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Megastädte haben ausgedient

Titelthema - Megastädte haben ausgedient
Udo van der Kolk und Christian Schmidt (r.) hauchen einer alten Weberei neues Leben ein. Ihre mit Gold und Silber verzierten Stoffe werden von Theatern rund um den Globus gekauft, auch Stoffe für Trachten und technische Textilien, die zum Beispiel bei Akkordeon-Herstellern gefragt sind, weben sie mit Hingabe und Leidenschaft. © Jonathan Linker

Bewohner vor allem amerikanischer Großstädte zog es schon vor Covid-19 in Vor- und Kleinstädte, aber nun flüchten Scharen - gemäß einem jahrhundertealten Muster.

Joel Kotkin01.09.2020

Während eines Großteils dieses Jahrhunderts haben Medien, Wissenschaft und Stadtplaner den unvermeidlichen Aufstieg der Megastadt in einer globalisierten Welt gefeiert. Diese Sichtweise war immer übertrieben, aber jetzt, nach Covid-19, ist sie es auf eklatante Weise. Schon vor der Pandemie verlangsamte sich das Wachstum der Großstädte nicht nur in den Vereinigten Staaten und Europa, sondern auch in Entwicklungsländern wie China, wodurch sich Menschen und Industrien von Shanghai und Peking weg und hin zu kleineren Städten, vor allem im Landesinneren, bewegten. Dies folgt einem seit Langem bestehenden Muster in europäischen Schlüsselstädten wie London, Rom, Essen und Paris, wo das Wachstum der Vorstädte das der Kernstädte übertroffen hat. In den Vereinigten Staaten findet diese Verdichtung seit Jahrzehnten statt. Schon vor dem Auftreten von Covid-19 siedelten die Amerikaner verstärkt in Vorstädte, Vororte und kleinere Städte über, wobei Städte mit weniger als einer Million Einwohnern das schnellste Wachstum der Binnenmigration verzeichnen.

Orte für „Left Behinds“

Die Pandemie hat nun nicht nur das Wachstum der Vororte, sondern auch der ländlichen Gebiete angekurbelt, die in der jüngeren Vergangenheit noch von der New York Times als Orte für die „Left Behinds“ ausgewiesen wurden. Mit ihren niedrigen Infektions- und Todesraten ziehen nun so einige ländliche Gebiete der USA und in Europa neue Migranten aus Kernstädten an. Dies spielt in bereits vorhandene Trends hinein: Eine kürzlich durchgeführte Umfrage unter Fachleuten ergab, dass vor allem Programmierer, Ärzte, Apotheker, Architekten, Ingenieure, Wissenschaftler, Designer, Wirtschaftsprüfer, Anwälte und Akademiker und andere, die ihr Geld „mit Nachdenken“ verdienen, versuchten, in weniger dicht besiedelte Gebiete zu ziehen. Der Einwohnerschwund der Stadt New York ist aufschlussreich: Die ländlichen Bezirke nördlich der Stadt verzeichneten einen enormen Anstieg der Nachfrage, während der Wunsch nach Stadtwohnungen sinkt. Dieses Muster zeigt sich auch in anderen ländlichen Gebieten wie Montana, dem ländlichen Colorado, Oregon und Maine. Ein Freund in Vermont berichtet, dass in einem Radius von sechzig Kilometern um sein Haus keine Mieteinheit mehr verfügbar ist. Ähnliche Phänomene sind auch in Großbritannien zu beobachten, wo das Interesse an Gegenden wie Devon, Cornwall und Wales in den letzten Monaten stark angestiegen ist. Oder das Beispiel Frankreich: Eine Million Pariser flohen kurz vor dem Lockdown aus der Stadt – nicht alle werden wieder zurückkommen können oder wollen. Sei es aus Angst vor Corona, sei es durch Jobverlust oder der Möglichkeit von Homeoffice. Auch in Berlin ist das Interesse am Umland Brandenburg gestiegen, in absoluten Zahlen aber natürlich nicht zu vergleichen mit der Abwanderung von Einwohnern der genannten Megastädte.

Seit der Antike wissen wir, dass die Kombination aus Überbevölkerung und großer Armut Städte weitaus anfälliger für Pandemien machen als das Land. In seinem brillanten Buch Das Schicksal Roms zeigt der Historiker Kyle Harper, wie die blühenden Städte der frühreifen verstädterten Empire-Städte „Opfer des städtischen Friedhofseffekts“ wurden. In Rom und später im Mittelalter waren die Armen in den Städten besonders verwundbar. Wie die Historikerin Barbara Tuchman feststellte, flohen während der Pest vor allem die Wohlhabenden auf ihre Landsitze, um Pandemien zu entgehen. Was nicht alle Gefahren eliminieren konnte, aber immerhin die Chancen, gesund zu bleiben, vergrößerte.

Pandemien, genauso wie auch Klimaveränderungen, verändern Gesellschaften. Als im Mittelalter die Pest bis zu einem Drittel der Bevölkerung Europas ausgelöscht hatte, wurden große Teile des verlassenen Landes von reichen Adligen oder in einigen Fällen von unternehmungslustigen Bauern übernommen.

