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Mehr Realismus wagen
Die Massenzuwanderung nach Europa wurde über viele Jahre ignoriert – bis sie 2015 zu einer Schicksalsfrage für den Kontinent wurde. Ein Plädoyer für eine vernünftige, gerechte und sichere Flüchtlingspolitik
Die deutsche und kontinentaleuropäische Zuwanderungspolitik leidet an einem Grundsatzproblem: das Missverhältnis zwischen der steuerbaren und der nicht-steuerbaren Migration. Da die Flüchtlinge den Löwenteil der nicht-steuerbaren Migration ausmachen, ist eine Verbesserung der derzeitigen Situation nur durch eine grundlegende Reform der Flüchtlingspolitik zu erreichen.
Ein überfordertes Asylsystem
In den Jahren 2015 und 2016 stellten in Deutschland etwa 1,2 Millionen Menschen einen Asylantrag, fast zweimal so viele wie in den zehn vorangegangen Jahren (2005–2014). Von den fast eine Million Asylanträgen, zu denen in 2015 und 2016 eine Entscheidung gefällt wurde, erhielten 59 Prozent einen Schutzstatus. Allerdings war das nur in verschwindend wenigen Fällen (etwa 0,4 Prozent aller Entscheidungen) eine Anerkennung als individuell politisch Verfolgter nach Artikel 16 des Grundgesetzes.
Eine weit größere Zahl (40 Prozent der Entscheidungen) erhielt einen Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention, der ebenfalls eine individuelle Prüfung des Verfolgtenstatus voraussetzt, die allerdings für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge zwischenzeitlich wegen der Überlastung der Asylbehörden ausgesetzt wurde. In jüngster Zeit erhalten Syrer wie andere Bürgerkriegs- und Kriegsflüchtlinge zunehmend den subsidiären Schutzstatus (16 Prozent der Entscheidungen in 2015 und 2016), der keinen individuellen Nachweis der Verfolgung erfordert, dafür aber u.a. die Möglichkeit der Familienzusammenführung beschränkt.
Diese Zahlen zeigen, dass sich die Asylpraxis weit entfernt hat von dem, was mit dem Grundrecht auf Asyl gemeint war. Zunehmend geht es bei der Asyl- oder Schutzgewährung nicht um individuelle politische Verfolgung, sondern um den Schutz von Menschen vor allgemeinen Bedrohungen in den Herkunftsländern. Gegen das humanitäre Prinzip, dass ein wohlhabendes Land wie Deutschland eine moralische Pflicht hat, seinen Beitrag zu leisten, dass Menschen, deren Leben von Krieg bedroht wird, geholfen wird, gibt es überhaupt nichts einzuwenden.
Nur muss die Frage gestellt werden, ob die Art und Weise, wie diese Pflicht momentan eingelöst wird, effizient und gerecht ist. Die Antwort darauf fällt eindeutig negativ aus. Effizient ist die heutige Asylpolitik nicht, weil sie zwar Vielen hilft, die Hilfe brauchen, aber als Nebenprodukt fast genauso viele Menschen hereinlässt, die keinen Anspruch auf irgendeine Form von Flüchtlingsschutz geltend machen können. Aus verschiedensten Gründen gelingt es dem Staat außerdem nicht, diejenigen, deren Asylgesuche – oft nach jahrelangen Verfahren und mehreren Berufungsinstanzen – abgelehnt werden, zu einer Rückkehr in ihre Heimatländer zu bewegen.
Absurde Gerechtigkeitslücken
Gerecht ist die heutige europäische Asylpraxis noch weniger. Jährlich führt sie zum Tod tausender Menschen. Das Jahr 2016 war der vorläufige traurige Höhepunkt, mit laut UNHCR mehr als 5000 im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen. Das sind mehr Opfer als 2016 in den Bürgerkriegen etwa in Nigeria, Libyen oder dem Jemen zu beklagen waren und etwa so viele wie in jenem Jahr im Bürgerkrieg in Somalia starben.
Nur in Syrien, Irak und Afghanistan gab es 2016 mehr Bürgerkriegstote als Ertrunkene im Mittelmeer. Ein Asylregime, das mehr Tote verursacht als viele der Konflikte, vor denen die Menschen fliehen, ist eine moralische Schande. Der Grund für dieses Massensterben ist, dass das geltende Asylregime verlangt, dass man es physisch nach Europa schafft, bevor man Hilfe in Anspruch nehmen kann.
Das führt zu der Frage, wer es nach Europa schafft. Die Antwort lautet: vor allem junge, gesunde Männer. 2015 waren laut Europäischer Kommission etwa 73 Prozent aller Flüchtlinge, die in den 28 EU-Ländern einen Antrag stellten, Männer. Was das Alter betrifft, überwiegen junge Erwachsene (18–34 Jahre: 53 Prozent) und Jugendliche (14–17 Jahre: etwa 10 Prozent). In diesen Altersgruppen liegt der Männeranteil sogar bei zirka 80 Prozent. Menschen über 65 gibt es unter den Flüchtlingen kaum, was angesichts der Strapazen, die man auf sich nehmen muss, um es ins europäische Asylregime zu schaffen, nicht verwundert.
