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Titelthema Januar 2023

Point of no Return ist erreicht

Titelthema Januar 2023 - Point of no Return ist erreicht
Vor allem Frauen demonstrieren im Iran gegen das Regime. Sie wollen nicht weniger als eine Revolution. © Pixabay

Im Iran kämpfen am unerschrockensten die Mitglieder der Generation Z für ihre Zukunft.

22.12.2022

Von Natalie Amiri

Mohsen Shekari wurde  in den frühen Morgenstunden hingerichtet. Er wurde in einem Teheraner Gefängnis gehängt. Er war 23 Jahre alt. Shekari gehörte zu den Demonstrantinnen und Demonstranten, die seit dem Tod der iranischen Kurdin Mahsa Jina Amini am 16. September von der sogenannten Moralpolizei inhaftiert worden sind. Seine Familie wusste nichts von der Hinrichtung. Das iranische Regime hatte sie beschwichtigt, ihr gesagt, wenn man über seine Verhaftung schweige, dann würde man ihn bald freilassen.

Während die Familie in dem Glauben war, dass ihr Sohn auf Bewährung entlassen würde, richtete das Regime Shekari hin. Ein Revolutionsgericht hatte ihn am 1. November wegen„Kriegsführung gegen Gott“ zum Tode verurteilt. Ein Schauprozess ohne ordentliches Verfahren, ohne Anwalt für Shekari. Am Montag folgte Majidreza Rahnavard. Auch er wurde hingerichtet. Und bereits mehr als ein Dutzend Personen erhielten in Verbindung mit den Protesten das gleiche Urteil.

„Iran schafft die Sittenpolizei ab.“ Diese Schlagzeile kursierte im Dezember in den westlichen Medien. Iranerinnen im In- und Ausland sahen in dieser Aussage vom Generalstaatsanwalt Mohammed Jafar Montazeri von Beginn an ein Ablenkungsmanöver, einen Versuch der Beschwichtigung des Regimes. Sie sind seit Jahrzehnten mit dieser Taktik der Beschwichtigung konfrontiert und wissen, dass sie davon nichts erwarten können.

Zudem sagte Montazeri, dass die Sittenpolizei nichts mit der Justiz zu tun habe und die Verstösse gegen die Sittengesetze weiterhin verfolgt und bestraft würden. Also bleibt alles beim Alten. Keine Reform, keine Erleichterung.

 Cyper-Armee von 80.000 Mann

Die Protestierenden, die jetzt schon drei Monate auf der Strasse gegen das Regime protestieren, schrecken die Hinrichtungen nicht ab. „Haben Sie genug Galgen?“, fragt der Menschenrechtsaktivist Hossein Ronaghi auf Twitter am Tag, als Shekari gehängt wird. Noch am Abend nach seinem Tod kommen Hunderte in dem Viertel Sattarkhan in Teheran auf die Strasse und rufen: „Tod dem Diktator!“ In Sattarkhan hat Shekari gewohnt.

Auf den Strassen in Iran ist seit Wochen der Slogan zu hören: „Tötet ihr einen, kommen tausend nach.“ Beerdigungen sind in Iran ein Katalysator für Proteste. Schon 1979 waren die 40. Todestage ein Motor für die Revolution, die zum Sturz von Schah Reza Pahlevi führte. Und 2022 wieder. Trotz massiver Einschüchterung durch Verhaftungen (inzwischen sind es mehr als 18 200), trotz Folter und Vergewaltigungen in den Gefängnissen und obwohl schon mehr als 488 Protestierende starben, davon mehr als 66 Kinder. Trotz Tausenden Verletzten.

Das Regime hat die Macht, das Internet zu blockieren, die Machthaber sperren Social-Media-Dienste wie Whatsapp und Instagram. Die einzige Waffe, über die die Zivilbevölkerung verfügt. Durch das Verbreiten von Videos, die die brutale Niederschlagung der Proteste dokumentieren, könnten sie eine weltweite Aufmerksamkeit schaffen. Internationale Journalisten sind in Iran kaum noch vor Ort.