Mehr Natur, weniger Nachbarn

In ähnlicher Weise wird die gegenwärtige, wenn auch weniger katastrophale Pandemie unsere künftige Geografie prägen. Eine kürzlich durchgeführte Harris-Umfrage ergab, dass mehr als zwei von fünf amerikanischen Stadtbewohnern einen Umzug an einen weniger überfüllten Ort in Erwägung ziehen. Die National Association of Realtors stellte in Umfragen fest, dass amerikanische Haushalte „nach größeren Häusern, größeren Höfen, Zugang zur Natur und mehr Trennung von ihren Nachbarn suchen“. Viele der eingefleischten Stadtbewohner, so die New York Times, gäben nun Gebote für Vorstadthäuser ab, die weiter von der Stadt entfernt sind.

Die Technologie beschleunigt diesen Trend. Das langfristige Wachstum des mobilen Arbeitens, so stellt der Stanford-Ökonom Nicholas Bloom fest, dürfte nun wahrscheinlich von fünf Prozent der Arbeitskräfte vor der Pandemie auf etwa zwanzig Prozent ansteigen. 60 Prozent der Menschen, die in den USA heute von zu Hause aus arbeiten, äußerten den Wunsch, dies in absehbarer Zukunft auch weiterhin zu tun, berichtet das Marktforschungsinstitut Gallup in Washington. Selbst als im Frühsommer dieses Jahres die Büros in New York wieder geöffnet wurden, weigerten sich laut Immobilienmaklern die meisten Arbeiter, zurückzukehren.

Gleichzeitig waren die Führungskräfte der Unternehmen überrascht, wie nahtlos der Übergang zum mobilen Arbeiten verlief und sogar noch zu Produktivitätssteigerungen führte. Auch hier glauben die meisten, dass sich dieser Trend nach der Pandemie fortsetzen wird. Der Hypothekengigant Nationwide und andere große Finanzinstitute wie Barclay’s, Morgan Stanley, Citigroup und JP Morgan Chase haben beschlossen, ihre große Bürofläche zu verkleinern. Viele Technologieunternehmen, darunter Google, Twitter und Facebook, sagen ebenfalls voraus, dass ein großer Teil ihrer Belegschaft auch nach der Pandemie aus der Ferne arbeiten wird.

2,3 Milliarden Quadratmeter weniger

Weltweit schätzt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Zahl der Bürobeschäftigten auf etwa 641 Millionen. Wenn schrittweise 20 Prozent von ihnen dazu übergehen, von zu Hause aus zu arbeiten, haben wir es mit 128 Millionen Menschen zu tun, die kein Vollzeitbüro mehr benötigen. Basierend auf Schätzungen der OECD könnte dies zu einem Rückgang von 2,3 Milliarden Quadratmetern pro Jahr führen. Keine angenehme Zahl für Gebäudeeigentümer. „Unser nationaler Crashkurs für Videokonferenzen überzeugt bereits einige Unternehmen davon, dass sie nicht wirklich Gründe dafür haben, so viele Mitarbeiter in der teuersten Ecke des Landes unterbringen zu müssen", meint James Kirkup, Direktor der einflussreichen Social Market Foundation. „Einige der Büros, die jetzt in glänzenden Türmen in der Londoner City leer stehen, werden wohl auch in den kommenden Jahren leer bleiben.“ Auch wenn social distancing beibehalten werden muss, werden viele Arbeitgeber gezwungen sein, zukünftig mehr Platz pro Arbeitnehmer anzubieten. Hinzu kommt das Problem des Fahrstuhlfahrens, in Hochhäusern ein zentraler Faktor, denn ein ausreichender Abstand zu hustenden und niesenden Mitfahrern ist unmöglich. In den Vorstädten hingegen kann man mit dem Auto in die Einfahrt fahren und direkt ins Haus gehen – ideal für social distancing.

Die dichten Städte werden nicht verschwinden und ihre magnetische Anziehungskraft auf die Wohlhabenden, die Jungen und die Kinderlosen behalten. H. G. Wells prophezeite schon vor weit über einem Jahrhundert, dass Kernstädte „Orte der Begegnung und des Rendezvous“ bleiben würden, Gebiete des „luxuriösen Aussterbens“.

Die vielleicht größte Herausforderung für die Städte dürfte zukünftig die Bewältigung von Problemen sein, die durch Siedlungen mit engen Wohnverhältnissen in und um die Kernstädte herum entstanden sind – und entstehen werden. Die Bewohner dieser Gebiete arbeiten überwiegend in schlecht bezahlten Jobs, leben in prekären Verhältnissen und erleben die verheerendsten Folgen der Pandemie.

Covid-19 wird die Städte nicht auslöschen, sondern sollte sie umgestalten, von einer Politik der erzwungenen Verdichtung hin zu einer Priorität für eine humane und gesunde Umwelt. Die Pandemie mag eine wissenschaftliche und medizinische Krise sein, aber sie ist zutiefst auch eine menschliche Krise.

Joel Kotkin

Joel Kotkin ist Direktor des Urban Reform Institute in Houston und Stadtforscher für die Chapman-Universität in Orange, Kalifornien. Als Autor und Redner befasst er sich mit demografischen, sozialen und wirtschaftlichen Trends.

joelkotkin.com