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Nicht zu fest, nicht zu luftig

Forum - Nicht zu fest, nicht zu luftig
Das raue Klima des antarktischen Winters überstehen Kaiserpinguine nur dank ihres liebevollen, aufmerksamen und hilfsbereiten Umgangs miteinander und mit dem Nachwuchs. © j.-l. klein & m.-l. hubert/juniors@wildlife

Wie geht es dem Gemeinwohl in der Pandemie? Gut, sagt Timo Meynhardt, weil es gefordert wird. Daraus lässt sich viel lernen.

Timo Meynhardt01.07.2021

Das Gemeinwohl ist in der Covid-19-Krise omnipräsent. Wir merken plötzlich in nie gekannter Intensität, wie wichtig uns ein Leben jenseits der eigenen Türschwelle ist. In den Diskussionen geht es seit Anfang 2020 um eine aus der Not heraus erzwungene (vorübergehende?) Neujustierung unserer sozialen Strukturen, die Arbeit, Familie, Freunde und Freizeit umfasst. Ob in Solidaritätsbekundungen, bei Grundrechtseinschränkungen oder auch bei Wirtschaftshilfen – immer werden Gemeinwohlargumente zur Begründungserleichterung und zur Akzeptanzsteigerung der Maßnahmen herangezogen. Was denn auch sonst, möchte man fragen. Doch was macht das mit der Idee des Gemeinwohls selbst?


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Zunächst: Aktuelle Daten aus dem Gemeinwohlatlas zeigen, dass in der Krise die Gemeinwohlorientierung in der Bevölkerung gestiegen ist. Am Gemeinwohl kommt niemand vorbei. Gemeinwohl ist schon lange nicht mehr der Gegenspieler des Einzelwohls, sondern dessen ermöglichende Bedingung, gewissermaßen der Erfüllungsgehilfe des wohlverstandenen Eigeninteresses. Oder wie es sehr treffend das Zweite Vatikanische Konzil festgehalten hat: Es geht beim Gemeinwohl um „die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen.“

Werte fürs kollektive Überleben

Gemeinwohl ist, was uns alle angeht. Ohne ein Wir kann es kein Ich geben. Und: Nenne jemand eine Sprache, die ohne einen entsprechenden Begriff auskommt – es wird ihm nicht gelingen. Für uns als Rotarier ist der Gemeinwohlgedanke fester Bestandteil unserer Vier-Fragen-Probe.

An der Situation von Kindern und Jugendlichen in der Coronakrise kann man besonders eindrücklich sehen, was passiert, wenn sich die „Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens“ verschlechtern – vom eingeschränkten Unterricht und ausgefallenen Partys mit Gleichaltrigen, den verschobenen Berufseinstiegen bis hin zum Familienstress mit überforderten Eltern. Wir können nicht einfach annehmen, dass die Pandemie an den Kindern und Jugendlichen spurlos vorbeigeht. Es ist nicht zu hoch gegriffen: Das Kindeswohl von heute wirkt auf das Gemeinwohl von morgen.

Es ist kein Wunder, dass Gemeinwohlfragen in der Krise nach vorn rücken, gerade dann, wenn wir merken, dass unser Selbstverständnis freier Entfaltung durch Lockdowns und erhebliche Einschränkungen bisheriger Formen sozialen Austauschs auf die Probe gestellt wird. Das Gemeinwohl wird einem Stresstest unterzogen: Einerseits wird es zum Systemimperativ ausgerufen, ohne den ein kollektives Überleben kaum möglich erscheint. Andererseits wird das G-Wort kaum offen ausgesprochen, vermutlich weil es zu viel Sprengkraft enthält und wir Farbe bekennen müssten, was für uns wirklich zählt.

Eines ist sicher: Beim Gemeinwohl geht es um ein Orientierungsprinzip zur kollektiven Selbsterhaltung und sozialen Lebensfähigkeit. Einen Schritt zur Öffnung der Debatte machte der britische Premier Boris Johnson, als er zu Beginn der Covid-19-Pandemie im März 2020 den Satz sagte: „One thing the coronavirus crisis has already proved is that there really is such a thing as society.“ Er sprach aus, was offensichtlich ist: Es geht nur gemeinsam, das kollektive Überleben erfordert Solidarität und die Mitwirkung aller.

Johnson bringt etwas ins Rollen, was als intellektuelle Zäsur mit offenem Ausgang verstanden werden kann. Dazu ein Rückblick: Die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher hatte 1987 in einem Interview den berühmt-berüchtigt gewordenen Satz „There is no such thing as society“ formuliert. Aus dem Kontext des deutlich nuancierteren Interviews gerissen, wurde dieser Satz zur Signatur ihrer Amtszeit und zur Kurzformel der Akzentverschiebung hin zu mehr Selbstverantwortung des Einzelnen und weg von staatlicher Unterstützung. Je nach ideologischer Ausrichtung wurde der Grundgedanke zum Baustein politischer Programme und wirkt bis heute nach. Ganz sicher würde sich Thatcher nicht mit jeder Auslegung ihrer Worte einverstanden erklären. Eines aber darf man ihr unterstellen: Sie war fest davon überzeugt, dass dem Gemeinwohl (sie nannte es „flourishing society“) am besten damit gedient sei, wenn jeder für sich selbst und sein unmittelbares Umfeld Verantwortung übernimmt. Die Pandemie macht nun deutlich, wie voraussetzungsreich eine solcherart liberale Perspektive ist.

