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Titelthema

Parallele Rechtsstrukturen

Titelthema - Parallele Rechtsstrukturen
Wenn es um die private Lebensführung von Einwanderern in Deutschland geht, gilt das internationale Privatrecht. © Laif

Gerichtliche und außergerichtliche Konfliktregulierung in einer sich wandelnden Gesellschaft

01.11.2018

Mit dem sich im Wandel befindlichen Rechtstaats gehen Formen sogenannter Paralleljustiz einher. Bei diesem Begriff handelt es sich nicht um einen genuin juristischen Fachterminus. Er wurde in jüngster Zeit von populärwissenschaftlichen Abhandlungen und medialer Markierung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe aus dem türkisch-arabisch-kurdischen Raum festgemacht. Das Wesen der Parallelität liege demnach darin, dass dabei Personen handeln, die hierzu nicht originär berufen sind, es sich also um keine staatlich ernannten Richter, Berufsbeamten oder sonstige im öffentlichen Justizdienst Beschäftigten handelt. „Paralleljustiz“ ist demnach negativ konnotiert. Dem Wortsinn nach soll der Begriff nahelegen, dass es sich um ein Phänomen handelt, bei dem justizförmige Autorität in einer konkurrierenden, gerichtsförmig verfassten Struktur ausgeübt wird, die a priori im Gegensatz zu rechtsstaatlichen Grundsätzen steht.

Formen des Parallelrechts
Bei einer solchen Sichtweise gerät jedoch aus dem Blick, dass auch im deutschen Recht vielfältige Möglichkeiten bestehen, Konflikte zu regulieren, ohne auf staatliche Gerichte zurückzugreifen.

Das entspricht einerseits dem schon lange bestehenden Grundsatz der Privatautonomie, der in weiten Teilen der deutschen Rechtsordnung dem Einzelnen die Selbstverantwortung für die Regelung seiner Angelegenheiten und die Durchsetzung seiner Interessen zuweist. Unterstützt wird dies zusätzlich durch in jüngerer Zeit vermehrt geschaffene Anreize, den Gang zu Gericht zu vermeiden (Stichwort: Mediation).

Paralleljustiz unter kulturellen und religiösen Vorzeichen lässt sich vorwiegend in den Bereichen von Strafrechts-, Familien- und Erbrechts- sowie Vertragsrechtskonstellationen vorfinden. Im strafrechtlichen Bereich lässt sie sich vor allem im Bereich der Organisierten Kriminalität lokalisieren. Sowohl inländische als auch unterschiedlichste ausländische (z.B. russische und andere osteuropäische, italienische oder chinesische) Gruppierungen pflegen interne Konflikte nach ihren eigenen, meist kriminellen Methoden auszutragen. Paralleljustiz findet sich jedoch auch in verschiedenen Bevölkerungsgruppen wie bei christlichen Roma, Albanern, Vietnamesen, Chinesen oder Osteuropäern. Charakteristisch ist hier weniger das religiöse Element als das jeweilige, weitgehend segregierte Zusammenleben in Großfamilienverbänden mit starker innerer Loyalitätserwartung und patriarchalischem Aufbau, mit einer gewissen Distanz zum Staat und seinen Institutionen.

Zu berücksichtigen ist, dass wir uns bei der Analyse derartiger Vorkommnisse empirisch bestenfalls im Halbschatten bewegen. Neben Berichten von Journalisten liegen uns allenfalls Einschätzungen von Justizpraktikern vor, aber nur wenige unabhängige Untersuchungen. Was man aber durchaus attestieren kann, ist, dass es bei kriminellen Konflikten und Vertragsstreitigkeiten in einer Vielzahl von Fällen Familienälteste sind, welche die Konfliktschlichtung betreiben oder überwachen.

Clan vor Individuum
Zur Anwendung kommen in weiten Teilen traditionelle Ausgleichsmechanismen, die auf Konsensbildung im Kollektivinteresse abzielen und damit teilweise im Gegensatz zu den vom deutschen Recht vorgesehenen Mechanismen geraten können. Ein typischer Fall ist eine Messerattacke auf einen anderen Clanangehörigen, die zur „Blutrache“ oder zumindest zu schweren Konflikten zwischen den Beteiligten Familien(clans) führen kann. Dann versuchen Familienoberhäupter, Frieden wiederherzustellen, indem sie z.B. das Tatopfer im Krankenhaus besuchen, ein symbolsches Geschenk überreichen und eine Kompensationszahlung anbieten. Die Idee, den Rechtsfrieden durch persönliche Wiedergutmachung zu erreichen, ist auch dem deutschen Strafrecht nicht fremd. Doch stellt das deutsche Recht das Individuum in den Mittelpunkt, die Schuld und Reue des Täters und die Wirkung auf das Opfer und dessen Einverständnis. Clan-interne Vermittlung hat hingegen häufig alleine das Kollektiv, bzw. die in Konflikt geratenen Kollektive und deren Interessen im Auge. Von den Individuen wird mehr oder weniger bedingungslose Loyalität erwartet, ihre persönlichen Interessen müssen im Zweifel zurückstehen.