Während der letzten grossen Proteste 2009 war dem System noch nicht möglich, wozu es heute fähig ist. Die iranische Telekom-Behörde kann binnen kürzester Zeit den gesamten Internetverkehr nach Belieben drosseln, umleiten oder sperren. Die Zivilbevölkerung kann sich so nicht mehr über die Sozialen Netzwerke organisieren. Die Islamische Republik soll eine 80 000 Mann starke Cyber-Armee aufgebaut haben, mit der sie die Kommunikation der Menschen überprüft.

Nach neuesten Erkenntnissen setzen die Machthaber ein Programm namens SIAM ein, durch das Handy-Verbindungen gezielt manipuliert, überwacht und gekappt werden können. Auf diese Weise wird ermittelt, welche Handys sich an welchem Mobilfunkmast angemeldet haben.

Ein sanfter Putsch

Eine Bekannte aus Teheran schreibt mir: „Ob wir gewinnen werden, weiss ich nicht. Aber ich hoffe es. Auf alle Fälle ist es eine Revolution, die lange dauern wird. Das Regime ist mächtiger als wir. Sie richten Gefangene hin, sie haben vor, ein schlecht sitzendes Kopftuch zu einem offiziellen Verbrechen zu machen, damit sie Frauen verhaften und deren Bankkonten sperren können. Sie manipulieren den Westen. Ihre Stimme ist lauter als unsere. Noch.“

Das Regime, das alles zu verlieren hat, steht einer Bevölkerung gegenüber, die nichts mehr zu verlieren hat. Die Wünsche der Menschen sind die roten Linien dieses Regimes. Es gibt keine Verhandlungsmasse, die Forderung der Protestierenden sind keine Reformen, sie wollen eine Revolution. Sie wollen einen Regime-Change. Viele wünschen sich dabei, dass ihnen das Ergebnis ein säkulares Iran bringt.

Ein weiteres realistisches Szenario ist, dass die Revolutionsgarde einen sanften Putsch unternimmt, einen radikalen muss sie nicht mehr umsetzen, denn sie besitzt de facto schon fast die gesamte Macht im Land. Dazu könnte es sehr schnell kommen, nämlich wenn der 83-jährige Revolutionsführer und das geistliche Oberhaupt der Islamischen Republik Ajatollah Ali Khamenei stirbt. 

Die Revolutionsgarde, die „Sepahe-Pasdarane Enghelabe Islami“ (zu Deutsch: Armee der Wächter der Islamischen Revolution), ist in Iran die Eliteeinheit der Streitkräfte und weitaus wichtiger als die klassische Armee. Beide sind strukturell voneinander getrennt. Sie haben jeweils eine eigene Luftwaffe, eine eigene Marine, ein eigenes Heer. Das Militär steht der Bevölkerung näher. In letzter Zeit hört man gehäuft von Verhaftungen von Soldaten der klassischen Armee durch den Geheimdienst der Revolutionsgarde.

Die Garde hat seit Jahren Stück für Stück wichtige Schaltstellen der eigentlichen Macht besetzt und stellt Minister im Kabinett wie Innen-, Aussen-, Verteidigungs-, Öl- und Wirtschaftsminister, Provinzgouverneure, den Parlamentspräsidenten und die klare Mehrheit der Abgeordneten mit ihren Männern. Viele davon sind aktive oder freigestellte Garden. Die Organisation bildet schon längst einen Staat im Staat.

Diese Eliteeinheit hat inzwischen grosse Bereiche der konventionellen Armee infiltriert, genauso wie die Sicherheitseinheiten, die seit Wochen gegen die Menschen auf den Strassen vorgehen. Ebenso ist der Geheimdienst der Revolutionsgarde an Verhaftungen von Journalisten und Journalistinnen, Oppositionellen und Kritikern des Regimes massgeblich beteiligt.

Neuer ziviler Ungehorsam

Diese jüngste revolutionäre Bewegung in Iran ist die schwerste Bedrohung für die Islamische Republik seit der Gründung 1979. In Iran gibt es seit Jahrzehnten immer wieder Proteste. Doch noch nie gab es so viel Missmut und Wut. Laut einer Umfrage („Life satisfaction in Iran; A national representative study“) haben 2018 93 Prozent angegeben, dass die Islamische Republik nichts tue, um die grosse Chancenungleichheit zu vermindern. 2006 nur 44 Prozent. Laut der Umfrage wünschen sich 92 Prozent der Iraner die Demokratie.