Über den Gesundheitszustand der Flüchtlinge liegen keine Daten vor, aber es dürfte klar sein, dass Kranke, Verletzte und Behinderte keine realistische Möglichkeit haben, nach Europa zu kommen. Weil Europa einerseits seine Grenzen streng kontrolliert, andererseits der Grenzübertritt einem Ticket ins Asylsystem gleichkommt, sind Asylsuchende auf Schlepperbanden angewiesen, die große Summen fordern. So finanziert das europäische Asylregime einerseits eine kriminelle Industrie, und stellt andererseits finanzielle Hürden auf, die eine weitere Ungerechtigkeit beinhalten und relativ wohlhabende Flüchtlinge bevorteilen.
Insgesamt muss man schlussfolgern, dass das europäische Asylregime vielen Menschen den Zutritt nach Europa gewährt, die keinen Anspruch auf Schutz oder Asyl haben, und unter denjenigen, die diesen Anspruch wohl geltend machen können, diejenigen bevorteilt, die am wenigsten schutzbedürftig sind. Hinzu kommen Tausende Tote und eine Gefährdung der inneren Sicherheit der Einwanderungsländer. Wie man diese Politik als humanitäre Leistung verteidigen kann, ist rätselhaft.
Vorbild Nordamerika
Ganz anders ist die Situation in den USA und Kanada. Beide Länder nehmen aus Syrien und anderen Krisenländern Flüchtlingskontingente auf, deren Größe von den Regierungen festgelegt wird. Was in der deutschen Politik als ein höchst fragwürdiger, ja fast rechtspopulistischer Vorschlag gilt – nämlich eine Obergrenze für die Zahl der Flüchtlinge – ist in den USA unter dem Namen „overall refugee ceiling“ offizielle Politik.
Diese Deckelung der Flüchtlingszahlen wurde 2016 zuletzt von Präsident Obama von 70.000 auf 85.000 jährlich erhöht. Umgerechnet auf die Bevölkerungsgröße Deutschlands entspräche das einer jährlichen Obergrenze von etwas mehr als 20.000 Flüchtlingen – das erhofft sich Horst Seehofer nicht in seinen kühnsten Träumen. Die Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien geht in den USA besonders schleppend voran, weil schon die Obama-Regierung eine akribische Sicherheitsprüfung angeordnet hatte: bis Ende 2016 wurden nur 18.000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge in die USA aufgenommen.
Vor diesem Hintergrund kann man das wiederholte Lob des ehemaligen amerikanischen Präsidenten für die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin nur als zynisch bezeichnen: „Danke Angie, dass du das machst, was ich meiner eigenen Bevölkerung nie zumuten würde“. Auch Kanada hatte bis Januar 2017 nur 40.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen – umgerechnet auf die deutsche Bevölkerung wären das etwas weniger als 100.000. Und auch diese wurden vorher sorgfältig überprüft „um sicherzustellen, dass es keine Probleme in Bezug auf Sicherheit, Kriminalität oder Gesundheit“ gibt.
Angesichts seiner alternden Bevölkerung und der günstigen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftslage wäre Deutschland derzeit in der Lage, jährlich 100.000 bis 200.000 Flüchtlinge ohne große Probleme und im längerfristigen Eigeninteresse zu verkraften. Die Frage ist: Wie schaffen wir es, obwohl wir viel näher an den Krisenherden sind als die Nordamerikaner und das Mittelmeer im Gegensatz zum Atlantik für Flüchtlinge überquerbar ist?
Alternative Lösungen
Die Antwort kann aus einer Kombination von drei Komponenten bestehen: 1) großzügige Kontingentaufnahmen, 2) Rücknahmeabkommen mit Erstaufnahmeländern und 3) Nachweis der Identität und Herkunft als Voraussetzung für die Gewährung eines Flüchtlingsstatus’ beziehungsweise die Zulassung zum Asylverfahren. In der Vergangenheit hat Deutschland bereits begrenzte Flüchtlingskontingente unter anderem aus Vietnam und der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen.
Durch Kontingententscheidungen 2013 und 2014 kamen auch insgesamt 20.000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge ins Land. Angesichts der schon damals dramatischen Lage und der Millionen Flüchtlinge, die sich bereits in der Türkei, in Jordanien und dem Libanon befanden, war das eine beschämend niedrige Zahl. Wäre der Bundesregierung wirklich an humanitärer Hilfe und einer Entlastung der Erstaufnahmeländer gelegen gewesen, hätte sie damals die Gelegenheit gehabt, viel mehr zu tun und zwar ohne Kontrollverluste und Sicherheitsrisiken.