Die Vorzüge des strafrechtlich statuierten Täter-Opfer-Ausgleichs bestehen darin, dass er dem Opfer, dessen Mitwirkung stets freiwillig sein muss, ermöglicht, aktiv und selbst seine Interessen und seine Sicht der Tat einzubringen und deren materielle und immaterielle Folgen zu verdeutlichen. Auf der anderen Seite bietet der Täter-Opfer-Ausgleich unter bestimmten Voraussetzungen anstelle einer bloßen Bestrafung für den Täter einen Weg zur konstruktiven Unrechtswiedergutmachung. Durch die persönliche Konfrontation mit dem Opfer und den Tatfolgen besteht eine erhöhte Aussicht, dass der Täter zur Einsicht in das begangene Unrecht und zu Änderungen seines künftigen Verhaltens gelangt. Diese Betrachtungsweise scheint in Teilen der Bevölkerung allerdings schwerlich vermittelbar zu sein.

Mord oder Totschlag?
Dies gilt um so mehr, wenn deutsche Gerichte über kulturell motivierte Straftaten wie „Ehrenmorde“ zu urteilen haben. Hier ist in der öffentlichen Debatte immer wieder von mildernden Umständen bei der Bestrafung, einem „Kultur-“ oder „Strafrechtsrabatt“ die Rede. Maßgeblich für die Bewertung dieser Taten ist das Vorliegen eines Mordmerkmals „aus sonstigen niedrigen Beweggründen“ im Sinne des § 211 Strafgesetzbuches. Einen Beweggrund als „niedrig“ einzustufen ist nach ständiger Rechtsprechung dann gegeben, wenn er nach allgemeiner sittlicher Wertung auf sittlich niedrigster Stufe steht und aus Sicht eines objektiven Betrachters als besonders verachtenswert erscheint. Hierzu hat der Bundesgerichtshof in seiner Funktion als höchstrichterliche Strafrechtsinstanz entschieden, dass als Maßstab für die Bewertung der Frage der Niedrigkeit eines Beweggrundes grundsätzlich die Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland heranzuziehen sind.

Die Verteidigung der Ehre ist demnach als niedriger Beweggrund zu werten, da sie als Tötungsmotiv aus Sicht der deutschen Wertvorstellung auf sittlich niedrigster Stufe steht und besonders verachtenswert ist. Nur höchst ausnahmsweise – nämlich dann, wenn der Täter den in seiner Heimat gelebten Anschauungen derart intensiv verhaftet ist, dass er die in Deutschland gültigen abweichenden sozialethischen Bewertungen seines Motivs nicht nachvollziehen kann – kann anstatt einer Verurteilung wegen Mordes aus niedrigen Bewegründen eine Verurteilung wegen Totschlags in Betracht kommen.

Privates Recht
Wendet man den Blick auf das Familienrecht, gilt die Dispositionsmaxime, wonach die Parteien in aller Regel selbst entscheiden, ob sie eine Streitigkeit vor Gericht bringen oder sich der Hilfe nichtstaatlicher Schlichtungsstellen, Mediatoren oder Schiedsgerichte bedienen. Der Parteidisposition entzogen sind jedoch Ehe- und Abstammungsangelegenheiten wie auch Entscheidungen über das Sorgerecht.

Zivilrechtliche Elemente wie die Vereinbarung einer Brautgabe und deren Rückabwicklung bei einer Scheidung sind grundsätzlich justitiabel und mit der deutschen Rechtsordnung vereinbar. Problematisch wird es aber dann, wenn in Fällen häuslicher Gewalt strafrechtliche Sanktionierung durch außergerichtliche Konfliktregulierungsmechanismen, die im Widerspruch zur deutschen Rechtsordnung stehen, ausgehebelt wird. Regelmäßig werden diese Fälle der öffentlichen Hand jedoch nur bekannt, wenn das Opfer – in der Regel die Ehefrau oder Kinder – die Misshandlungen des Täters zur Anzeige bringt. Indizien lassen sich in der richterlichen Praxis ansonsten allenfalls erahnen, etwa wenn Anträge in Kinderunterhaltssachen überraschend zurückgezogen werden.

Was man dieser Stelle festhalten kann, ist, dass die den Gerichten bekanntgemachten Fälle aller Arten von Straftaten häuslicher Gewalt ausschließlich nach deutschem Recht ver- und behandelt werden. Dennoch scheint auch hier in der öffentlichen Wahrnehmung weit verbreitet zu sein, dass die Scharia durch die verstärkte nah- und mittelöstliche Einwanderungswelle Einzug in deutsche Gerichtssäle genommen hat.