Das Gemeinwohl wird – keine Frage – immer wieder uminterpretiert und manche versuchen gar, es ganz auszulöschen. Der Versuch, diesen im europäischen Denken so wichtigen Gedanken als überkommen, historisch belastet und altmodisch wegzuschieben, wirkt verantwortungslos. Die dahinterstehende Angst ist dysfunktional und selbstzerstörerisch. Denn gerade in der Krise zeigt sich, dass wir – wenn es darauf ankommt – gar nicht anders können, als an etwas zu appellieren, was über Partikularinteressen hinausgeht, was diese in sich aufnimmt und, ja, deren Realisierung überhaupt erst ermöglicht. Ohne Gemeinwohl gibt es keine Freiheit – die liberale Frage des 21. Jahrhunderts.

Insofern geht es dem Gemeinwohl in der Krise hervorragend, obgleich dieses häufig – und das ist das Paradoxe – wie der berühmte Elefant im Raum steht. Würde man es benennen, wäre dies wohl für viele ein Frontalangriff auf die Idee des autonomen, selbstverantwortlichen Menschen – eine Imago, die wir in einer individualistischen Gesellschaft brauchen, um stabile Überzeugungen von Erfolg und Misserfolg, von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit aufrechterhalten zu können.

Wie flexibel ist das Gemeinwohl?

Besonders hilfreich finde ich an dieser Stelle eine Anleihe bei Ferdinand Tönnies, einem der Gründerväter der Soziologie. Er unterschied drei Aggregatzustände (fest, flüssig und luftartig), um den Zustand der öffentlichen Meinung zu verstehen. Auf das Gemeinwohl gemünzt, lassen sich ebenfalls drei Formen differenzieren: festes, solides Gemeinwohl (etwa das Demokratieprinzip), flüssiges Gemeinwohl (zum Beispiel Diskussionen um neue Formen der Bürgerbeteiligung) und gasförmiges Gemeinwohl (etwa spontanes Aufschaukeln einer Meinung in sozialen Medien). In der modernen Gesellschaft muss das Gemeinwohl in Bewegung bleiben und darf weder erstarren noch sich in Luft auflösen, um die Lebensfähigkeit des Gemeinwesens zu erhalten. Interessant sind jeweils die Übergänge und oftmals leisen, aber wirkungsvollen Akzentverschiebungen.

Während wir in normalen Zeiten uns eher mit luftartigen und flüssigen Formen des Gemeinwohls beschäftigen und (feine) Unterschiede kultivieren können, kommen in Krisensituationen dessen festere Bestandteile umso deutlicher zum Vorschein. Tragen diese nachhaltig oder sind sie auf Sand gebaut? Zerstört das auch nur temporäre Außerkraftsetzen von verrechtlichten Gemeinwohlüberzeugungen deren innere Bejahung? Was passiert, wenn sich bisherige Selbstverständlichkeiten individueller Freiheit als kontraproduktiv für das kollektive Überleben erweisen? Es bleibt abzuwarten, ob solche Fragen der Umgewichtung, wie wir sie in der Pandemie erfahren haben, längerfristig etwas ins Rollen bringen oder als Episode bald der Erinnerungswelt zugeschlagen werden.

Vorsicht vor Umdeutungsversuchen

Leser dieses Beitrages seien ermutigt, künftig (eigene) Artikel und Reden zur aktuellen Coronadiskussion mit genau dieser dynamischen Gemeinwohlbrille anzuschauen. Dabei wird rasch deutlich, wo und wie an Gemeinwohlvorstellungen Hand angelegt wird, ob und wie sie ausgehandelt werden, was auf dem Spiel steht, wo vielleicht ein Dammbruch droht oder wo ein zartes Pflänzchen gegossen werden sollte. Diese Optik zwingt uns, einzelne Argumente aus ihrem unmittelbaren Verwendungszusammenhang zu lösen und auf ihre Gemeinwohlrelevanz zu hinterfragen. Diesen Gedankensprung aufs größere Ganze müssen wir wieder trainieren. In keinem Fall sollten wir ihn uns verwehren oder ausreden lassen.

Wo werden stabil verankerte Gemeinwohlwerte infrage gestellt? Beim Missbrauch der Meinungsfreiheit? Wer versucht, Partikularinteressen mit Gemeinwohlbegründungen durchzusetzen? Die Lobbypolitik? Wo zeigen sich neue Formen von Solidarität, die es zu fördern gilt? Etwa beim Schutz der Schwächeren der Gesellschaft? Stellen wir uns nur vor, Kinderrechte wären vor der Pandemie fest im Grundgesetz verankert gewesen. Dann hätte manches anders verlaufen müssen.

Es geht mir weniger um eine Metaebene in tagespolitischen Auseinandersetzungen, sondern um Sensibilität und Achtsamkeit für das unsichtbare Band des Gemeinwohls, an dem alle jeden Tag aufs Neue – gewollt oder ungewollt – mitwirken. Die Coronakrise führt uns vor Augen, wie hoffnungslos verloren wir wären ohne ein Mindestmaß an Gemeinwohlvorstellungen, die dann auch durchgesetzt werden. Die große Herausforderung besteht darin, das Gemeinwohl mutig weiterzudenken. Auf unsere Eingangsfrage nach dem Wohlergehen des Gemeinwohls in der Pandemie lässt sich nun sagen: Es geht ihm gut, weil es gefordert ist und sich beweisen muss. Daran können wir alle nur wachsen.

Timo Meynhardt
Timo Meynhardt, RC Jena, ist Professor für Wirtschaftspsychologie und Führung an der Handelshochschule Leipzig und Leiter eines Forschungszentrums an der Universität St. Gallen. Er ist Herausgeber des Gemeinwohlatlas Deutschland und Schweiz.