulierte, damit aber nur eine Minderheit erreichte. Präsent ist die im Kaiserreich erzeugte Spannung zwischen nationaler Homogenisierung und kultureller Pluralisierung bis in die Gegenwart.
Hundert Jahre nach dem Jubiläum von 1917 setzt das Lutherjahr 2017 nunmehr entschieden auf religiösen Individualismus und Weltoffenheit. „Wer Vielfalt als Gewinn an individueller Freiheit schätzt“, so auf den Schultern von Ernst Troeltsch kürzlich der Theologe Friedrich Wilhelm Graf, der habe 2017 etwas zu feiern, gleich, „ob er nun Katholik, Protestant, freiheitssensibler Muslim oder liberaler Jude ist.“ Vorausgesetzt, auch Katholiken und Protestanten, von Bayern bis Mecklenburg-Vorpommern, sind freiheitssensibel.