Das Internationale Privatrecht
Wenn es um die private Lebensführung von Einwanderern in Deutschland geht, gilt das Internationale Privatrecht, nach dem etwa in Scheidungs- oder in Erbrechtsfällen bei Ägyptern nach ägyptischem Recht, bei Iranern nach iranischem Recht etc. geurteilt wird. In Gestalt dieser Rechtsordnungen kommen dann in der Tat schariatsrechtliche Fragestellungen ins Spiel. Hintergrund dessen ist, dass in diesen exemplarisch angeführten Staaten die Rechtsordnungen zumindest teilweise noch vom „islamischen“ Recht geprägt sind. Das gilt vor allem für das Familienund Erbrecht.

Beruft deutsches Internationales Privatrecht islamisch geprägte Rechtsnormen zur Anwendung, stellt sich oft die Frage nach der Vereinbarkeit der konkreten  Rechtsfolgen mit dem in Art. 6 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) verankerten Grundsatz des deutschen ordre public. Diese Norm stellt die Anwendung ausländischen Rechts unter den Vorbehalt, dass ihr Ergebnis nicht offensichtlich mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts unvereinbar ist.

In bestimmten Fällen grenzüberschreitender Lebenssachverhalte sieht das EGBGB vor, dass im Ausland wirksam entstandene private Rechtsverhältnisse grundsätzlich fortbestehen, wenn die Beteiligten nach Deutschland kommen. Dasselbe gilt, soweit sie als Ausländer in Deutschland leben und das Internationale Privatrecht anordnet, dass ihre privaten Rechtsverhältnisse nach dem Recht ihrer Staatsangehörigkeit zu beurteilen sind. Das gilt im Grundsatz auch für muslimische Ausländer. Allerdings zieht auch hier der ordre public Grenzen: Wenn das Ergebnis der Anwendung fremder Normen mit den rechtlichen Grundvorstellungen Deutschlands offensichtlich unvereinbar wäre und ein hinreichender Bezug des Falles zum Inland besteht, dann werden diese Normen doch nicht angewandt. Das betrifft z.B. die genannten Fälle der Ungleichbehandlung von Geschlechtern und Religionen.

Problemfall Polygamie
Virulent erscheint dies, wenn ein Auslandsbezug besteht, bei dem die Polygamie – anders als in Deutschland – nicht strafbar ist. Hierzu melden sich in der öffentlichen Debatte Stimmen, welche ihrem Rechtsgefühl nach bereits in der richterlichen Befassung mit diesen islamisch geprägten Sachverhalten die sukzessive Aushöhlung des deutschen Rechtssystems sehen. Hierzu lässt sich konstatieren, dass in Deutschland rechtswirksam nur monogame Ehen geschlossen werden können. Die Eingehung einer polygamen Ehe im Inland ist strafbar.

Wie aber ist mit solchen Ehen zu verfahren, die gemäß der Herkunftsrechtsordnung der Beteiligten dort wirksam geschlossen wurden? Das deutsche Recht unterscheidet hier zwei Fallgruppen: Die erste Fallgruppe sind Fälle, in denen Beteiligte daraus Privilegien ableiten wollen, die nur Eheleuten zustehen. In diesen Fällen wird die polygame Ehe nicht anerkannt. Das gilt zum Beispiel für den erleichterten Ehegattennachzug ins Inland oder die Mitversicherung von Ehegatten bei der Krankenversicherung. Fälle der zweiten Fallgruppe sind solche, in denen sich Ehefrauen auf Rechte gegenüber dem Ehemann berufen: Hier hat sich die deutsche Rechtsordnung entschlossen, Frauen im Unterhalts-, Erb und Sozialrecht Schutz zu gewähren.

Schlussfolgernd ist festzuhalten, dass Kriminalitätsfurcht und Misstrauen gegen die deutsche Justiz für das gesellschaftliche Klima in hohem Maße schädlich ist. Leider erhalten Laien ihre Informationen über den Inhalt von Gerichtsurteilen fast ausnahmslos über die Massenmedien. Dort gewinnt den Wettbewerb um das Interesse der Konsumenten zumeist spektakulär aufbereitete Medienbeiträge, die beim Leser Emotionen und letztlich Rechtsunsicherheit auslösen. Rechtsicherheit benötigen aber gerade diejenigen, die in Bereichen staatlich unvereinbarer außergerichtlicher Konfliktregulierung unmittelbar bedroht sind. Darum sollten mit der gebotenen Nüchternheit offensichtlich bestehende Missverständnisse gerichtlicher wie außergerichtlicher Konfliktregulierungen ebenso aufgearbeitet werden wie bestehende Probleme. Weder kann es unser Anliegen sein, Konfliktlagen zu ignorieren, noch ist es angebracht, in den verbreiteten Alarmismus einzustimmen. 

Hatem Elliesie