Stattdessen schaute die Bundesregierung lange Zeit tatenlos zu, um sich anschließend von einer Flüchtlingswelle überrollen zu lassen und die unkontrollierte Öffnung der Grenzen als humanitäre Geste zu verkaufen. Um die Kontrolle wiederzugewinnen, erstattete die Bundeskanzlerin Ende 2015 dem türkischen Präsidenten Erdogan einen Besuch ab und versprach ihm im Gegenzug für ein Flüchtlingsabkommen die visafreie Einreise für Türken in die EU und die Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche.
Das daraufhin geschlossene Abkommen machte die Türkei zum Türsteher der Flüchtlingspolitik – ein Land, das selber die Menschenrechte missachtet, Journalisten politisch verfolgt, Parlamentarier ohne Prozess einsperrt, die Genfer Flüchtlingskonvention nicht anerkennt und im kurdischen Südosten einen Bürgerkrieg führt.
Lösung durch Kontingente
Eine gerechtere, effektivere und nachhaltige Flüchtlingspolitik sollte auf großzügige Flüchtlingskontingente setzen. Diese können aus zwei Teilkontingenten bestehen. Das erste Teilkontingent sollte einzig und allein humanitär orientiert sein und nur die Interessen der Flüchtlinge berücksichtigen. Die Auswahl der infrage kommenden Personen könnte vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) vorgenommen werden.
Flüchtlinge, die besonders schutzbedürftig sind, wie Familien mit kleinen Kindern, Behinderte, ältere Menschen oder auch Mitglieder verfolgter Minderheiten wie Jesiden oder Christen könnten dabei entsprechend berücksichtigt werden. Für das zweite Teilkontingent kämen ebenfalls nur Flüchtlinge in Betracht, doch würden hier als zusätzliches Kriterium auch die Integrationschancen im Aufnahmeland berücksichtigt, indem Alter, Bildungsniveau, Berufserfahrung, Sprachkenntnisse und Familienbeziehungen in Deutschland als Auswahlkriterien herangezogen werden.
Natürlich enthält diese zweite Komponente eine gewisse Selektivität, aber sie ist weniger ungerecht als die faktische Selektivität der jetzigen Flüchtlingspolitik, die junge, gesunde Männer aus Familien mit hinreichenden finanziellen Mitteln bevorteilt. Außerdem ist dies zumindest eine Form der Selektivität, die Integrationschancen mitbedenkt, anstatt die Selektion in die Hände von kriminellen Schlepperbänden zu legen. Für beide Kontingente sollte gelten, dass nur Personen, die ihre Identität, und damit ihre Herkunft aus einem anerkannten Krisengebiet nachweisen können, für die Auswahl in Betracht kommen.
Das muss nicht unbedingt durch einen offiziellen Reisepass geschehen. Im Zeitalter von Internet und Smartphones gibt es auch andere Möglichkeiten, die Identität und Herkunft glaubhaft nachzuweisen. Für beide Kontingente sollte Europa das machen, was auch für Kanada und die USA – und das nicht erst seit Trump – eine Selbstverständlichkeit ist, nämlich eine Sicherheitsprüfung, bevor Personen eine Einreisegenehmigung bekommen.
Man muss auch Nein sagen können
Eine große Herausforderung ist die Frage, was zu tun ist, wenn Menschen, die für keines der beiden Kontingente infrage kommen, sich trotzdem auf den Weg nach Europa machen und den Anspruch auf einen Flüchtlingsstatus erheben. Dafür braucht man als zweite Komponente einer neuen Flüchtlingspolitik Rücknahmeabkommen mit der Türkei und den südlichen Mittelmeerstaaten.
Das Tauschmittel sind dabei die Kontingente, die diese Länder erheblich entlasten würden – und nicht etwaige Versprechen von visafreiem Reisen, EU-Beitrittsverhandlungen oder andere politische Geschenke an autoritäre Herrscher. All diejenigen, die über ein Land in die EU einreisen, in dem sie einen Antrag auf Aufnahme in eine der beiden Kontingente hätten stellen können, sollten von dem Recht, einen Asylantrag in Europa zu stellen, ausgeschlossen werden.
Wer es an der Schlange vorbei versucht, sollte zurückgewiesen werden und muss sich wie jeder anderer hinten anstellen. Eine Reform der Asylpolitik entlang dieser Linien würde es ermöglichen, längerfristig mehr wirklich Schutzbedürftigen und politisch Verfolgten zu helfen und auch die Erstaufnahmeländer in den Krisenregionen stärker zu entlasten als es das jetzige Asylregime tut.
Und das ohne die vielen unerwünschten Nebenwirkungen des heutigen Systems, das viele hereinlässt, die keinen Schutz benötigen, aber dennoch kaum abgeschoben werden können; das Tausende von Toten im Mittelmeer fordert; das Schlepperbanden Millionengewinne bringt; und das leider auch eine offene Tür für Menschen mit kriminellen und extremistischen Absichten bietet.
Ruud Koopmans