Eine Demokratie wird es innerhalb dieses Systems nicht geben. Die politische Struktur ist zu starr, als dass sie reformiert werden könnte. Das hat die Bevölkerung erkannt.

Das Regime hat noch immer gewaltbereite Anhänger. Sie fürchten um ihr eigenes Überleben, weil sie Teil der Machtelite sind und wissen, dass sie, wenn das Regime gestürzt wird, alle zur Verantwortung gezogen werden. Die Protestierenden haben keine Angst mehr. Ein Symbol dafür ist die neue Volkssportart unter jungen Iranerinnen. Sie rennen auf Mullahs los, lüften ihre Turbane und rennen weg. Das hätte es noch vor ein paar Monaten nicht gegeben. Dieser zivile Ungehorsam, der seit Wochen auf Irans Strassen zu beobachten ist, macht den Machthabern Angst.

Das bestätigt auch der Inhalt eines Leaks, der viral ging. Die iranische Hackergruppe Black Reward hatte es geschafft, in die Datenbank der staatlichen Nachrichtenagentur„Fars News“ einzudringen, und veröffentlichte daraufhin eine 131-minütige Audioaufnahme. Zu hören: Gespräche zwischen ranghohen Revolutionsgardisten, die besprechen, wie sie mit den Protesten, die nicht abebben wollen, umgehen sollen.

Ein Point of no Return sei erreicht, höre ich aus Teheran, Shiraz, Isfahan. Eine Rückkehr zum früheren Status quo ist nicht möglich. Wie viele aber bereit sind, unter Einsatz ihres Lebens gegen das Regime vorzugehen, ist schwer einzuschätzen. Ein Post auf Twitter von 2019, den ich nicht vergessen kann, lautete: «Lasst uns nur einen Tag auf die Strasse kommen, ohne auf uns zu schiessen, und dann können wir zeigen, wie viele wir wirklich sind.»

Diejenigen, die im Moment am unerschrockensten kämpfen, sind die Mitglieder der Generation Z. Das Durchschnittsalter der Protestierenden liegt laut Regime bei 15 bis 16 Jahren. Diese jungen Menschen sind drei Generationen entfernt von der Gründung der Islamischen Republik. Sie verstehen weder deren Ideologie, noch identifizieren sie sich mit ihr. Sie sehen via Instagram und Youtube, dass junge Menschen ausserhalb der iranischen Grenzen ein freies, selbstbestimmtes Leben führen, das sie sich selbst wünschen. Jetzt holt sich diese Generation ihre Zukunft zurück. Um jeden Preis.

Dieser Artikel erschien zuerst in der NZZ.


Zwischen Perserteppichen und Bio-Gemüse wuchs Natalie Amiri, 1978 geboren, im gutbürgerlichen München auf. Die Tochter einer Deutschen und eines Iraners studierte Diplom-Orientalistik und Islamwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg. Ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) führte sie an die Universitäten von Teheran und Damaskus. Seit 2011 vertritt sie die Korrespondenten in den ARD-Studios des BR, unter anderem in Istanbul, Athen und Rom. Seit 2014 moderiert sie den „ARD-Weltspiegel" aus München sowie das BR-Europa-Magazin "Euroblick". Ab 2015 leitete Natalie Amiri das ARD-Büro in Teheran. Im Mai 2020 wurde sie vom Auswärtigen Amt gewarnt, aus Sicherheitsgründen nicht mehr in den Iran einzureisen und musste daher die Leitung des Teheraner Fernsehstudios abgeben.  Sie wurde im Mai 2022 vom "medium magazin" zur Journalistin des Jahres gekürt (Platz 1 in der Kategorie "Politik").

Beim Aufbau-Verlag erschien zuletzt „Zwischen den Welten – Von Macht und Ohnmacht im Iran“.